(...) Irgendwo muß der ganze Frust ja hin, denn sooo erfüllend ist das materiell ausgerichtete Leben offenbar wohl doch nicht.
Ist es auch nicht. Das "spirituelle Leben" in einer (Kirchen-)Gemeinde ist aber auch nicht wirklich erfüllend und bescheiden-spirituell, wie Du es hier darstellen willst.
Ich hatte jetzt kürzlich ein intensives tiefes Gespräch mit meiner Mutter, in dem sie mir auch nochmal detailiert ihren Glaubensweg beschrieben hat. Aufgewachsen als Pastorentochter, zunächst tief-religiös und streng-diszipliniert verlor sie ihren Glauben im Studium zur Musik- und Religionslehrerin. Dann lernte sie meinen Vater kennen, und die beiden traten einer Freikirche/Sekte bei. Viel später- um 1995 rum - trat meine Mutter da wieder aus, was für meinen Vater schwierig war, was er aber tolerierte (Ebenso beäugte er auch meinen Atheismzs, der da immer wieder mal durchschien, unglücklich, aber er akzeptierte es). Sie hat dann wieder in der Kirchengemeinde ihrer Stadt sich engagiert, den Kirchenchor geleitet, Seniorenreisen organisiert etc. Das volle Programm machte sie bis vor etwa 10 Jahren, wo sie die Leitung des Kirchenchores abgab. Dieses Jahr ist sie 90 geworden, und sitzt noch sporadisch vertretungsweise an der Orgel, falls die Haupt-Organistin verhindert ist, oder spielt in Gottesdiensten Geige... eine Aktivität, die ich in dem Alter bewundere. Aber sie sagte mir in diesem Gespräch selbst, dass sie den Glauben eigentlich schon lange wieder verloren hat und es mehr aus Liebe zur und Spaß an der Musik als aus Religiosität noch macht. Im Gegenteil findet sie einige Aspekte des kirchlichen Glaubens und des Gemeindelebens mittlerweile wieder sehr abschreckend. Zum Beispiel, wenn Gemeindemitglieder misstrauisch beäugt werden für Dinge, die andere eigentlich nichts angehen.
In dieser Gemeinde zeichnete sich ein Ehedrama ab, über das sich viele den Mund fusselig lästerten. Meine Mutter schüttelt da nur den Kopf ubd meint: "Was interessiert mich die Treue oder Untreue dieser Frau? Warum sollte ich darüber urteilen?" Und die (pseudo-)moralische Strenge in Kirchengemeinden war früher noch stärker. Da hat sie auch wieder so einiges erzählt, was sie noch als der Dorf-Kirchengemeinde ihres Vaters in Erinnerung hatte, und worüber sie sich damals als Jugendliche bzw. Junge Frau dann mit an der Lästerei beteiligt hat.
Den Frust ablassen etc. Was Du hier dem Materialismus und sozialen Plattformen zuschreibst, ist kein neues Phänomen. Und Kirche bzw. Kirchengemeinden sind nicht nur ein bescheidenes spirituelles Miteinander, sondern ach voll gefüllt mit dem gleichen Frust und Gruppendynamiken, die jetzt auf den sozialen Medien noch lauter hervortreten.
Früher wurden homosexuelle Menschen ausgegrenzt und mit metaphorischen Mistgabeln durchs Dorf getrieben. Für eine Tante von mir war es auch ein großer Schock, als einer ihrer Söhne sich als homosexuell outet (übrigens der Cousin von mir, der an Covid19 gestorben ist).
Ein Bruder meiner Mutter wurde auch Pastor, und musste auch einiges an Shitstorm ertragen und schlussendluch die Gemeinde wechseln als seine Frau sich von ihm wieder scheiden ließ (um 1985 herum war das).
Kirchengemeinden etc. sind keine friedlich-spirituellen Gruppen, in der die Menschen sich freundlich-sprirtuell begegnen, sondern ebenso metaphorisch Haifischbecken, in der die Mitglieder sich misstrauisch über mögliche Verfehlungen beäugen und genüsslich darüber tratschen, wenn irgendwo "Sünde" gemutmaßt wird.