Lieber Reinard, deine beiden Fragen haben mich den ganzen Tag über beschäftigt
Die Antwort liegt dort: Was würde jemand irgendwann anschauen müssen, wenn er zu sehen beginnt. Wo würde der Blick schlussendlich landen ? Was ist das Unerträgliche, dem man ausweicht ?
Bei sich selbst. Das eigene Leben mit allem was darin geschehen ist.
Zb. Schuldgefühle Scham Hilflosigkeit Angst
..
Wirklich hin zu schauen und es nicht weich zureden verharmlosen oder abstreiten
den Blick nicht abzuwenden und das Geschehene auszuhalten zu ertragen
Sich selbst einzugestehen dass man Fehler gemacht hat
Sich selbst einzugestehen es doch nicht besser gemacht zu haben als die eigene Mutter obwohl
man es sich doch soooo sehr vorgenommen hatte
Angst vor der Verurteilung durch das eigene Kind. Wird es mich überhaupt anhören? Kann oder will es meine Erklärungen für mein Verhalten verstehen?
Kann ich es als Mutter aushalten wenn mein Kind mir sagt-- ich kann und will dein Verhalten nicht verstehen geschweige denn dir verzeihen -- und sich von mir abwendet
Das Wissen nichts aber auch gar nichts ungeschehen oder rückgängig machen zu können
Die Gefühle auszuhalten die dass sich selbst eingestehen was geschehen ist auslöst.
Und dann vor dem eigenen Kind all dass was man sich selbst eingestanden hat auszusprechen
Und abzuwarten was passiert
Wie geht es aus ???
Versteht es - verzeiht es - bricht es den Kontakt ab - macht es mir Vorwürfe liebt es mich trotzdem noch
Und kann ich mir denn selbst überhaupt verzeihen?
Fange ich wirklich an mein Leben zu betrachten und gestehe ich mir wirklich ein dass ich in der Erziehung meines Kindes Fehler gemacht habe komme ich an einen Punkt an dem ich vor der Herausforderung stehe meiner Mutter zu zugestehen auch Fehler gemacht zu haben. Dass sie auch einmal an dem Punkt stand es besser als ihre Mutter machen zu wollen dass es ihr ebenso erging wie mir mit dem es besser machen zu wollen
Und spätestens an dem Punkt es mir nicht nur anzusehen sondern mal für einen Moment zu fühlen zu erahnen wie ist es denn meiner Mutter ergangen hat sie sich ebenso unbehaglich gefühlt hat sie die selben Ängste durch gestanden -
Und dann
Schaffe ich es meiner Mutter zu zuhören ohne bereits mit einem Urteil da zu sitzen schaffe ich es nachzufragen habe ich den Mut ihr der Mutter als ihr inzwischen erwachsenes Kind zu sagen wie verletzt und wütend ihr Kind von damals heute noch ist
Traue ich meiner Mutter zu es auszuhalten es zu ertragen es heute ggf. mit zutragen
Und für den Fall dass die Mutter dicht macht halte ich es aus ihr dichtmachen
es zu respektieren zu achten
Und kann ich mich dann fragen wieso macht sie dicht ?
Weil sie es vielleicht gar nicht aushalten kann weil sie keine Möglichkeit hat dass was da tief in ihr ist anzusehen weil sie nicht sieht dass es Menschen gibt die sie auffangen die ihr zur Seite stehen - vielleicht sieht sie die Menschen die ihr helfen würden nicht oder hat tatsächlich keine Menschen denen sie sich anvertrauen kann
Ich habe auch lange Zeit gedacht wir müssten doch über alles reden können nein konnten/können wir nicht
Und gerade durch den MB Thread ist es mir klar geworden wieso
Ich habe mich gefragt wieso werden in dem MB Thread plötzlich Äußerungen über das dritte Reich gemacht
habe mich einfach gefragt wieso ? was hat das miteinander zu tun?
Und auf einmal setzte es sich wie ein Puzzlespiel zusammen
Sie haben es nicht gelernt hin zu sehen sie haben gelernt weg zu schauen
Sie haben es nicht gelernt zu reden sie haben gelernt zu schweigen
Sie haben gelernt zu verleugnen und zu verdrängen und nicht zu dem zu stehen was ist /war
Wir ihre Kinder können ihnen zeigen wie es geht hin zu sehen und sprechen zu lernen.
soweit erstmal dazu.
Was dass in die Vergangenheit gehen anbelangt wenn die Vergangenheit derart das Jetzt überschattet mitbestimmt ist es aus meiner Erfahrung gesund dort hinzu sehen und zu schauen was da ist/was da war.
um es nur an einem Beispiel zu beschreiben was ich meine über 20 Jahre habe ich alles was an Filmen und Dokumentationen über das dritte Reich kam angesehen es war mir oft unheimlich weil ich auch nicht rausgekriegt habe woher kommt dieser Zwang es immer und immer wieder anzusehen
In diesem Frühjahr habe endlich eine Antwort darauf bekommen
In einer Dokumentation über Kriegskinder schilderte ua. ein Mann seine Erlebnisse ich sitze vor dem Fernseher und auf einmal als hätte mich der Schlag getroffen
Der Mann war so alt wie mein eigener Vater er hat sogar in derselben Stadt gelebt wie mein Vater
Da erst wurde mir bewusst was mein Vater in der Kriegs und Nachkriegszeit durchgemacht hat mit Worten kann ich es nicht wiedergeben was da an Mitgefühl und Trauer in mir hochkam-
Und meine Mutter sie ist/war Flüchtlingskind
Ich habe angefangen Fragen zu stellen schmerzhafte Fragen für alle Beteiligten ich will endlich verstehen wenigstens einigermaßen nachvoll ziehen können wie passieren konnte was passiert ist
letzten Monat habe ich es das erste Mal in meinem Leben wirklich gefühlt--
gefühlt dass meine Eltern mich lieben - mich immer geliebt haben - dazu musste ich mehr als einmal durch die Hölle und 43 Jahre alt werden
wie oft habe ich mich gegrämt dass ich nicht früher die Chance bekommen habe - heute weiß ich dass ich gar nicht die Kraft gehabt hätte mir das alles anzusehen
Ein Satz von >Louise L. Hay denn ich früher nie ertragen geschweige denn verstanden habe
Wir sind alle Opfer von Opfern
Wie wahr
Liebe abendsonne danke für den Platz in deinem Thread und ich lese weiter und wünsche dir immer soviel Kraft wie du brauchst um deinen nächsten Schritt zu gehen ich schreibe dir noch jetzt brauch ich aber eine Verschnaufpause
Liebe Grüsse
Michi
PS:
Für alle die meinen Eltern braucht man nicht zu vergeben oder es sei nur schöngeredet braucht ihr mir nicht schreiben
Habe im realen Leben( von Angesicht zu Angesicht) gerade damit zu Kämpfen dass sich Menschen von mir abwenden und mit mir nichts mehr zu tun haben wollen
WEIL ich meinen Eltern vergeben habe
Und noch ein PS:
Daisy liebe Grüsse an dich und danke für alles
Und last but not least
Meinen aufrichtigen Dank an alle die im MB Thread geschrieben haben und sich derart für die Opfer eingesetzt haben
Ihr habt mir sehr geholfen
Danke