Hi Abendsonne,
Abendsonne schrieb:
ja, und wegen der trauer, die du vermisst im thread und die du selber empfindet, dazu hätte ich eine frage: trauerst du um DIESE eltern oder darum, dass du generell nie welche gehabt hast?´
Zunächst, über Jahre hinweg, trauert man um sich selbst.
Nee, noch anders: Am Anfang, über Jahre hinweg, trauert man gar nicht.
Man hat das Gefühl, es ist einem ein ungeheurer Mist passiert, passiert einem weiterhin auch noch. Man kann das aber nicht einordnen, weil man durch soviele "Elterngebote", die man übernommen hat, am Anschauen dessen was tatsächlich ist, gehindert wird. Z.B. Thema Schuld
Untendrunter steckt eine ungeheure Wut, die man sich aber nicht zu leben und gegenüber den Eltern auszusprechen traut, weil man noch immer die Schere im Kopf hat, man müsse sich " gut" ihnen gegenüber benehmen.
Man rennt zu Eltern-Feierlichkeiten hin, die deshalb eine reine Qual für einen darstellen, weil man sich selber auf diesen Festen innerlich so verbiegt. Und man tut es dennoch, weil man glaubt, man "müsse" das tun.
Man glaubt, durch "Durchhalten" würde einem schon gelingen, sich irgendwann seiner Eltern zu entledigen.
So. Bei den einen Erwachsenwerdenden siegt dann die Wut, die zu einer tatsächlichen Trennung mit den Eltern führt.
Nur indem man diese Eltern nicht mehr um sich hat, sagt ein Teil des Bewusstseins, könnte es gelingen, selbst frei von ihnen zu werden.
Endlich ein eigenes Leben, ohne das ständig parate "Elternüberich" mit sich zu führen.
Dann gibt es andere, die stellen fest, dass ihre Wut nur ein Aspekt eines tieferen Gefühls ist. Es ist die Wut über die niemals erhaltene Elternliebe.
Sie waren doch so klein und arglos, als sie Kinder waren, so sehr auf das liebevoll Angenommenwerden angewiesen! Statt desen wurden sie verachtet und geschlagen!
Und dann kommt Trauer auf. Es ist die Trauer, so unendlich verlassen worden zu sein!
Kleinkindgefühle kommen wieder hoch.
Wie man sich zum Muttertag mit sieben Jahren im Morgengrauen aus dem Bett stahl, um der Mama einen Strauss Wiesenblumen zu pflücken. Einfach, um ihre Liebe zu bekommen. Man hat alles richtig gemacht, es ist Muttertag, da gibt man Blumen! - Blöd nur, man kommt als Kleines zurück zur Haustür, und die ist ins Schloß gefallen. Nun steht man draussen mit seinen Blümchen, die doch eine Überraschung auf dem Frühstückstisch sein sollten. Und man muss klingeln. Die Eltern um sechs aus dem Bett holen - und dafür kassiert man eine heftige Ohrfeige!
Die Wiesenblumen fallen zu Boden, man selbst hat es soooooo gut gemeint, auf einmal ist man der schlechteste Mensch der Welt!
Dergleichen nährt die spätere hilflose Wut.
Zunächst. Die Eltern sind bös, wie konnten sie das nur machen!
Da ist der Blick auf die Eltern gerichtet.
Aber wenn es gut ist, schaut man auch nach sich selbst.
Plötzlich beginnt man, sich selbst, in sich selbst, das hilflose kleine Kind zu sehen in seiner Ausweglosigkeit. Auf einmal empfinden wir tiefes Mitleid mit diesem Kind, was wir ja einmal selber waren.
Auf einmal spüren wir wieder, wie es sich anfühlte, morgens um sechs mit den Blümchen vor der geschlossenen Tür zu stehen.
Wir erleben unsere früheren Gefühle wieder - und müssen ungeheuer weinen.
Das ist kein Selbstmitleid. Das Trauern eröffnet eine zutiefst innere, liebevolle Begegnung mit der eigenen Kindheit.
Immer mehr erlebte Kindheitstraumen schieben sich ins Bewusstsein.
Und indem die betroffenen Menschen mitfühlend über das damalige Kind weinen - was es selbst ja damals nicht durfte, was ihm verstellt war, denn es sollte ja nicht seine eigenen Gefühle spüren - nähern sie sich ihm wieder an.
Diesem Kind, was vom Gebahren der Eltern her nie eine Chance auf gerechten, emphatischen Umgang hatte, was von ihnen nie wahrgenommen wurde, es wird auf einmal über die echte innere Trauer, von einem selbst angenommen.
Das kleine, verlassene, innere Kind, was mit 20/30/40/50 noch in einem steckt, in seiner tiefen Enttäuschung, in seinem Glauben, nichts wert zu sein. Man selbst nimmt es an!
Man spürt die eigenen Kinddheitsgefühle wieder, diesmal aber nicht aus der Perspektive der Wut gegen einen anderen, sondern aus tiefen Mitleid mit dem damaligen kleinen Ich.
Die Tränen der Trauer fließen. - Um das missverstandene Ich-Kind. Um sich selbst.
Eine Psychotherapie ist da begleitend sehr hilfreich.
Und mit dem Annehmen der Gefühle des kleinen Ich-Kindes, wächst es.
Was die Eltern nie für uns taten, wir können es selber tun.
Ich weiß noch, wie ich mit Anfang 40 - nach einer gescheiterten Ehe und mit halberwachsenen Kids - abends im Bett lag und dieses hilfsbedürftige Kind in mir spürte. Ein Teil meines Ich's.
Dann nimmt man dieses Kind in sich, selbst gedanklich in den Arm und tröstet es. "Ach, liebe, kleine Geli, brauchst keine Angst zu haben! Ich kümmer' mich schon um dich! Ruh dich hier an meiner Schulter aus. So eingekuschelt kannst du schlafen!"
- Und das Kind wächst!
Und irgendwann ist das innere Kind groß und erwachsen und kann die alte, zänkische, schuldbesessene Mutter, die überhaupt nixens von inneren Kindern weiß, an seiner Schulter bergen und sagen: "Sorge dich nicht. Du bist geborgen, Mutter!"
Morgen wird meine Mutter 86. Ich habe sie heute zu mir geholt. Sie schläft jetzt auf der Couch im Paul-Kinder-Zimmer.
Morgen machen wir eine Sause in die Dortmunder Innenstadt, damit sich Mama mal ein Sommerkleid kaufen kann. Und zwar mit Rollstuhl, den sie bisher immer meiden wollte. Aber das habe ich mir erbeten, denn laufen kann sie nicht mehr.
Ich freue mich darauf, der morgige Tag ist mein Geburtstagsgeschenk an sie.
Liebe Grüße,
Geli
