Im Laufe der Threads kommt oft die Phase, wo die Darlegung unterschiedlicher Standpunkte in die Verteidigung von Bastionen mündet. Das verstehe ich einerseits dort, wo es Menschen um lieb gewordene Sicherheiten geht, die sie nicht in Frage gestellt wissen wollen. Das bedauere ich andererseits, weil Standpunkte per definitionem Denkbewegungen behindern. Und es wird in meinen Augen ziemlich ungut dort, wo fast nur noch der Austausch von Feindseligkeiten übrigbleibt, so sehr ich engagierte Diskurse genießen kann.
Ich versuche mal, wieder mal ein bisserl substanzielles Land unter die Füße zu bekommen in diesen an sich ja wichtigen Fragen der Astrologie. Da bin ich zum Beispiel Polarfuchs sehr dankbar für die Darstellung der klinischen Praxis bei Geburtszeitangaben. Man neigt ja dazu, etwas für exakt zu halten, wenn es exakt präsentiert wird
der wird sich schon was gedacht haben, wenn er es so genau hinschreibt. In der Praxis ist die Ungenauigkeit der Geburtszeit durchaus ein Faktor, mit dem man rechnen muss.
Astrologisch sehe ich dazu zwei Antwort-Bereiche: Der eine ist, dass die Geburtszeit praktisch kaum relevant ist für die astrologischen Muster, die sich aus den Zeichenstellungen und Winkelbeziehungen der Gestirne ergeben (Aspekte etc.). Und damit ist schon einmal reichlich verlässliches Material gegeben, das für die Deutung dieser Muster herangezogen werden kann.
Der zweite ist das Häuser-System, mit dem Aszendenten beginnend. Das ist nun wirklich sehr zeit- und ortsabhängig. (Exkurs, weil da auch die Genauigkeit der Orte angegeben wurde
praktisch jedes halbwegs aktuelle Astroprogramm hat eine mehr als ausreichend genaue Ortsdatenbank hinterlegt, und wo das nicht gegeben ist, werden eh die möglichst genauen Längen- und Breitengrade verwendet in der Berechnung, die sind besser definiert als die GZ. Allerdings hapert es dann oft bei den Angaben zum Beginn der Sommerzeit und wann diese gegolten hat
kann im Einzelfall dann ziemlich relevant werden. Exkurs Ende.). Die Häusersysteme sind ein offensichtlicher Schwachpunkt in der Astrologie, nicht nur wegen ihrer sensitiven Abhängigkeit von der Zeit, sondern auch wegen ihrer geografischen Besonderheiten, wenn es zum Beispiel um Horoskope handelt, deren Orte sich den Polargebieten annähern. Ich meine, da wäre noch Verdienstvolles zu leisten in der Entwicklung astrologischer Systematik.
Andererseits ist gerade diese Zeitabhängigkeit der Häuser bzw. Achsen eine der Stärken von Astrologie
die Achsen dienen ja auch als Zeiger für Auslösungen von Mustern, und da sind sie in der Regel frappierend genau, wenn man's metagnostisch betrachtet. Genau das ist dann auch das Potenzial für die Geburtszeitkorrektur: Auf dieser Basis kann ich mir markante Ereignisse in der Chronik des astrologischen Fokus' anschauen, und wenn ich das bei mehreren solcher Ereignisse tue, dann kann ich mit der GZ herumspielen und schauen, ob ich in Summe bei entsprechender Anpassung der GZ zu plausibleren Ergebnissen komme
sprich: bei welcher angenommenen GZ stimmen die beigezogenen Auslösungen im Mittel am ehesten. Das ist dann ebenso eine Näherung wie die notierte GZ aus dem Kreißsaal.
Ich akzeptiere da Kritik mit astrologischen Argumenten, aber den Umstand, dass eine GZ-Korrektur vorgenommen wird, als Argument gegen Astrologie zu verwenden, halte ich für witzig angesichts der Umstände, wie sie Polarfuchs geschildert hat. Das hat nichts mit Zurechtbiegen von Horoskopen zu tun, sondern es handelt sich um eine system-immanente Methode, um zu besseren Ergebnisse zu kommen. Die Mittelung von Messergebnissen ist ja auch in empirischen Naturwissenschaften kein Unding, soweit ich weiß.
So viel zum ganz Konkreten. Etwas weiter ausgeholt taucht für mich wieder einmal die Frage nach dem Rahmen solcher Auseinandersetzungen auf. Was führt zu solchen Verhärtungen, wie ich sie wahrzunehmen meine? Freilich bin ich, sind wir wohl alle zunächst einmal bemüht, unsere Sicht der Dinge nicht nur darzulegen, sondern auch zu verteidigen, wenn sie angegriffen wird. Ich kann versuchen, meine Argumente genauer darzulegen, meine Erfahrungen nachvollziehbarer zu schildern. Und ich kann (und sollte auch, meine ich) zumindest selber wissen, auf welcher Grundlage ich diskutiere. Der hochtrabende Begriff dafür wäre erkenntnistheoretische Basis.
Selber bewege ich mich immer lieber auf dem Boden des Konstruktivismus, wie ihn Maturana, Foerster, Glasersfeld & Co. nicht erfunden, aber plausibel (viabel würde Glasersfeld sagen) beschrieben haben: Das ist die Annahme, dass jedwede Wahrnehmung über unsere Sinnesorgane erfolgt und in unserem Gehirn zu einer Erkenntnis verarbeitet wird, also streng genommen völlig subjektiv ist. Wir wissen über das da draußen, über das, was Wirklichkeit genannt wird, nur das, was uns unser Gehirn dazu produziert bzw. konstruiert.
Das steht im Gegensatz zu der Anschauung, es wäre möglich, das da draußen objektiv zu erkennen, also der wahrgenommenen Wirklichkeit das Prädikat der Wahrheit zu verleihen.
Wenn die Anhänger von Wirklichkeits-Konstrukten mit den Besitzern von Wahrheiten diskutieren, kracht's in der Regel im Gebälk. Schließlich stellt da die eine erkenntnistheoretische Position die andere ganz grundsätzlich in Frage (wobei der Konstruktivismus selbstverständlich auch sich selbst als Konstrukt versteht und nicht als Wahrheit).
Innerhalb von konstruktivistischen Positionen und Theorien ist die Diskussion relativ fruchtbar zu führen, weil es da weniger um die Wahrheit geht, sondern eher um die Plausibilität und Nützlichkeit von Konstrukten und um deren Viabilität. Da kann dann das Vorliegen unterschiedlicher Konstrukte durchaus auch als Bereicherung und Erweiterung der Horizonte bewertet werden. Wenn es um das Erringen von Wahrheit geht, liegen rechthaberische Positionen schon eher am Wege, es sei denn, jemand ist der asiatischen Meinung, es könne ja auch mehrere Wahrheiten geben. Für in der Wolle gefärbte Anhänger europäischer aristotelischer Logik gilt: Es kann nur eine Wahrheit geben. Ich habe recht, du nicht. Oder umgekehrt.
Ich meine, diesen Kampf haben wir hier die Adepten von Wahrheit vs. die Vertreter von Konstrukten. Und nicht nur hier
die Auseinandersetzung zieht sich ja sogar quer durch die Wissenschaften, und da vor allem auch die Naturwissenschaften.
Spannend finde ich auch wir sind ja im Esoterik-Forum dass einer der Mitbegründer des Konstruktivismus, Franzisco Varela, der mit Maturana gearbeitet hat, später bestritten hat, es sei prinzipiell unmöglich, außersubjektiv Seiendes zu erkennen. Nicht mittels der Sinnesorgane sei das möglich, wohl aber über die Meditation. Und er hat allen Ernstes postuliert, dass sich Wissenschaftler in Meditation schulen und üben sollten
man kann sich das Echo vorstellen, das er damit gefunden hat.