Man kann kaum wegschauen, wenn
Xavier Naidoo weint. Tränenspuren führen von seinen geschwollenen Augen die Wangen hinab. Er zieht den Schleim in der Nase hoch, ringt nach Worten. Und dann verrät Naidoo endlich, was ihn offenkundig so sehr bewegt: Angeblich würden gerade Kinder aus den Händen verbrecherischer Netzwerke befreit. Dahinter steckt ein
Verschwörungsmythos, der Menschen seit Jahrhunderten in die Irre führt.
Das Selfie-Video des Sängers ist nur eines von mehreren, die seit März kursieren, zunächst auf
Telegram und inzwischen auch auf YouTube. Naidoo spricht darin über den Mythos einer geheimen Gruppe, die angeblich Kinder foltern würde, um ein wertvolles Stoffwechselprodukt aus ihren Körpern zu gewinnen. Das klingt wie der Plot eines B-Movies. Aber es ist ein Mythos, der so ähnlich seit dem Mittelalter kursiert. Nichts daran ist wahr. Wenn man es genau nimmt, kann man es nicht einmal als "Theorie" bezeichnen.
Schon
im Jahr 1235 wurden in Fulda Juden beschuldigt, christliche Kinder getötet zu haben, um ihr Blut zu trinken. Bis heute sind ritualisierte Kindermorde ein Klassiker unter den
Verschwörungsmythen. Je nach Mythos gehören dazu auch versteckte Tunnelsysteme und satanistische Folterrituale. Mal sind die vermeintlichen Täter Juden, mal eine nicht näher definierte, geheime Elite. Das Stoffwechselprodukt aus Naidoos Erzählung lässt sich übrigens
easy im Labor herstellen. Niemand muss dafür Kinder quälen.
Trotzdem ist der Fall Naidoo nicht einfach die Geschichte eines vereinzelten Promis, der den
Bezug zur Realität verloren hat. Hinter Verschwörungserzählungen über gefolterte Kinder stecken gefährliche Weltanschauungen, die Menschen Angst machen und zu Gewalt treiben können. Auch der mutmaßliche Attentäter von Hanau sprach in einem seiner Videos
von Kindern, die im Geheimen getötet würden. Der Fall Naidoo macht sichtbar: Verschwörungsglauben ist ein unterschätztes Problem, das weit über die Fantasien eines Sängers hinausgeht.
QAnon und der Sturz ins Kaninchenloch
Der Mythos der vermeintlich gefolterten Kinder ist nur einer von vielen, die Xavier Naidoo verbreitet. 2014 sagte er
als Redner einer Reichsbürger-Kundgebung, dass über die Terroranschläge vom 11. September nicht die Wahrheit gesagt werde. In seinen neuen Selfie-Videos zieht Naidoo nun eine Verbindung zwischen "Fridays For Future" und dem Teufel – und er legt nahe, dass SPD und Linke eigentlich getarnte Faschisten seien. Vieles ist auf den ersten Blick schwer von Satire zu unterscheiden. Doch im Netz stößt man schnell auf Verschwörungs-Communitys, die solche Mythen beharrlich weiterspinnen.
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