Mythos Erleuchtung
Fortsetzung
Wir erleben eine vollkommene Reinheit unserer Seele gleichsam als einen von unserem Bewusstsein gebildeten Raum. Wir sind selbst diese raumdurchdringende Seele in ihrer Reinheit. Es ist ein engelhafter Zustand, der jedoch von Mangel an Willensimpulsen und Ich-Qualität gekennzeichnet ist. Unsere Seele befindet sich in ihrem ursprünglichen Zustand, leer von aller Begrifflichkeit, wodurch eine polare Spannung zwischen Bewusst-Sein und Leere, zwischen Sein und Nicht-Sein entsteht.
An diesem Punkt entsteht für die Erkenntnisfähigkeit des Menschen eine fast unlösbare Aufgabe. Einerseits haben wir den Bewusstseinsraum, der wir selbst sind und zugleich ein Ich, welches sich dazu in ein Verhältnis zu setzen beginnt, indem es sich auf seine Person, die es in der Zeit war, besinnt.
In diesem Zustand der Zeitlosigkeit ist uns also durch das Ich die Fähigkeit des sich Erinnerns geblieben. Was das Verständnis des Ichs in diesem Zustand so erschwert ist der Umstand, dass das Bewusstsein selbst ein Wahrnehmungsorgan ist und nicht mit dem Ich des Menschen gleichgesetzt werden kann. Wir können das Bewusstsein als leeren, zeitlosen, reinen, ursprünglichen, grenzenlosen Raum beschreiben. Doch für das Ich können wir nichts Entsprechendes finden, außer es als einen dimensionslosen Punkt eines sich in jedem Augenblick aufs Neue vollziehenden Schöpfungsaktes bezeichnen.
Nur durch die Leere, durch das Nicht-Sein des Bewusstseins in Bezug zum Gewordenem, sowohl auf der sinnlichen als auch auf der geistigen Ebene, ist uns die Möglichkeit des Erkennens gegeben. Diese seelisch-geistige Gesetzmäßigkeit können wir durchaus auch mit unserem gewöhnlichen Denken verstehen. Wenn wir etwas erkennen wollen, müssen wir einen inneren Hintergrund oder Bezugspunkt haben der nicht ist. Wasser z.B. erkennen wir durch nicht Wasser, Baum durch nicht Baum, Form durch Nicht Form (Raum). Wir könnten Wasser nicht erkennen, wenn alles Wasser wäre. Somit ist die Existenz des Ungewordenen eine Voraussetzung, um das Gewordene im Allgemeinem zu erkennen. Und dieses Ungewordene, das wir im Vergleich zu dem Gewordenen als leer bezeichnen, hat die Fähigkeit, sich seiner Selbst bewusst zu werden, doch vermag es uns nicht unmittelbar zum Sein unseres Ich zu führen, da das Ich kein zu realisierendes Ziel, sondern immerwährende Quelle ist. Die Versuchung, diese erste Ebene der Erleuchtung als das letzte Ziel zu verstehen, ist groß, da wir uns darin zum ersten Mal als ein kosmisches Selbst erfahren.
Fast alle heutigen Beschreibungen der Erleuchtung beziehen sich auf diese erste kosmische Seelen- oder Astralebene, was sich in den gewählten Charakterisierungen reines Bewusstsein, Zeuge, absolutes Subjekt oder ichlose Leere ausdrückt. Von dem vom Körper losgelösten und auf der kosmischen Ebene neu erwachten Ich, welches sich in ein Verhältnis zu dieser Bewusstseinssphäre setzt, ist jedoch nicht die Rede.
Obwohl üblicherweise die Erfahrung der Erleuchtung derart verstanden wird, als sei sie jenseits der Polarität und die Grundlage der Überwindung aller Gegensätze, können wir in Bezug zu der ersten Erleuchtungserfahrung unterschiedliche Interpretationen innerhalb der Religionen feststellen.
Der Buddhismus wählte in seiner Geschichte verstärkt den Aspekt des Nicht-Seins, der Leere, des unpersönlichen Gottes, obwohl der Buddha selbst den mittleren Weg betonte, indem das Göttliche weder persönlich noch unpersönlich sei. Das Christentum stellte in seiner Lehre die Form des Seins, des Persönlichen in den Vordergrund. Die Entscheidung beruht nicht auf Wahrheit oder Missverständnis, sondern auf den verschiedenen Aufgaben der östlichen und westlichen Hemisphäre, die sich gegenseitig in der Evolution des menschlichen Bewusstseins bedingen. Somit kann diese Entscheidung, die jeder für sich an diesem Punkt fällt, nicht mit der Vorstellung von Wahrheit oder Unwahrheit beurteilt werden, da sie Ausdruck der Grundpolarität des reinen Bewusstseins, des Seins und Nicht-Seins oder der Leere und Form sind.
Mit dem Begriff der Erleuchtung wird im allgemeinem die letzte Wahrheit verbunden. Unser gewöhnliches Verständnis von Wahrheit hat jedoch meist etwas Absolutes an sich, was mit der Vorstellung zusammenhängt, dass etwas entweder falsch oder richtig, unwahr oder wahr ist. So soll uns die Erleuchtung zu der eigentlichen und letzten Wahrheit bringen, so als wäre die Schöpfung ein statisches Gebilde mit klarumrissenen Grenzen, mit einem Weg und Endziel.
Als der im Westen durch sein Buch Autobiographie eines Yogi bekannt gewordene Guru Yogananda seinen Meister bedrängte, er solle ihm den Sinn der Schöpfung verraten, verwies ihn dieser auf die Ewigkeit, für diese solle er sich seine letzten Fragen bewahren.
Jede Ebene, auch die der Erleuchtung, beinhaltet einen Keim, der über sich hinaus weist, um nicht in einen inneren Raum des Stillstandes zu geraten, mag er aus unserer Sicht noch so kosmisch und erhaben sein.
Und obwohl in der östliche Weisheit im Wesentlichen der Drang zum Kosmischen vorherrscht, finden wir auch in deren alten heiligen Schriften Äußerungen die davor warnten:
In der Dunkelheit weilen sie, die die Welt verehren (d.h. sich nur um die Erkenntnis des Endlichen bemühen), in noch größerer Dunkelheit aber verweilen jene, die das Unendliche allein verehren. (Isa Upanisad)
So ist es nicht unwichtig, welche Vorstellungen wir uns vom Weg bilden. Wird diese erste Ebene der Erleuchtung nicht als ein Ziel verstanden, sondern als die Grundlage, durch die etwas Neues in uns geboren werden kann, dann eröffnen wir uns die nächste Stufe des Erfahrbaren.
Zoran Perowanowitsch
http://www.kitesh.de/Mythos Erleuchtung I.html
