Mythos "Erleuchtung"
Sich dem Begriff der Erleuchtung und der dahinter stehenden Erfahrung zu nähern, ist aus zweifacher Sicht schwierig. Der erste Grund ist ein natürlicher und besteht darin, dass hiermit eine Erfahrungsebene angesprochen wird, die jenseits unserer Begrifflichkeit liegt. Der zweite Grund ist, dass dieser Begriff von der spirituellen Bewegung der Gegenwart sehr strapaziert wird, indem er von immer mehr Menschen im Allgemeinen für sich beansprucht wird.
Wir dürfen uns unter diesen Erfahrungen, welche mit dem Begriff der Erleuchtung verbunden werden, nicht etwas ganz außerhalb unserer Wahrnehmung Liegendes vorstellen, obwohl immer wieder betont wird, dass man eigentlich über diese nichts sagen kann, da sie außerhalb aller Begrifflichkeit liegen. Ich glaube jedoch, dass man durchaus einiges darüber zu sagen vermag, da zwischen den Menschen ständig über die Begrifflichkeit hinaus kommuniziert wird. Begriffe allein können die Erfahrung der Erleuchtung nicht erfassen, doch der Mensch ist nicht nur ein Begriffs-, sondern vor allem ein Seelenwesen mit all der darin liegenden Vielfalt der Möglichkeiten, die noch schlummernden Entsprechungen zu finden. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass der Andere etwas nicht verstehen oder nachvollziehen kann, sondern uns gegenseitig helfen, das Wissen zu finden, welches in jedem von uns schlummert.
Jemand, der in einem stark von Empfindungen geprägten Seelenzustand lebt, wird die eventuell plötzlich durchbrechende Ich-Wahrnehmung als ein Erwachen zu sich selbst verstehen. Wenn ein anderer Mensch, der die Welt verstärkt intellektuell wahrnimmt durch eine stimmungsvolle Situation unerwartet in eine Seelenruhe kommt, in der das unruhige Denken seinen Frieden erfährt, kann diese Erfahrung ebenfalls als eine Erleuchtung verstanden werden, vor allem, wenn sie von einem tiefen Frieden und dem Gefühl der Glückseligkeit begleitet wird.
Andere Erfahrungen, in denen die Persönlichkeit und das gewöhnliche Ich für Augenblicke eine Transzendierung erfahren, werden jedoch meist überbewertet. Beim Erahnen des äußersten Saumes der Göttlichkeit wird bereits vom Eins-Sein, oder von der endgültigen Befreiung, gesprochen. All diese Erfahrungen sollen nicht abgewertet werden, doch gehört zu einer inneren Schulung unabdingbar die Entwicklung einer heiligen Nüchternheit
Der innere Weg ist kein bequemer, der durch Äußerungen wie Loslassen, sich vom begrifflichen Denken befreien oder sich an den Augenblick Hingeben bewältigt werden kann.
Erst wenn die wirkliche Erkenntnis entsteht, dass der Beobachter nur ein auf sich bezogenes geronnenes Abbild des Beobachteten ist und seine Erinnerungen und gebildeten Vorstellungen das Ergebnis der Sinneswelt sind, dann beginnt sich das Seelenleben aus der Gebundenheit an das Haupt zu lösen und erlangt die zweite Stufe der Aufmerksamkeit, die des Schauens.
Hier beginnt der eigentliche Seelenzustand der Meditation.
Im Seelenzustand der Meditation verändert sich unser Vorstellen und Empfinden der Welt. Das gewohnte Erleben der Tiefendimension des Raumes, bleibt uns zwar erhalten, verliert jedoch seine bindende Wichtigkeit zugunsten einer mehr bildhafteren Sichtweise. In dieser leuchtet uns wiederum eine bis dahin verborgene Raumesdimension der Wirklichkeit auf, indem diese mehr als Seelen,- Licht und Raumqualitäten erfahren wird. Es wird uns zum Erlebnis, dass wir die dritte Dimension des Raumes ständig durch den mehr begriffsbildenden vorderen Teil des Hauptes erschaffen, während die meditative Schauung ihre Zuordnung mehr im hinteren Bereich des Hauptes hat.
Die Vorstellung der Raumestiefe hält unsere Seele in der horizontalen Ebene. Mit der Abnahme der Tiefendimension vermögen wir verstärkt die Vertikalebene unserer Wesenheit zu erleben, wodurch wir uns zu der Welt der Sinne in ein freieres Beziehungsverhältnis treten. Wird darin die Geisteskraft der Aufmerksamkeit stetig aufrechterhalten ohne sich in einem bestimmten Bereich unserer Wesenheit zu zentrieren, so dass sie ohne innere Anstrengung eine natürliche Seelenhaltung zu werden beginnt, differenziert sich mit der Zeit unsere Wahrnehmung. Sahen wir zuvor die Objekte der Sinne im Raum, so verlagert sich die Sichtweise derart, dass nun der Raum als eine unmittelbare Entsprechung zum eigenen Bewusstsein zu leben beginnt. Dabei beinhaltet er sowohl die zuvor isoliert erlebten Objekte, als auch die eigene Person. Der Raum ist von unterschiedlichen Qualitäten erfüllt und die Objekte stellen nur das äußere Kleid dieser Raumeseigenschaften dar. In dieser gesteigerten Aufmerksamkeit sind die Polaritäten von Innen und Außen Anteile der einen Welt.
Diese sich verfeinernde Wahrnehmungsprozesse bildet den Übergang vom Schauen zum Bewusstsein und leitet die dritte Stufe der Aufmerksamkeit ein. Darin wird sich die Geisteskraft der Aufmerksamkeit ihres eigenen Ursprungs und des ihr zugrundeliegenden reinen Bewusstseins gewahr. Wir können diese drei Stufen der Aufmerksamkeit als:
1. Sehen (Beobachter)
2. Schauen ( Meditation)
3. Bewusstsein (innewerden der Natur des Bewusst-Seins)
bezeichnen.
Die Fähigkeit zur dritten Stufe der Aufmerksamkeit bildet die Voraussetzung dazu, die erste Ebene der Erleuchtung als ihre kosmische Entsprechung zu realisieren. In ihr erfährt der Mensch durch die Überwindung der körperlichen Begrenzung zum ersten Mal die kosmische Seins-Dimension seiner Wesenheit.
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