Schönen guten Morgen!
Ein bewegender, tiefgehender Thread. Ich weiß nicht genau, ob ich da mitreden kann, einerseits ja, weil ich in der Kindheit auch ziemlich heftiger körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen bin, andererseits nein, weil ich offensichtlich anders aus dieser Spirale ausgestiegen bin. Und mein Weg wahrscheinlich auch nur für mich passend ist.
Um das Leid eines Anderen zu empfinden muß ich sein Leid auch empfinden. Meinst Du das? Es reicht nicht, nur hin zu fühlen und zu verstehen, daß der Andere leidet, sondern man muß das Leiden des Anderen auch erleben? Entscheiden ist wohl vielleicht, daß man nicht versucht, dem Leidenden einen Teil seines Leids abzunehmen, indem man selber erleidet, worunter der Andere leidet. Dann kann man nämlich nicht mehr helfen. Schließlich hat man auch genug eigenes Leid - bloß vergißt der Helfende es gerne, bis es ihm auf den Kopf fällt....
So ähnlich ist es bei mir zumindest bis jetzt immer verlaufen. Ich konnte DANN mit einem Thema abschließen, wenn mir das Leben Gelegenheit geboten hatte - oft schmerzhaft - in die Rolle meiner Eltern zu schlüpfen.
Denn plötzlich hatte ich diese Verhaltensweisen von ihnen nachvollziehen können und bemerkte, dass da drin verdammt viel Liebe gesteckt ist. Auch wenn sie sich "falsch" gezeigt hatte für mich.
Die Chance - und auch eine Art Heilung - sah ich für mich darin, aufgrund dieser Erkenntnis es WIRKLICH anders zu machen als meine Eltern (und damit vielleicht auch "falsch" in den Augen meiner Kinder). Wie oft hab ich erschrocken feststellen müssen, dass ich eigentlich in derselben Schiene laufe und die Gefahr besteht, dass sich alles stereotyp wiederholt.
Kinny, ich denke, das Erkennen, was da passiert ist und was es mit Dir gemacht hat, ist ein total wichtiger Schritt. Und der Schritt, der in die Kraft zurück führen kann, ist die Aktion.
Für mich bedeutete Aktion zuerst das, dass ich Situationen, in denen ich genauso zu reagieren drohte, plötzlich klar gesehen habe. Vorher lief da viel unbewusst, wie programmiert. Das war schmerzhaft, weil ich mir eingestehen musste, dass ich womöglich von meinen Kindern später genauso beschrieben werden würde wie ich das Bild von meinen Eltern in meiner Kindheit hatte.
Nicht genauso - aber ähnlich, in anderen Situationen. Ich bin weit mehr wie meine Eltern, als ich es mir eingestehen wollte. Und trotzdem spüre ich meine eigene Liebe zu den Kindern dabei - ich denke, meinen Eltern ist es genauso ergangen.
Es gab oft Situationen, wo ich im Zimmer stand, vor mir ein wütendes und stampfendes Kind, wo ich meine momentane Hilflosigkeit und Ohnmacht in dieser Situation bemerkte. Und ich hielt mir die Hände krampfhaft am Rücken, weil ich diesen Hand-vorschnell-Impuls spürte, nur um irgendwas zu tun um die Situation zu "lösen".
Ich habe es geschafft, meine drei Kinder gewaltfrei groß zu kriegen. Dieser Impuls verlor sich im Laufe der Zeit, Lösungen gab es durch Gespräche. Aber um das gehts jetzt gar nicht - sondern um dieses Gefühl, das ich dabei spürte in diesen Situationen - DAS war gerade mein Vater, den ich in mir erlebte.
Und solche Situationen waren in dem Moment auch für mich wie eine Erlösung, auch wenn sie verwirrend und schrecklich waren. Weil ich an mir selbst spüren konnte, wie sehr ich dieses schreiende und stampfende Bündel mit rotem Kopf liebe und TROTZDEM dieser Impuls da war, zuzuschlagen - weil mir damals noch keine andere Reaktion bekannt war.
Und das Erkennen und Nachspüren der Gefühle meiner Eltern war für mich der Schritt zur Aktion. Aktion insoferne, dass ich wusste, ich KANN wählen, ich kann es anders machen.
Und dass ich es vielleicht auch nicht wirklich anders gemacht hatte, wurde mir klar, als meine älteste Tochter mal meinte, sie hätte mir etwas Wichtiges nicht gesagt, weil sie Angst vor mir gehabt hätte.
Da brach eine Welt für mich zusammen. Denn ich verstand nichts mehr - war ich ein Monster, vor dem man sich fürchten musste? War ich mein Vater?
Wir setzten uns zusammen und sie meinte, die Angst wäre gewesen, sich wieder stundenlang

mit mir unterhalten zu müssen - es gäbe einfach Dinge, die wolle sie selbst durchziehen, ohne Logik, ohne Analyse, ohne doppeltem Boden.
Für mich war Angst etwas ganz anderes. Aus Angst eine Stunde später als vereinbart heimzukommen, weil ich wie ein Roboter immer wieder um den Häuserblock gegangen bin, weil ich mich nicht heimtraute. Angst vor Schlägen, Angst vor Schmerzen, Angst davor, wieder nicht in die Schule gehen zu können weils das Gesicht erwischt hatte.
Und meine Tochter sprach nun von Angst vor mir, ohne jemals Gewalt in meiner Definition (!) erfahren zu haben. Ich war fassungslos und momentan total zerbrochen in mir.
Machte ich im Prinzip dasselbe mit ihnen, nur auf einer anderen Ebene?
Kinny, ich hab mir im Laufe der Jahre hundertmal den Kopf darüber zerbrochen, ob ich nicht auch viele, viele Fehler gemacht habe. Meine Erziehung war ohne körperliche Gewalt, ja. Aber wie meine Kinder das selbst sehen, wie sie MICH als Mutter sehen, das weiß ich nicht wirklich.
Nun hab ich lange geschrieben, was ich eigentlich damit sagen will ist, dass ich meine Eltern nicht verurteilen kann, weil ich selbst nur versuche, es so halbwegs "richtig" zu machen - Fehler mach ich sicher genauso.
Und ich ahne, dass sie das auch so empfunden haben, aus ihrer Sicht und ihrer Zeit heraus. Sie wurden selbst auch so behandelt, ich denke sogar noch viel schlimmer, wenn ich mir so manche Erzählung von ihnen überlege.
Mein Vater hatte mir einmal gesagt, die Prügel hätten ihm mindestens genauso wehgetan wie mir. Man kann das ironisch sehen, klar. Aber wenn ich in genau das Gefühl gehe, das ich in den beschriebenen Krisensituationen mit meinen eigenen Kindern gespürt hatte, weiss ich, was er meint.
Und die Eltern der vorigen Generationen haben auch versucht, es "besser" zu machen - was man dabei auch nicht vergessen sollte, ist die Zeit.
Denn erstens war vor ein, zwei Generationen noch eine völlig andere Meinung vorherrschend, was Erziehung bedeutete. Da war es wichtig, dass aus dem Kind ein "wertvolles Mitglied der Gesellschaft" wurde, die Maßnahmen dafür waren oft Schläge - das war ein "gutes und brauchbares" Mittel. Zumindest in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis. "Liebe" zeigte man vor allem dadurch, dass man die Kinder "gut" erzogen hatte, damit sie eine reelle Chance hatten, ein besseres Leben zu führen, als das eigene war.
Heute tun wir uns zumindest in dieser Hinsicht leichter - der Druck von außen, dass ein Kind genau in einen vorbestimmten Raster zu passen hat, damit man als Eltern nicht versagt hat (und seine Liebe nicht gezeigt hat), ist zumindest etwas weniger geworden. Liebe zu den Kindern darf sich heute anders zeigen, als es früher teilweise streng geregelt war.
Und zweitens glaube ich, dass es mit jeder Generation "leichter" wird. Eine Generation prügelt halbtot, die nächste hat schon die Erfahrung, wie sich das anspürt, sie gibt noch Ohrfeigen, die nächste Generation schlägt gar nicht mehr. Weisst Du, was ich meine?
Die Kraft, in die man kommt, von der ich anfangs gesprochen habe, die beginnt genau da.
Du hast nun die Macht, diesen Kreislauf zu durchbrechen - durch das Erkennen und BENENNEN, was es ausgelöst hat. Hier ist der Knackpunkt - Du KANNST es anders machen.
Und ich denke, es ist bei allem im Leben so: Analysieren und Erkennen ist der erste Schritt - der Schritt, in dem etwas positives draus werden kann, ist die Aktion, die Macht, es zu ändern - für die Zukunft.
Wie schon hier geschrieben wurde - die Vergangenheit lässt sich nicht ändern - aber aktiv die Zukunft. Und das gibt eine unheimliche Kraft, finde ich.
Noch eine Bitte auch @an alle: Mein Beitrag ist nicht allgemein gültig. Was ich geschrieben habe, entspricht nur meinem eigenen Fokus - es ist mir bewusst, dass man meine Erfahrungen nicht mit anderen Erfahrungen vergleichen kann. Und meine persönlichen Konsequenzen und mein Weltbild daraus möchte ich niemandem aufdrücken.
Es ist MEIN Weg, mit dieser Problematik umzugehen, der muss nicht richtig sein für jemanden anderen. Kann sogar sein, dass er nicht mal richtig war für meine Kinder, wer weiß.
Liebe Grüße
Suena