Aber auf die Art hab ich mich bis vor Kurzem für Übergreifer aller Ebenen geradezu auf dem Tableau serviert. Genußfertig vorportioniert.
Das mein ich, wenn ich sag, mein größter Wunsch in der Therapie ist es, herauszufinden, was für ein Wesenszug in mir mich so weit in dieses "mir alles Bietenlassen" hineingeritten hat.
Mich für alles Mögliche an Übergriffen, Grenzverletzungen und Verdrehungen anzubieten, darin war ich eine Meisterin. "Genussfertig vorportioniert" ist eine sehr treffende Beschreibung, Kinny.
Als ich in der Therapie war, war es ebenfalls mein großer Wunsch, herauszufinden, weshalb ich süchtig wurde, weshalb ich mir Übergriffe gefallen ließ. Es dauerte einige Zeit, ehe ich mich durch etliche Schichten und Widerstände gearbeitet hatte, um an die Einstellung heranzukommen, die mein Leben und mein Handeln bestimmt hatte. Diese Einstellung war "Ich darf nicht sein" - im Sinne von "ich habe kein Recht, hier zu sein, geboren worden zu sein". Was daraus folgte, war im Rückblick erschütternd: Da ich nicht sein durfte, musste ich brav und unauffällig sein, anderen alles recht machen, keinen Fehler begehen - denn ein Fehler hätte in dieser "Logik" bedeutet, dass ich nicht mehr geduldet werde. Als kleines Kind war ich aber darauf angewiesen, zumindest geduldet zu werden, denn sonst hätte ich ja nicht überleben können. So versuchte ich, vorauszusehen, was in den Köpfen meiner Eltern, Lehrer und anderen vorging, was welche Worte oder Handlungen von mir an Reaktionen in ihnen auslösen könnten. Tag und Nacht habe ich mir darüber Gedanken gemacht. So viele, dass ich schon als kleines Mädchen schlecht schlief.
Ich dachte wirklich,wenn ich alles richtig, recht mache, keinen Anlass zur Kritik gebe, dann darf ich wenigstens bleiben. Das setzte sich fort, in meiner ersten Ehe, in meiner zweiten und gipfelte in einer Beziehung, in der mir das erste Mal dämmerte, wie kindlich ich mich verhalte.
Aus meiner tiefen Überzeugung des Nichtseindürfens resultierten Höchstleistungen wie gute Abschlüsse von Ausbildungen, aber auch Lebensabschnitte, in denen ich von Obdachlosigkeit bedroht war. Weil ich mich immer hundsmiserabel fühlte, wenn ich etwas für mich einforderte oder doch für meine Rechte eintrat. Es fühlte sich immer an, als müsse ich sterben, als wäre es nicht richtig, das zu tun. Dass obendrein meine Wahrnehmung ziemlich verdreht war, machte es nicht besser. Egal, was es war, wer es war: Fast immer habe ich die Schuld bei mir gesucht.
Oder auch - aus der Sicht heraus, daß wir mehr als einmal da sind - welche Vorbedingungen da mitgespielt haben könnten..
Das hat mich auch mächtig interessiert, da wir aus dieser Sicht heraus genau diese Bedingungen erschaffen haben. Daher bin ich dann auch einmal unter Anleitung "zurückgereist". Das Interessante war: Da war so etwas wie ein Nichts. Es war nicht warm, nicht kalt, nicht wirklich bedrohlich oder dunkel, aber auch nicht hell. Es war eher grau - und ich war völlig allein. Meine Therapeutin fragte mehrfach nach, ob da niemand sei, kein Vater, keine Mutter. Aber da war eben nichts. Und als mir das in diesem Zustand bewusst wurde, begann sich etwas zu lösen und die Tränen liefen. Eigenartigerweise stabilisierte ich mich danach in rasanter Geschwindigkeit, gewann buchstäblich Boden unter den Füßen. Mich interessiert nicht mehr, was die Vorbedingungen waren, denn ich kann sie nicht verändern. Was ich jetzt tun kann, ist im Hier und Jetzt die Saat für die Zukunft legen. Denn eines ist - wenn man dieser Betrachtungsweise folgt - ja klar: So furchtbar viel Mist kann ich in Vorleben nicht gemacht haben, denn sonst wäre ich nicht als Mensch in diesem Land mit seinen vielen Möglichkeiten geboren worden.
Jetzt, nachdem mehr als vier Jahre vergangen sind, bin ich überzeugt, dass diese beiden Erfahrungen/Erkenntnisse der Schlüssel zu meiner Gesundung waren. Vielleicht hätte auch die Erlaubnis, besser gesagt, meine Selbstermächtigung (Ich darf sein) gereicht, um eine Art Kettenreaktion in Gang zu setzen.
Du, Kinny, hast es bereits geschafft, zornvoll zu sein und erlebt, was für eine Energie das ist. Ich denke, das ist ein sehr, sehr gutes Zeichen.
Liebe Grüße
Rita