Vom Wert des Denkens für eine geistgemäße Erkenntnis der Wirklichkeit
Vergleich man die in der Natur wirkende Intelligenz mit dem menschlichen Verstandesdenken, so wird auch sogleich der Unterschied deutlich. In der Natur haben wir es mit einer unmittelbar tätig wirkenden Intelligenz zu tun, welche die Stoffe der Welt ergreift und lebendig nach den ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten gestaltet.
Es gibt hier keine Kluft zwischen Denken und Tun. Ganz anders der menschliche Verstand. Er gibt uns zunächst maximal ein sehr karges abstraktes Gedankenbild von den in der Natur waltenden Gesetzmäßigkeiten, und dieses vorerst völlig wesenlose Bild bewirkt von sich aus unmittelbar gar nichts.
Alles Verstandesdenken wird damit letztlich zur spekulativen Metaphysik (nicht zufällig hat Aristoteles, der Begründer der Logik, zugleich die erste Metaphysik geschrieben!): Wir entwerfen uns abstrakte Gedankenmodelle einer Wirklichkeit, die wir ganz und gar nicht kennen. Es geht uns wie den Blinden, die über die sinnlich sichtbare Welt der Formen und Farben diskutieren wollen.
Ein Art von erkenntnistheoretischem Autismus beginnt, durch den wir die wirkliche Welt verlieren und es nur mehr mit den von uns selbst geschaffenen wesenlosen Gedankengebilden zu tun haben.
Durch das Denken entfaltet sich allerdings unser Selbstbewusstsein. Wir erfahren dieses Ich denke, also bin ich. - wie es Descartes formuliert hat. Aber besser sollte es eigentlich heißen: Ich denke, also bin ich nicht!, denn durch den Verstand lernen wir unser wirkliches unsterbliches geistiges Ich überhaupt nicht kennen, sondern nur dessen kraftloses abstraktes Bild.
Schon jede Nacht, wenn wir schlafen, erlischt dieses Bild, es garantiert uns nicht einmal die Fortdauer unserer Existenz von einem Tag auf dem nächsten und noch viel weniger sagt es uns über unser bewusstes geistiges Fortbestehen nach dem Tod. Gerade die zentralen Lebensfragen, wie sie Kant formuliert hat: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was soll ich tun?, kann der Verstand nicht beantworten.
Er sagt uns nichts von unserer geistigen Präexistenz vor unserem Erdenleben, nichts von unserer Postexistenz nach dem Tod, und nicht nichts von den moralischen Impulsen, die unseren Taten im Erdenleben, durch die wir unser Selbst erst wahrhaftig verwirklichen, ihr ganz individuelles geistiges Gütesigel aufprägen müssen. Im Gegenteil, der Verstand gibt uns nicht nur keine Auskunft darüber, was wir tun sollen, er lähmt sogar unsere Entschlusskraft.
Um unser Ich durch unsere (moralischen) Taten zu verwirklichen, müssen wir unseren Verstand verlieren wobei stets zu bedenken ist,
dass wir nur das verlieren oder überwinden können, was wir uns zuvor erworben haben!
Nun ist es aber nicht so leicht, den einmal erworbenen Verstand auch nur für kleine Augenblicke beiseite zu schieben und darüber hinauszukommen, denn er hat sich im Laufe des Lebens bis tief in unsere körperlichen Strukturen eingegraben, die unseren Geist nun wie stählerne Fesseln umklammern.
Es ist zwar prinzipiell ein blanker Unsinn, wenn man meinte, dass es das Gehirn sei, das denke. Das Gehirn denkt überhaupt nicht, sondern es ist vielmehr genau umgekehrt: Das lebendig wirkende Denken baut das Gehirn. Wir haben ja schon gesehen, dass in der Natur eine ungeheure Intelligenz waltet, die ganz und gar nicht auf ein Gehirn angewiesen ist, und die den Lebewesen ihre komplexe weisheitsvolle Form verleiht. Das ist auch hier auf ganz spezifische Weise der Fall. Unser wirkliches lebendiges Denken ist von gleicher Art wie jene Lebenskräfte, welche die Natur gestalten. Dieses lebendige Denken ist uns aber zunächst gar nicht bewusst, sondern nur dessen blasses, abgetötetes Spiegelbild, welches das Gehirn in unsere Seele zurückwirft.
Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Mt 18,3)
Das geht nur, wenn es gelingt, das lebendige Denken aus der Umklammerung des Gehirns zu erlösen und immer beweglicher zu machen, ohne dabei das zunächst durch das Gehirndenken erworbene Selbstbewusstsein zu verlieren denn sonst würden wir ja bloß zu jenem im Grunde vormenschlichen Urzustand zurückkehren, in dem unser Selbst noch gar nicht richtig erwacht war.
Dazu ist aber eine hohe geistige Willenskraft nötig, die uns von den eingefahrenen Gedankenbahnen unserer gehegten und gepflegten Lieblingsmeinungen losreißt. Sich völlig selbstlos in Gedankenformen einzuleben, die den unseren vielleicht ganz und gar widersprechen, ist äußerst heilsam.
Eines ist nun noch besonders bedeutsam: Wir müssen unser Bewusstsein dahin lenken, den Denkprozess selbst sehr wachsam zu beobachten. Das tun wir nämlich normalerweise nicht. Wenn wir unseren Verstand gebrauchen, sind wir ganz auf die Sache konzentriert, über die wir nachdenken, während der eigentliche lebendige Denkvorgang verborgen bleibt und uns nur sein toter erstarrter Schatten bewusst wird. Dann kommen wir allmählich dazu, die eigentliche Wirklichkeit des Denkens zu spüren, die dem bloßen Verstandesdenken ganz und gar mangelt.
Wir entwickeln ein rechtes Wirklichkeitsempfinden nämlich nur dort, wo es uns gelingt, Denken und Beobachtung miteinander zu einem Ganzen zu verbinden.
Das Verstandesdenken, aber auch die äußere sinnliche oder die innere seelische Wahrnehmung für sich genommen, stellen noch keine Wirklichkeit dar, sondern sind jeweils nur die eine oder andere Hälfte derselben.
Hatte man beim Verstandesdenken die deutliche Erfahrung des Ich denke gemacht, so erlebt man nun sehr intensiv: Es denkt in mir. Nicht ich denke nun über den Kastanienbaum nach, sondern der Kastanienbaum, oder besser gesagt, was geistig gestaltend in ihm wirkt, denkt nun in mir.
Wenn sich diese Erfahrung noch weiter steigert, spüren wir allmählich, dass es keine herrenlos durch die geistige Welt streifenden Weltengedanken sind, die wir nun erleben, sondern dass sie ganz konkret wesenhaften Charakter haben. Geistige Wesen sind es, die diese lebendigen Gedankenformen erregen.
Auszug aus einem Vortrag von Wofgang Peter
Etwas ausführlicher zu finden unter:
http://www.anthroposophie.net/peter/wertdesdenkens.htm