Die "Schuld" in Familienaufstellungen

Harry55

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Hallo,

Gibt es sowas wie Schuld überhaupt ? Viele Beiträge zum Thema Familienaufstellen enthalten das Wort Schuld. Jemand ist schuldig. Jemand fühlt sich schuldig. Jemand wird als schuldig befunden. Schuldgefühle bringen jemanden zum Verzweifeln......

Ich bin Mitglied einer losen Aufstellungsgruppe, habe nur Erfahrung mit einer Aufstellerin. Fast jede Aufstellung beginnt mit einer kleinen Medidation, hauptsächlich zur Ruhe, zur Sache zu kommen. Und jedesmal betont unsere Aufstellerin, dass es in keinem Fall um Schuld oder Schuldzuweisung geht, sondern immer nur um das Erkennen des Irrtums und der Verantwortung, die man für diesen Irrtum trägt.

Somit gibt es keinen "Sündenbock".
Denn der Verstand kann sehr wohl von nichts gewusst (alles verdrängt) haben, dennoch ist man auch verantwortlich für das, was man unbewusst getan hat. In einer Auftellung wird idealerweise der Zusammenhang und die Verantwortung aufgezeigt / erkannt und die Verantwortung übernommen. Dann kann es zu einer Änderung kommen.
Meine Erfahrungen als Stellvertreter haben nie Zweifel an der Richtigkeit dieser Einstellung aufkommen lassen.

Somit glaube ich, dass es keine Schuld gibt.

Was ist eure Meinung ?

LG
Harry :)
 
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hallo harry!

schuld gibt es schon, denke ich. und schuldgefühle ... wo schuldgefühle im spiel sind, ist in der regel keine verantwortung übernommen worden (oder nur eine schein-verantwortung). es gibt die notwendigkeit des ausgleichs in beziehungen, die immer wieder mal in aufstellungen ans licht tritt, und ausgleich ist dort gefragt, wo jemand etwas schuldig geblieben ist.

matthias varga von kibed weist würdigend darauf hin, dass bert hellinger das konzept einer moralischen, verurteilenswerten schuld durch ein ökonomisches schuldkonzept (aus chassidischen wurzeln, vor allem martin buber) ersetzt hat: schuld ist nichts, was jemand ganz oder partiell ins abseits stellt, sondern schuld kann ausgeglichen werden, indem jemand verantwortung übernimmt und "den preis zahlt".

dass es schuld - also eine un-ordnung im geben und nehmen innerhalb des systems - geben kann, das zu leugnen, würde m.e. vielen aufstellungen die dynamik und die kraft nehmen. was aber bedeutsam ist: urteilendes werten ist unangebracht. zumal es ja sogar sein kann, dass das auf sich nehmen einer schuld gegenüber einem "seine hände in unschuld waschen" den geringeren ausgleichsbedarf hervorruft... auch dafür findest du beispiele bei hellinger.

alles liebe, jake
 
Wenn einer Schuld fühlt, fühlt er Schuld, das muss erstmal anerkannt werden.
Ist es eigene Schuld oder übernommene Schuld und dann geht es Stück für Stück weiter.

Mir kommte so vor, als müsste dieAufstellerin Schuld sofort aufweichen, weichspülen, weil sie es für zu schwer hält, zu schwer um es auszuhalten, will sie einen schonen ? Sind da ihre eigene Aktien dabei ?

Lieben Gruss Dagmar
 
Hallo Jake,

mit "Schuld" meinte ich nicht Energieausgleiche der freiwilligen Art - : einer gibt freiwillig, manchmal sogar selbstlos - der andere gibt gerne zurück, gleicht aus.

Ich meinte Übergriffe anderen Gegenüber, Energiebabsaugen, Unterdrücken, Demotivieren etc., einfach alles, was den anderen beim Erfüllen seiner Lebensaufgabe behindert, schadet.

LG
Harry
 
Harry55 schrieb:
mit "Schuld" meinte ich nicht Energieausgleiche der freiwilligen Art - : einer gibt freiwillig, manchmal sogar selbstlos - der andere gibt gerne zurück, gleicht aus.

Ich meinte Übergriffe anderen Gegenüber, Energiebabsaugen, Unterdrücken, Demotivieren etc., einfach alles, was den anderen beim Erfüllen seiner Lebensaufgabe behindert, schadet.
also das freiwillige geben - von "selbst"los mag ich gar nicht reden, das ist ein begriff, der mir unheimlich ist - ist als ausgleich problematisch: ICH entscheide mit freiem willen, ob ich ausgleichen soll? damit stelle ich mich hoch über den, an dem ich möglicherweise schuldig geworden bin... so wie auch MEINE definition, was ich für schuld halte, von theoretischem wert ist. wirklich - im sinne von wirkend - zeigt sich auszugleichendes in der aufstellung und braucht nur wahrgenommen zu werden. es dann auch noch mit einem definierenden etikett zu versehen, nimmt ihm die die kraft. annehmen, was ist ... das ist das geheimnis :)
im übrigen steht es eh nicht zu wahl, OB der ausgleich geleistet wird oder nicht - den fordert das system schon ein. es geht nur um das WIE. da können einsicht und annehmen viel entlasten.

alles liebe, jake
 
Hallo Harry

Ich finde, daß man zwischen zwei erwachsenen Menschen (die Eltern-Kinder-Beziehung lasse ich jetzt mal außen vor) von "Schuld" sprechen kann, wenn z.B. die Beziehung auseinander geht. Dann heißt es in der Familienaufstellung nach Hellinger: "Ich übernehme 50 %, die anderen 50% lasse ich bei dir". Das finde ich gut und richtig. Vielleicht klingt "Schuld" zu moralisierend, vielleicht ist Verantwortung manchmal ein geeignetere Ausdruck. Doch in angemessenem Maße Verantwortung zu übernehmen ist sehr wichtig. Mit angemessen meine ich weder *alles* zu übernehmen von wegen "Ich bin ein schlechter Mensch, es ist alles meine Schuld ..." noch jedigliche Schuld (Verantwortung,...) von sich zu weisen. Übernimmt man 50 %, dann kann man da auch ruhig Tendenzen des ewigen Opferlamms, der Feigheit etc mit einbeziehen, wenn man denkt, man könnte sonst auf keinen Fall auf 50% kommen ;)

Liebe Grüße,
Raven
 
Lieber Jake,


danke für deine Ausführungen. So hätte ich es wohl auch gesagt...

Mit "Schuld" ist "Schuldigkeit" (i.S. "ich schulde dir etwas") gemeint. Und dann finde ich auch den Begriff der Verantwortung hilfreich, wie ihn Harry einführt.

Viele Grüße
Christoph


Lieber Harry,

Dann heißt es in der Familienaufstellung nach Hellinger: "Ich übernehme 50 %, die anderen 50% lasse ich bei dir".
also da muss ich schon mal heftigst protestieren! Mit einem solchen Vollzug würde man schon wertend eingreifen. So - mit der "50%-Regelung" - hat Bert das meines Wissens noch nie gesagt und auch nicht gemeint!

Richtig wäre: "Ich nehme meinen Teil der Schuld/Verantwortung und der Folgen an dem was schief gelaufen ist und deinen lasse ich bei dir." Das lässt die Anteile offen und überantwortet sie der Seele.

Liebe Grüße
Christoph
 
Hi Ihr..

ich denke auch, dass es viel mehr und Verantwortung geht und um das Nehmen des eigenen Anteils.

Schuld ist moralisch so verwerflich heutzutage, dass davon alle schwache Knie bekommen. Und mit schwachen Knien kann ich wieder meine Anteile nicht tragen.

Liebe Grüsse
Gaby
 
Demia schrieb:
Schuld ist moralisch so verwerflich heutzutage, dass davon alle schwache Knie bekommen. Und mit schwachen Knien kann ich wieder meine Anteile nicht tragen.
hi demia!

schuld "ist" nicht so, sondern sie wurde - nicht nur heute - seit jeher als moralische kategorie betrachtet. wenn wir sie nur als moralische kategorie betrachten, ist es bildzeitungsniveau. dabei gibt es sogar in unserem alltagsleben ganz differenzierte auffassungen von schuld und auch von ent-schuldigung. es gibt schuld, die rechtlich definiert ist (und da neigen wir dazu, parallel zu den gesatzten normen unsere eigenen aufzustellen, stichwort "kavaliersdelikt"), da gibt es die nicht endende diskussion ums naturrecht und das "gesunde volksempfinden", das schuldzusammenhänge wiederum anders sieht, es gibt das thema schuld im psychologischen bereich, wo es vor allem in seinen auswirkungen als schuldgefühl thema ist, und es gibt die schuld im systemischen, wo sie, wie weiter oben schon dargelegt, vor allem als ausgleichsfähige gebundenheit ins licht tritt.

verantwortung ist nicht schuld, verantwortung kann eine konsequenz sein, die aus schuld erwächst.

und wenn wir unsere eigenen schwachen knie als maßstab dafür nehmen, auf unsere schuld zu schauen oder nicht, dann machen wir uns selber schwach. das hinschauen stärkt uns ... immer wieder zeigt sich in aufstellungen, dass gerade das ins bild nehmen von verstrickungen, die den schuldaspekt aufweisen, kraft gibt. wir sind in der lage zu tragen, was wir zu tragen haben. und wenn wir es einander zu-muten ... mit dem mut zu sagen: ich trage, was meins ist, und du trägst, was deins ist ..., dann richtet das die gebeugten knie sichtbar auf. kannst du wirklich beobachten!

wenn wir einfach das moralisieren als allgemeines gedöns übernehmen und uns vor dem hinschauen und benennen drücken, bleiben wir in der schwäche.

aber in keinem fall heißt es: du bist schuld! das ist nie einsicht in systemische zusammenhänge, das ist ein sich aus systemischen zusammenhängen heraus stehlen. schuldzuweisung ist ein produkt der schwäche und der angst, die weigerung, den eigenen teil zu tragen. schuldzuweisung steht sehr oft dahinter, wenn das leiden leichter zu sein scheint als das lösen. man meint, sich zu entlasten ... irrtum.

das nicht-sehen von schuld (auch mit dem ehrbaren motiv, dass man ja nicht moralisieren wolle... wenn man das nicht will, muss man ja nicht) ist ein nicht-anerkennen vom dem, was ist. sozusagen eine schuldzuweisung an das nichts. und damit auch ein weg, lieber zu leiden als zu lösen.

alles liebe, jake
 
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Hi jake..

mir ging es weniger darum, dass es keine Schuld gibt, als denn darum, dass das falsche Verständnis von Schuld (im Sinne von: einer ist gut und einer ist schlecht - nämlich der Schuldige) keine Entwicklung bringt. Sobald von Schuld die Rede ist, werfen die Menschen alles hin, was sie ihrer Verantwortung gemäss eigentlich tun müssten, um sich selbst nichts "schuldig" zu bleiben.. sich und ihrem Leben gegenüber.

In einer Aufstellung herrscht nicht das klassische Verständnis von schuldig oder nicht - so fällt es leichter, Verantwortung zu nehmen.

Ich hab mich vor fünf Jahren von meinem Exmann getrennt, was mir meine Kinder (und er) sehr übel nahmen. Und ein Ja zu mir und meiner Verantwortung gegenüber meinem Leben und auch ein Ja zu mir als "Täter" (mein Ex nennt das "*********") gaben mir die Kraft in den Beinen, auch wirklich zu gehen und zu lassen, was nicht mehr zu richten war. Die Hintergrundgeschichte ist sehr lang und jetzt nicht so von Bedeutung.

Ich hab jedenfalls gespürt, wieviel Kraft es gibt, Schuld oder Verantwortung zu tragen.

In Begegnungen spüre ich - ausserhalb von Aufstellung - dass die Menschen eher das "Tun" (in Form von Konsequenz) bei dem Gefühl von Schuld wieder lassen und erst durch ein neues Verständnis von Schuld (sich etwas schuldig sein) und der Übernahme von Verantwortung - also ein Ja zu sich - wieder agieren.

Es will einfach keiner das "Schwein" sein..
und das ist mir wichtig.. es ist auch keiner! Ich bin - gerade auch weil ich viele Jahre in der Opferrolle war - der Meinung, dass jeder zu jeder Zeit sein Bestes gibt, dass ihm zu dem Zeitpunkt seines Lebens, in welchem er gerade ist, überhaupt möglich ist. Die Entscheidung, anders zu agieren, als er agiert, wer gerade agiert, kann erst kommen, wenn sich sein Verständnis oder sein Inneres oder seine Position verändert haben. Das ist, was ich so schön an Aufstellungen finde, dass man sieht, was ist und es ganz bewertungsneutral nimmt.

Schuld aber wird bewertet - und, da hast Du recht, schon immer. Da wusch Jesus der Magdalena die Füsse und wurde fast mitverurteilt, obwohl er die innere Unschuld genau damit zeigt. Der Mensch als Wesen Gottes.. (oder wie auch immer man die Kraft des Universums nennt).

Und wenn die Übernahme einer Schuld bewertet wird, dann entziehen sich die Menschen aus der Verantwortung. In einer Aufstellung können sie sie nehmen, denn hier ist sie bewertungsfrei... denn sie hat viel mit Verantwortung zu tun.

Beispiel: Mein Ex nimmt auch nach fünf Jahren noch keinen Anteil an Schuld oder Verantwortung zum Scheitern der Ehe. Das ist schwer für mich, weil so immer die Kinder in Versuchung kommen, zu agieren. Meine Verantwortung ist es, sie dennoch zu lassen und zu sehen, wie schwer es ihm fällt - und mitzutragen, welche Auswirkungen es auf unsere Kinder hat. Denn die Erkenntnis dahinter ist für mich, meinen Teil an Verantwortung, mir ihn als Vater für unsere Kinder ausgesucht zu haben.

Schuld???
Es gibt Tage, da komme ich mir vor, wie das Schuldschwein und weiss doch, es lebt sich leichter mit der Verantwortung. Meinen Teil eben..

Liebe Grüsse
Gaby
 
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