Das kleine Männlein war gekommen und hatte sie wieder in ihre eigene Welt geführt. Gwinevere fühlte sich, als hätte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan. Erst mal einen Kaffee zum Munter werden, den gönn ich mir jetzt. Sie erhob sich von der Couch, auf der sie wohl eingenickt war, und machte sich auf den Weg in die Küche, holte Kaffeefilter und Pulverkaffee vom Schrank und begab sich zur Kaffeemaschine. Es dauerte nicht lange, als dann schon der angenehme Kaffeeduft bis in den Flur des kleinen Ferienappartements zu riechen war. Schon schlürfte sie ihren heißen Kaffee in großen Schlucken. Das Schlürfen war doch sehr laut und da kam ihr ein Gedanke in den Sinn – Schmatzet und furzet laut als Zeichen dafür, dass es euch geschmecket hat. Was man schon im Maule hatte, lege man nicht auf den Teller zurück…sie lachte.
Man das war schon so lange her. Sie wollte sich ja von allem immer selbst ein Bild machen, Vorurteile ließ sie nie gelten. Was sollte denn an Rollenspielen so schlimm sein, mittlerweile hatten einige aus der Gothic-Szene ihren Weg beschritten. So hatte sie im Jahre 2006 die Gelegenheit erhalten, das Rollenspiel live erleben zu dürfen. Sie war damals durch Beziehungen zu zwei Cons eingeladen worden und hatte diese Einladungen dankbar angenommen.
Die erste Con ihres Lebens trug den Titel „Azinth“ und fand an einem bitterkalten, nahezu eisigen Morgen zu Beginn des April 2006 statt. Dem König war die Schatztruhe geraubt worden und wer den Dieb zu fassen bekam, hatte eine hohe Belohnung zu erwarten. Die Talsker Wölfe, eine Söldnergruppe, hatten sie damals als ihre Heilerin in ihre Mitte genommen. Gwinevere trug keine Waffe, na höchstens mal einen Langdolch, aber doch eher waffenlos war sie mitten in das Getümmel zwischen Orks, Chaoslager, Landwehr und vielen anderen Gruppierungen geraten. Es tat gut, in der freien Natur zu sein und sie mussten auch eine steile Anhöhe erklimmen, auf der sich das Orklager befand. Dort stand ein goldener Käfig, in dem ein junger Gefangener verharrte, ihn galt es zu befreien. Immer war sie umringt von den Wölfen, die ihre Heilerin bis aufs Blut verteidigen würden. Sie hatte damals ein langes Wildlederkleid und ein Jäckchen aus gefilzter Wolle getragen,braune hohe Stiefel, die mit einem einfachen Linnenseil gebunden waren. In ihren kleinen ledernen Taschenbeuteln - voll mit Heilkräutern, Kunstblut, Schminke, einer Art Gipsmasse, Verbandszeug und vielem mehr – befand sich auch Myrrhe und Weihrauch. Komischerweise machte ihr das Anbringen der Wunden, die oft sehr realistisch aussahen, nichts aus. Denn sie konnte kein Blut sehen und war schon in der Schule von Menschenkunde befreit worden, wenn sie nur an den Blutkreislauf oder eine Schädelfraktur dachte, fiel sie um. Hier verarztete sie eine Menge Verwundeter auf dem Schlachtfeld, egal ob Freund, ob Feind und hatte so viel zu tun, dass sie sich um ihr Mittagessen betrogen fand. Selbst vor dem Hochzelt war ihr kaum eine freie Minute vergönnt. Ständig kamen verletzte Krieger auf sie zu und suchten ihren Rat. Sie hatte damals auch den Hauptmann der Landwehr verarztet und ihm eine ziemlich schlimme Wunde am Oberschenkel verpasst, wohl etwas zu gut. Einer seiner Kameraden wollte sofort mit dem Verbandskasten anrücken. Intime oder outtime? fragte er aufgeregt und erschrocken nach. Na, abends wurde sie dann vom Hauptmann eingeladen, doch an ihrem Lagerfeuer Platz zu nehmen. Er zeigte sich dankbar, indem er sie zu Wikingerblut – das war ein Gemisch aus Met und Kirschsaft – und schmeckte superlecker – sowie einem gegrillten Steak mit Salat einlud. Dieses Spiel war ein wenig wie der kleine Bruder von „Herr der Ringe“ gewesen, fand sie. Und ihr imponierten die Freischläfer, das waren Leute, die doch tatsächlich trotz der erbitterlichen Kälte - es hatte in der Nacht frisch geschneit - nur mit Fellen bedeckt im Freien schliefen. Gwinevere war in der kristallklaren und eisigen Nacht im Zelt in einen dicken Schlafsack gehüllt und hatte sich Schafsfelle auf ihre Pritsche und über den Schlafsack gelegt, trotzdem war die Eiseskälte in ihr hochgekrochen, so dass sie bereits gegen 4 Uhr morgens erwachte. Aber sie war nicht die einige der Talsker, die schon auf den Beinen waren. Einer der jungen Söldner schickte sich an, das Lagerfeuer, das nur noch zu glimmen schien, neu zu entfachen und sie setzten zusammen in einem alten Blechgefäß heißes Wasser auf. Kaffee, ja die beiden setzten sich auf einen riesigen Holzstamm direkt an der Feuerstelle und tranken in langsamen Zügen das schwarze Gebräu. Gwinevere spürte, wie das heiße Getränk und die Hitze des Feuers wieder die Wärme zurück in ihren Körper brachte. Lustig fand sie, dass am Vorabend keiner genau wusste, wann denn nun outtime war. Es war schon kurz vor Mitternacht gewesen und noch immer fragten sich einige Leute, ob denn nun schon Spielende sei. Es wurde ein riesengroßes Feuer angezündet, alle Teilnehmer kamen, um sich zu wärmen, brachten Met, Wasser, Wikingerblut, kleine Leckereien…….der Spielmann hatte seine Gambe gegen eine Gitarre ausgetauscht, die Seiten des alten Instruments hatten sich durch die feuchte Luft leicht verzogen, so dass nun ein Spielen darauf unmöglich war. Nur wenn die Saiten richtig gestimmt sind, kann auch das Lied rein erklingen. Die Gitarre erfüllte diesen Zweck.
Sie war dankbar, dass die Talsker Wölfe ihr damals Einblick in ihre Spielwelt gewährt hatten. Ein unvergessenes Abenteuer, das ihr viel Spaß bereitet hatte.
Fee und Thorsten hatten zu einer Hochzeits-Con auf Burg Steineck am Rhein eingeladen. Sie war als edle Dame gewandet , in ein schwarzes Samtkleid gehüllt, das sie sich selbst zu diesem Anlass genäht hatte, verziert mit einem grünen Y-Gürtel, sie trug Biese und Gebände. Außerdem hatte sie aus dem Fundus einen schwarzen Wollumhang erhalten, der mit einer silbernen Fibel versehen war. Etwas zu lang war der Mantel gewesen. Sie war damals auf der obersten Stufe des Rundturms auf ein Stück des Wollstoffes getreten, ehe sie sich versah, purzelte sie die steinerne Treppe von ganz oben hinunter. Wie durch ein Wunder hatte sie damals nicht eine Schramme davongetragen. Sie war von einem Schwertmeister in die Kunst des Schwertkampfes mit Kurz- und Langschwert eingeführt worden. Die Galgenvögel sangen ihre Lieder, mit den beiden Sängern hatte sie sich in dieser Zeit angefreundet und outtime gut verstanden. Auch war da eine Söldnertruppe zugegen, die den Drachen als Zeichen der Kraft mit sich führten. Sie war damals während des Spiels in ein Gespräch mit den Söldnern vertieft gewesen, als sie aufgefordert wurde, wieder ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen „es geziemet sich nicht für die edle Dame mit dem niederen Volke zu verkehren“…Mittelalterliche Tänze wurden gelehrt, es gab einen Minnesangwettbewerb, Bogenschießen und natürlich die Hochzeit von Thorsten und Fee, auch die Standesbeamtin war kurz zugegen und vollzog die amtliche Trauung. Das einige Reale tagsüber war diese Zeremonie. Es gab auch Elben, die doch tatsächlich in Mittelhochdeutsch miteinander kommunizierten. Das war ihr dann doch etwas zu professionell und auch sie hatte sich genau an vorgegebene Regeln zu halten, was ihr manches Mal überhaupt nicht passte. Schön war deshalb die Outtime-Zeit, da wurden dann Songs von Led Zeppelin – Stairway to Heaven, John Lennon – Imagine, Bon Joyi – This is my Life usw. von den „Galgenvögeln“ auf der Gitarre zum Besten gegeben. Sie saß neben einem der schwarzgekleideten Söldner, der ihr dann überraschenderweise und schon spät am Abend seinen Atem an Ohr und Nacken blies. Ein Schauer überfiel sie und Ihre Haare an den Armen stellten sich auf. Ja, sie erinnerte sich an diesen netten jungen Mann. Er war aus München angereist. SAP-HR war sein Fachgebiet im realen Leben. Sie hatten sich sehr lange unterhalten an diesem Abend.
Alles in allem war auch dieser Ausflug ins Mittelalter sehr schön und lehrreich gewesen. Und doch, dies war nicht das finstere Mittelalter der Wirklichkeit. In der Nacht vor der Heimfahrt träumte sie sich in die Zeit des 12. und 15. Jahrhunderts hinein. 1492, die Türken waren in Europa eingefallen, hatten die Seidenstraße blockiert. Königin Isabella von Spanien hatte große Festungen gegen die Türken errichten lassen, nun hatte die Kirche auch anerkannt, dass die Welt keine Scheibe sondern eine Kugel war. Martin Beheim hatte in diesem Jahr den ersten Erdapfel gebaut und die erst neu entdeckten Gebiete, von den Spaniern und Portugiesen erobert, eingezeichnet. Die Eroberung Ägyptens durch das osmanische Reich. Auch die Pest hatte in Europa gewütet, ach ja, die Anfänge Martin Luthers, er studierte zu dieser Zeit am Magdeburger Gymnasium, Christoph Kolumbus, der auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien auf die Neue Welt - Amerika – gestoßen war. Es begann bereits das große Fischsterben in Europa. Damals war der Fisch die Lebensgrundlage der armen Leute, Wild zu jagen, war ihnen strengstens verboten - und die Gewässer waren anfangs noch voll davon. Aber die Menschen bauten ihre Wassermühlen und versperrten die Laichplätze, also selbst schuld, könnte man sagen. Das war die Zeit der Künste, die Zeit der Genies – Leonardo da Vincis, Michelangelos, Sandro Boticellis. Sie war in ihren Träumen zu Leonardo gereist, hatte sich das „Rad des Lebens“ erklärten lassen und auch das Bildnis der „Geburt der Venus“. 1494 die Geburtsstunde Suleymans, den sie sehr bewunderte.
Oder das 12. Jahrhundert, die Zeit von Richard Löwenherz, sie hielt sich einmal längere Zeit in Speyer und Bad Bergzabern auf und hatte sich die nahegelegene Burg Trifels - beziehungsweise was von der Stauferburg noch übrig war, angeschaut. Dort hatte also Richard im Verlies gesessen und wurde dann gegen Lösegeld freigelassen. Ja, Richard war vorher in Österreich gefangen genommen worden.
Sie war sich nicht ganz sicher, aber war es nicht auch Barbarossa, der auf dem gleichen Feldzug teilnahm wie Richard? Sie sollen sich allerdings nie begegnet sein.
Sie stöberte im Koffer, denn sie hatte nicht alle Kleidungsstücke ausgepackt, und fand ein leichtes rotgebatiktes Sommerkleid, das sie sogleich überzog. Dann machte sie sich auf in eine Cafe-Bar am Strand. Eigenartige Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Was, wenn man tatsächlich in andere Bewusstseinssphären durch Träume und Trance reisen kann. Sie entschied sich, einige ihrer Träume in ein Esoterik-Forum zu stellen und bekam Hilfe von einem Druiden, der sich im Forum Merlin nannte. Sie war sehr erstaunt darüber, wie er ihre Träume interpretierte und durch ihn kam sie an das Buch „Das heilende Bewusstsein“ heran. Sie hatte allerdings nur die ersten 10 Seiten durchgelesen und sah dann doch im Inhaltsverzeichnis nach, um dann direkt die Rubrik Träume aufzuschlagen. Das hatte sie dann davon überzeugt, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde geben muss, die mit dem Verstand nicht unbedingt erklärbar waren. Ja, für sie war das Erlebte nun nicht nur in der Phantasie existent. Sie glaubte nun an diese Reise in die Parallelwelt, egal, was andere nun über sie denken würden. ….telling you no disguise…