Das ist zunächst ein Anspruch, der aber nicht der Realität entspricht. Ist es nicht so, dass die Gnostiker ebenfalls für sich den Anspruch erheben, die alleinige Wahrheit in Händen zu halten? Wenn ich hier die Beiträge zum Gnostizismus lese, habe ich nicht den Eindruck, dass es da keine Dogmen gäbe. Mag sein, dass es dazu unterschiedliche Strömungen gibt, sie werden aber meist mit einem gemeinsamen Konsens verbunden. Ich sehe da also keinen großen Unterschied zwischen den Christen und den Gnostikern, beide beziehen sich auf das geschriebene Wort.
Glaubt ihr wirklich, mit dem Gnostizismus würde alles besser werden: Ich glaube nicht – es wird eher komplizierter und unüberschaubarer. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass ich damit glücklich werden könnte. Muss ich erst diese schwere Kost zu mir nehmen, um ein besserer Mensch zu werden? Es ist von Geheimwissen die Rede, also möchte man sich abgrenzen, über andere erheben und den berühmten Schlüssel in Händen halten:
Lukas 11[52] Wehe euch Schriftgelehrten, denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen. Ihr kommt nicht hinein und verwehrt es denen, die hineinwollen.
Auch wenn ich mich nicht als Christ verstehe, so steht mir der Mensch Jesus näher als die Begrifflichkeit eines Lichtäons. So wie es Zarathustra, Jesus und einige anderen nicht gelang, das Leid der Weltseele zu überwinden, so wird es auch nicht dem Gnostizismus gelingen.
Dieses Leid ist nicht überwindbar, wir können uns nur bemühen, dieses ihm Rahmen unserer Möglichkeiten in Grenzen zu halten. Das Gute, die Nächstenliebe, Toleranz, Mitgefühl und unser Tun ist das, was wir dem Leid entgegenstellen können. Wenn es uns schon nicht gelingt, die große Welt da draußen zu retten, sollten wir zumindest versuchen die kleine Welt in uns selbst zu retten:
"Es kann von uns nur das ausgehen, von dem wir auch erfüllt sind!“
Merlin
Das mit der Wahrheit ist kompliziert. Ich glaube, jeder, der von einer Religion, einer Lehre oder einer Weltanschauung überzeugt ist, erhebt den Anspruch, die Wahrheit gepachtet zu haben. Schau Dich zum Beispiel in diesem Forum selbst um. Gnostiker sind nicht dogmatisch. Gegenmeinungen werden nicht von einer zentralen Instanz, wie z.B. eine Kirche, überwacht oder als häretisch verworfen, denn es gibt keine Kirche, keine Priester und keinen Papst. In Gegenteil: Es wurden im Laufe der Geschichte immer die Gnostiker als Häretiker betrachtet, ausgegrenzt und aktiv verfolgt, eingekerkert und sogar niedergemetzelt (Manichäer, Mandäer, Sufis, Katharen, etc.)
Der gnostische Gedanke ist zugegeben unüblich, da es nicht in die gängigen Gedankenmuster passt, aber man kann sich durchaus eine Meinung bilden, wenn man bereit ist, sich in die Materie einzulesen, aber ist es nicht so bei allem, was einen interessiert? Bis 1945 waren die Hauptquellen die Schriften von Gegnern der Gnosis, wie Irenäus, Tertullian und andere Kirchenväter. In diesen Schriften wird die Gnosis detailliert beschrieben, um sie ... besser zu kritisieren. Das war so, als würde man erfahren, was jemand denkt, durch die Worte dessen Ankläger in einem Gericht.
1945 wurden aber in Nag Hammadi (Ägypten) an die 50 gnostische Schriften entdeckt, die ein viel authentischeres Bild der Gnosis wiedergeben. Es gibt daher kein Geheimwissen. Heutzutage kann jeder diese Texte im Internet lesen und sogar die Rosenkreuzer, die viele von der Gnosis übernommen haben, halten öffentliche Vorträge ab. Es wirklich das Gegenteil von dem, was Du mit der Lukas-Verse beweisen willst.
Das Ziel der Gnosis ist nicht, diese Welt besser zu machen oder das Individuum glücklicher zu machen – Das kannst Du vielleicht im Buddhismus finden – Diese Welt ist fehlerhaft (wie „eine Leiche“, sagt Jesus im Thomasevangelium) und unser Geist lebt in dieser Welt wie in der Fremde, weil unser Geist besseres verdient hat, auf einer weit höherer Ebene in der geistigen Welt. Darum hat die Gnosis das Ziel, grob gesagt, dem Geist eine Road Map anzubieten, um den Weg zum Vater des Alls zu finden und sein Reich des Lichtes zu erreichen, ohne weitere Reinkarnationen durchgehen zu müssen.
Jesus hat nie von einem Reich auf dieser Welt gesprochen, wo alle glücklich leben können, sondern von einem Reich Gottes, das das Gegenteil von dieser Welt ist.
Johannes 18,36: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.“
Matthäus 10,34: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“
Dazu die vielen Parabel, wo er Beispiele für das Reich Gottes schildert.
Ich weiß nicht, was Du mit „schwere Kost“ meinst. Glaubst Du, dass Gnostiker besonders asketisch leben, sich nur von Brot und Wasser ernähren und allgemein unglücklich sind? Das kann ich Dir von meiner Warte aus nicht bestätigen, aber Du hast vielleicht andere Erfahrungen gemacht.