Verstehen ohne Gefühl geht nicht, Simi, auch wenn Du das noch so sehr trennen möchtest. Das allumfassende Geliebtwerden kennt keine Trennung - von nichts.
Es gibt ein Verstehen, das Gefühle integriert hat, und ein Verstehen, das Gefühle nicht integriert hat. In beiden Fällen ist das Verstehen von Gefühlen nicht getrennt - aber nur das eine Verstehen ist ein reifes Verstehen.
Ken Wilber nennt das "Prä-/Trans-Verwechslung".
Eine Person, die Liebe sucht, und sie nicht von Gefühlen trennen kann, wird immer fälschlicherweise besonders angenehme Gefühle für Liebe halten und unangenehme Gefühle für das Fehlen von Liebe. Sie wird glauben, es bedürfe besonderer äusserer Umstände, damit Liebe sich einstellen könne. Und darum wird sie viel daran setzen, diese Umstände herzustellen. Durch ein schönes Heim, eine zärtliche, gefühlvolle Partnerschaft usw.
Das ist alles in keiner Weise schlecht oder falsch oder zu verurteilen. Es ist ein ganz normales Verhalten.
Aber irgendwann wird jeder dieser Versuche enttäuscht werden. Weil er sich immer auf die Prämisse verlässt, dass die Umstände richtig sein müssen, damit Liebe da sein könne.
Wenn das eingesehen wird, dann tritt üblicherweise zuerst Zweifel und dann eine Krise auf, die durchaus die psychosomatischen Symptome aufweisen kann, die Simi weiter oben aus eigener Erfahrung beschrieben hat. Die Erkenntnis dieser Krise lautet: "Ich bin nicht fähig zu lieben. Ich würde zwar gerne, aber ich weiss gar nicht, wie das geht." Es wird erkannt, dass alles, was bisher getan wurde, ein Versuch war, die äusseren Umstände herzustellen, damit "ich geliebt werde". Da ein Mensch aber niemals sämtliche äusseren Umstände kontrollieren kann, ist die empfangene Liebe ständig abhängig, unstet und in Gefahr.
Die Sache muss also umgekrempelt werden: Anstatt "Ich möchte geliebt werden." hin zu einer Herzensentscheidung "Ich will lernen zu lieben." Das ist eigentlich der Schritt von der Unmündigkeit des Kindes, das von der Liebe anderer (zuerst die Eltern, später der Partner) abhängig ist, zur Fähigkeit, aus eigenem Entschluss andere zu lieben.
Es ist klar, dass hier angenehme oder unangenehme Gefühle keine wichtige Rolle mehr spielen, einfach weil die Person eine Entscheidung getroffen hat, die sich davon nicht beeinflussen lässt.
Natürlich haben angenehme Gefühle durchaus ihren Platz und eine reife Liebe wird weder die angenehmen noch die unangenehmen Gefühle verstossen und sie beide gleichermassen würdigen. Aber sie ist unabhängig vom Vorhandensein von angenehmen Gefühlen und auch unabhängig vom Einfluss von unangenehmen Gefühlen.
Mit der Entscheidung alleine ist es aber noch nicht getan. Die Entscheidung muss ausgedehnt werden auf alle Lebensbereiche - Partnerschaft, Erziehung, Beruf, Sexualität, Bildung usw. Es ist natürlich, dass es nicht in jedem Lebensbereich auf die gleiche Weise einfach fällt, das zu tun. Manche Menschen haben schon sehr früh eine reife, unabhängige Partnerschaft, in welcher sie in der Lage und willens sind, eine reife Liebe zu praktizieren. Gleichzeitig sind sie in anderen Lebensbereichen, vielleicht in der Sexualität oder im Beruf, noch immer in ihren alten Vorstellungen gefangen.
Der Mensch ist ein mehrdimensionales Wesen und seine Entwicklung folgt nicht einfach einer simplen Gerade, sondern es sind mehrere Dimensionen und mehrere Linien, die nicht vollständig unabhängig aber auch nicht vollständig abhängig voneinander in Spiralen entwickelt werden.
Nun hat gibt es aber noch eine noch tiefere Dimension der Liebe. Ein Mensch, der selbst zu einem gewissen Grade eine innere Reife erlangt hat, wie ich es vorher beschrieben habe, wird irgendwann automatisch erkennen, dass er nicht vollständig zufrieden sein kann, solange er andere in ihren Mustern und falschen Vorstellungen gefangen sieht. Dies ist die Basis altruistischen Handelns (die sich folglich auf Unabhängigkeit von angenehmen oder unangenehmen Gefühlen stützt). Im Buddhismus drückt sich dies durch das Boddhisatva-Gelübde aus, allen Lebewesen zu dienen und die Lehre zu verbreiten, bis das Leiden beendet ist.
Diese Liebe ist zwar noch reifer und noch tiefer, aber sie ist noch immer nicht frei vom Wunsch zum Guten. Diese Liebe ist immer noch in gewissem Sinne abhängig.
Eine noch tiefere Dimension der Liebe ist die (noch später allenfalls folgende) Erkenntnis der Güte selbst im Schmerz, Gefangensein, Leiden nicht nur aller anderen aber auch von sich selbst. Erst mit dieser Erkenntnis ist eine Person in der Lage, auch tiefen seelischen Schmerz einigermassen bereitwillig anzunehmen. Auch diese Liebe wünscht sich das Gute, aber sie ist nicht mehr abhängig von diesem Wunsch.
Und es gibt noch tiefere Dimensionen.