Über Bert Hellinger und seinen Dienst an der Versöhnung zwischen Tätern und Opfern
Prof. Dr. Haim Dasberg
Der folgende Text ist das Geleitwort von Prof. Dr. med. Haim Dasberg aus Jerusalem zu Bert Hellingers Buch "Rachel weint um ihre Kinder", das 2003 im Herder Verlag erschienen ist.
Zum ersten Mal begegnete ich Bert Hellinger während des Europäischen Kongresses über die Folgen von Traumata in Maastricht im Jahre 1997.
Ich hatte auf diesem Kongress eine Arbeitsgruppe angeboten im Namen von AMCHA, dem "Nationalen Israelischen Zentrum für die psychosoziale Betreuung von Überlebenden des Holocaust und ihrer Nachkommen". Vor mir saßen alte Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebt hatten, und ich sah ihre nicht enden wollende Trauer und ihren im Alter sich immer häufiger zeigender Zusammenbruch. Ich fragte mich dabei: Kann ihre traumatische Vergangenheit noch aufgearbeitet werden und ist das überhaupt therapeutisch möglich und wünschenswert?
Während ich über dieses Dilemma nachdachte, wurde meine Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt, das im daneben liegenden Hörsaal vor sich ging. Bert Hellinger zeigte dort eine Familienaufstellung.
Ich trat ein. Zuerst kam mir das alles seltsam vor. Dann geriet ich ins staunen und war am Ende bewegt.
Seitdem war ich bei vielen Familienaufstellungen anwesend und habe ihre Wirkung an mir selbst erfahren. Sie eröffnen einen Zugang zu lange eingefrorenen Gefühlen, die nach dem Verlust der vielen Angehörigen im Holocaust sich zeigen und gelebt sein wollten, die aber zurückgehalten und verdrängt wurden. Hier konnten sie auftauen und erfahren werden. Die toten Angehörigen kamen wieder in den Blick und die Liebe zu ihnen und die Trauer um ihren Verlust wurden tief gefühlt.
In den Aufstellungen werden diese Gefühle geachtet und dürfen sich zeigen. Am Ende sind die Lebenden mit den Toten und deren Schicksal versöhnt. Sie können ihm zustimmen, wie es war, jetzt nach 50 und noch mehr Jahren, wie in diesem Buch bei den Opfern und den Überlebenden des Zweiten Weltkriegs dokumentiert.
Das Buch (aus dem dieses Vorwort stammt, HJR) trägt den Titel "Rachel weint um ihre Kinder". Rachel war von den vier Frauen unseres Stammvaters Jakob - auch Israel genannt - die ihm am liebsten und nächste. Sie starb bei der Geburt ihres zweiten Kindes in der Nähe von Bethlehem auf dem Heimweg in das Heilige Land und wurde am Wegrand begraben statt in der Grabstätte der Familie in Hebron. Deswegen hat sie nach der Tradition bis heute noch keinen Frieden gefunden.
Jakob übertrug seine besondere Liebe für Rachel auf ihren Sohn Joseph. Deshalb wurde dieser von seinen Brüdern aus der Familie ausgeschlossen und nach Ägypten verkauft, wo er in einem Gefängnis landete und für seine Familie tot war - verloren für immer.
Viel später, obwohl Joseph inzwischen zum Vizekönig des Pharao und zu seinem Finanzminister aufgestiegen war und Ägypten als neue Heimat angenommen hatte, fühlte er sich unglücklich und sehnte sich nach seinem Bruder Benjamin, der mit ihm die gleiche Mutter hatte.
Tausend Jahre später, in den Worten des Propheten Jeremias, weinte Rachel immer noch für ihre verlorenen Kinder, war nicht zu trösten und wartete auf ihre Rückkehr (Jr. 31:14). Auch heute weint sie noch und
wartet ...
Das erste Seminar über Familienaufstellungen in Israel hat Bert Hellinger im Jahr 2000 in Tel Aviv angeboten. Das war drei Jahre nach unserer ersten Begegnung in Holland, eine lange Inkubationszeit, wie sie auch nach Aufstellungen sich oft als notwendig erweist.
Dann, im Mai 2003, besuchte ich den Vierten Internationalen Kongress über Familien- und Systemaufstellungen in Würzburg, einer schönen mittelalterlichen Stadt, ein Wahrzeichen deutscher Geschichte und Kultur.
Wie es der Zufall wollte, kam ich nach Deutschland an dem Tag, da Israel feierlich der Opfer des Holocaust gedenkt und die Überlebenden ehrt.
Es war auch kurz nach dem angloamerikanischen Krieg gegen einen heutigen Diktator, der zum Genozid fähig und bereit war, ein Krieg der zu vielen Kontroversen in Europa und anderswo in der Welt Anlass gegeben hatte.
Ich war an diesem Tag angespannt und ängstlich, weil ich wie bei früheren Besuchen in diesem Land ich unfreundliche und kritische Reaktionen mir gegenüber erwartete, ich, ein ehemaliger europäischer und jetzt israelischer Jude. Am gleichen Tag jedoch kaufte ich mir ein Photoalbum, einen Bildband über das schöne Würzburg, und fand darin ein Bild, das die totale Zerstörung dieser Stadt durch 235 englische Flugzeuge zeigte, in einem Angriff von nur 17 Minuten am 16. März 1945.
Was ging in mir vor, als ich auf dieses Bild schaute mit den verwüsteten Straßen dieser Stadt an diesem Tag?
Eine Mischung entgegengesetzter Gefühle - von Sieger und Unterlegenem, von Rächer und Opfer, von Schmerz und von Trauer für die Toten auf allen Seiten. Ich war berührt und mir kamen die Tränen. Gleichzeitig wurde ich mir bewusst, was für ein schöner Frühlingstag es war.
In den Familienaufstellungen, die in diesem Buch beschrieben werden, zeigt Hellinger: Wenn die Stellvertreter beider Seiten - der Täter und der Opfer - aufeinander zugehen und gemeinsam über die Toten trauern und weinen, entsteht vor ihren Augen und in ihrem Herzen ein Bild wie die Versöhnung zwischen ihnen gelingt und wie ein Kreis sich endlich schließt.
Ich habe die große Hoffnung, dass diese Erfahrungen auch über die Grenzen des Familien-Stellens hinaus auf einer höheren und umfassenderen Ebene wirksam werden.
Als ein Israeli, der von Bert Hellinger viel gelernt hat, lege ich dieses Buch den Lesern wärmstens ans Herz. Ich bin froh, dass ich die Gelegenheit hatte, an mir selbst die Wirkung des Familien-Stellens zu erfahren.
Bert, ich danke dir und ich danke auch Peter Scott, Eyal und Dr. Yasmin Guy, Michaela Kaden und Harald Hohnen.
Jerusalem, im Juni 2003
Prof. Haim Dasberg