Wissenschaftsbegriff der Neuzeit, insbesondere der Naturwissenschaften, beruht darauf, daß man komplexe Zusammenhänge in einfache Elemente zerlegt und aus dem Einfachen das Komplexe wiederzusammensetzt.
Naja, da gibt es dann schon auch andere Strömungen, die von manchen als "Komplexitätswissenschaften" zusammengefasst werden - am bekanntesten wohl die Chaostheorie, aber daneben auch etliche andere Spielarten wissenschaftlichen Arbeitens, die allesamt darauf verweisen, dass eben genau diese Versuche, aus der atomisierten Vereinzelung wieder ein Ganzes basteln zu können, zu fehlerhaften Theorien und zu fehlerhaften experimentellen Ergebnissen führen.
Im Grunde, wenn der kritische Rationalismus Poppers tatsächlich ernst genommen würde, müsste ein nicht geringer Teil der Wissenschaft wegen permanenter Falsifizierung abdanken ... aktuelles Beispiel die merkwürdig auseinanderdriftenden Expertenmeinungen zum Klimawandel. Die kratzen dann - ganz ähnlich wie die Astrologen bei misslungenen Ereignisprognosen - die Kurve, indem sie mit der Unvollkommenheit ihrer Daten operieren und behaupten, wenn sie nur noch genauere, ins Detail gehende Messergebnisse hätten, dann könnten sie schon... demgegenüber hat Edward Lorenz, Begründer der Chaostheorie, schon in den 1960ern die prinzipielle Unmöglichkeit der exakten Prognose für selbstreferenzielle, nichtlinear organisierte Systeme postuliert ... und aus genau solchen Systemen setzt sich das zusammen, was in der Evolution sich entwickelt.
Lineare, prognostizierbare Systeme haben ihre Gültigkeit für Laborsituationen, für abstrahierte Modelle, für Modellbahnwelten von Wirklichkeit, aber kaum irgendwo für die Wirklichkeit selbst. Das Dilemma ist, dass Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sich mit den Komplexitätsformen noch relativ schwer tun. Das hat auch mit dem Jahrtausende altem Vorrang abendländischen Denkens in dem zu tun, was heute Wissenschaft ist und sich in vielem dogmatisch gebärdet wie "Wissenschaftskirche". Im Prinzip gibt es ja sowohl in der Tradition der Alchimie wie auch in östlichen Welt-Bildern durchaus Ansätze, die für die Entwicklung neuer wissenschaftstheoretischer Fundamente fruchtbar gemacht werden können. Von Erich Fromm über Fritjof Capra bis zu Varga von Kibed gibt es da genug viel Spannendes zu lesen. Ist ja nicht so, dass da niemand dran denken würde...
Und das ist nicht nur graue Theorie, sondern für mich auch hinsichtlich der Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Astrologie bedeutsam. Wenn ich Astrologie eher den Komplexitäts-Modellen zuordne, dann werden auch die Axiome solcher Weltsichten zu beachten sein - etwa die Abkehr von der linear interpolierten Prognose und die Hinwendung zur Betrachtung von Prozessen unter Aspekten ihrer Gestalt (beispielsweise), wie es bei der Betrachtung von fraktalen Symmetrien der Fall ist und in vielen Anwendungsbereichen ja auch ganz konkret genutzt wird - Bionik zum Beispiel oder weite Bereiche von Systemtheorie.
Interessant ist da für mich zum Beispiel der "chaotische Determinismus", den ich für wesentlich intelligenter und nachvollziehbarer halte als die fatalistisch-deterministische Ausprägung (die in letzter Konsequenz unter anderem ja auch das Ende jeglicher Eigenverantwortung und Moral bedeuten würde, wenn wir schon über die Ränder der Suppenteller plaudern...). Im chaotischen Determinismus gibt es nichts, was zufällig geschieht. Jedes Ereignis kann hinsichtlich seiner auslösenden Faktoren zurückverfolgt werden, beruht auf einer lückenlosen Kausalkette. Was daran chaotisch ist? Zu jedem Zeitpunkt dieser Kausalkette hätte es auch Varianten, Alternativen gegeben, die dem laufenden Prozess eine andere Richtung gegeben hätten. Der "Flügelschlag eines Schmetterlings" kann die Wettersituation auf weite Sicht in eine ganz andere Richtung lenken. Manche sehen das als Hereinnehmen des Zufalls durch die Hintertür, manche sehen das als den Eingriffspunkt von Freiheit - wobei ja auch die Wahlmöglichkeiten limitiert sein mögen.
Solche Limits, solche Ordnungselemente im Chaos sind bekannt, ob als Fraktale, ob als Feigenbaum-Konstante, ob seit Jahrhunderten als Fibonacci-Reihe... und meines Erachtens ist das auch der Gegenstand von Astrologie: Strukturen, Ordnungen im Chaos von Wirklichkeit zu beschreiben - methodisch geht das ganz wunderbar mit fraktalen Ansätzen zusammen, letztlich eine aktuelle Form des "wie oben, so unten": fraktales Denken par excellence. Und das beschriebe dann im deterministischen Chaos auch die Möglichkeiten und Grenzen von Astrologie: das plausibel Herleitbare ebenso wie das innerhalb einer "Gestalt" mit Wahlfreiheit ausgestattete Element, das Evolution ermöglicht (die, wie Shimon hingewiesen hat, immer auch von einer ganz konkreten Situation mitbestimmt und begrenzt ist und sowohl idealtypisch als auch konkret handlungsbezogen konstruiert werden kann).
Alles Liebe,
Jake