schwere Behinderung - systemisch betrachtet

Hallo Jo,

Wenn ich richtig verstehe, sind offene Gespräche kaum möglich...über das, was spontan als Thema gerade da ist. Schade. Meinst du, in Internetforen oder anderswo wäre das doch möglich ? Vielleicht gibt es Elternrunden in denen das offener möglich ist.

Ich war in einer Selbsthilfegruppe, war in Internet-Foren/Groups, doch sie denken alle völlig anders als ich. Sie legen Wert auf eine "Auszeit" ohne Kind natürlich. Und es ist ihnen wichtig, dass ihr Kind gefördert wird. Das ist aber der springende Punkt: es gibt nichts mehr zu fördern bei meiner Tochter. Da gab es ein Thema an "Förderung", das dazu geführt hat, dass meine Tochter sich rückwärts entwickelt hatte und dass sie panische Angst in diesen Situationen hat. Ich habe schon viel zu viel ausprobiert, als dass ich mein Kind noch einmal solchen Betreuern ("Fachleute") aussetze.


Weiter oben hast du ja von deiner Schwiegermutter geschrieben. Meinst du es ist so im Sinne von...aus den Augen, aus dem Sinn ?

Genau so ist es. So werden wir mittlerweile alle behandelt. (und nicht nur meine Tochter)

Scheint, als wären viele Leute in deiner Umgebung sehr unsicher im Umgang mit dem Thema Behinderung.

Meine Einstellung ist völlig verschieden zu der üblichen. Ich sage: Ich nehme mein Kind überal mithin. (Einkaufen, Ausflüge etc.) Die anderen lassen ihre Kinder daheim. Ist es der Sinn einer Behinderung, dass der Mensch, der sie hat, sich nur noch im Haus aufhalten kann? Das wäre für mich "eingesperrt sein" - Freiheitsberaubung.


@ Walter,

Ich bin ratlos, wie ich mein Schicksal annehmen kann.
(Weiter unten im Text hast du vier Fragen gefunden, die ich mir eigentlich auch noch dazu stellen könnte/müsste.)


Und dann vergeht die Stimmung wieder, und man denkt nicht mehr dran. Für Eltern behinderter Menschen kann dies innerlch als Hochverrat am eigenen Kind erlebt werden.

Das hast du super erkannt.
Warum ist es nicht möglich ein schwerstkrankes Kind ganz normal zu behandeln? Über diesen "Hochverrat" habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, ob es Wege gibt, dies zu ändern.


Ist sie Dir wirklich ausgeliefert - oder nicht (zumindest auch) Du ihr ?

Berechtigte Frage und auch wieder korrekt - beides kommt vor. Solange sie mir ausgeliefertist, bin ich die Starke, ist es umgekehrt, werde ich klein und hilflos. Ich denke mal, dass das mit dem "Schicksal annehmen" zu tun hat, wo ich derzeit nicht weiß, wie das geht.


Wie ginge es Dir, wenn Du kein behindertes Kind hättest - ohne die Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ? Würdest Du Dich anders als "die Menschen" verhalten ?

Dann hätte ich noch meinen "Schein". Und ich könnte leichter weggucken. Ich könnte mich an andere anhängen oder das tun, was mir gefällt (aber das mache ich eh´). Ich würde noch offen auf die Menschen zugehen, wo ich mich seit einiger Zeit völlig zurück gezogen habe. Ich habe keine Lust mehr darauf, erneut verletzt zu werden und abgewiesen zu werden, obwohl das in der Familie an Festtagen stets zu spüren ist. Ganz ausweichen kann ich immer noch nicht. Das ist wohl auch nicht die Lösung. Es kann aber auch nicht die Lösung sein, dass wir vier eine Insel bilden und der Rest der Menschheit würde dann dem Meer entsprechen.

Liebe Grüße pluto :kuss1:
 
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Liebe Pluto,

Noch etwas - höchstwahrscheinlich seid Ihr schlicht und einfach auch ausgebrannt : http://de.wikipedia.org/wiki/Burn-out-Syndrom .

Zu Deinen "Warum"-Fragen : die stellt sich ja fast jeder, der Extremsituationen kommt. Bei schweren Erkrankungen, Tod eines Partners oder Kindes, etc. - automatisch entsteht die Frage : "Warum ich?" "Warum passiert das mir ?"

Man könnte genauso auch anders fragen : "Warum ich nicht ?", "Warum sollte gerade ich davon nicht betroffen werden ?"

Es ist seltsam, im Grunde gehen die meisten von uns davon aus, dass das eigene Leben gut verlaufen wird (zb. die eigene Ehe etc.) - dass uns das gleiche Leid treffen könnte wie so viele Menschen um uns, das blenden wir üblicherweise aus und sind dann im Ernstfall völlig unvorbereitet.

Es gibt ja auch die anderen "Warum"-Fragen : warum lebe ich mit gesunden Gliedmaßen im wohlhabenden Österreich und bin kein Minenopfer-Krüppel in einem Bürgerkriegsgebiet, warum lebe ich in einer langen Friedensperiode und nicht in einem KZ der Nazizeit etc. etc.

Liebe Grüße, Reinhard
 
Es kann aber auch nicht die Lösung sein, dass wir vier eine Insel bilden und der Rest der Menschheit würde dann dem Meer entsprechen.
Es ist anscheinend der Status Quo - wie bei vielen anderen Menschen in existentiellen Belastungssituationen (Arbeitslosigkeit, Depression etc.). Die Frage ist, was wollt Ihr statt dessen und wie kommt Ihr dort hin. (Und wie kommt Ihr zu der nötigen Kraft und Unterstützung, um Veränderungen einzuleiten).

Liebe Grüße, Reinhard
 
Hallo Reinhard,

für deine achtende Art und Weise mir zu antworten, bin ich dir überaus dankbar. Gerade bei diesem Thema habe ich mich mehr so gefühlt: :nudelwalk (von anderen immer nur geschlagen und sie wissen ja eh alles, was gut für mich ist. Manche Aufsteller mit eingeschlossen.)

Ja, ausgebrannt bin ich, wahrscheinlich auch mein Mann, denn er arbeitet 3-Schichten und ist auch nur begrenzt ansprechbar. Meine jüngste Tochter, die mir immer eine große Hilfe war, ist jetzt in einem Alter (21 J.), da sie erst einmal ihren eigenen Weg finden muss. Und ihre wenige Freizeit will ich als Mutter nicht auch noch mit ihrer kranken Schwester verplanen.


Es gibt ja auch die anderen "Warum"-Fragen : warum lebe ich mit gesunden Gliedmaßen im wohlhabenden Österreich und bin kein Minenopfer-Krüppel in einem Bürgerkriegsgebiet, warum lebe ich in einer langen Friedensperiode und nicht in einem KZ der Nazizeit etc. etc.

Diese Sichtweise ist mir bekannt. Wir können noch froh sein, in einem Industriestaat zu leben. Vor ein paar Jahren habe ich einen Film von Tibet gesehen, wie es da schwerst geistig behinderten Menschen ergeht: sie wurden auf dem Dachboden versteckt. Dieser Mensch hatte noch nie Tageslicht oder die Natur gesehen. - Dabei gibt es ein großes ABER: Beginne ich mich mit diesen Verhältnissen zu vergleichen, werde ich überheblich. Kraft gibt mir diese Denkweise keine, mir kommt es fast vor, dass sie mir sie sogar nimmt.


Die Frage ist, was wollt Ihr statt dessen und wie kommt Ihr dort hin. (Und wie kommt Ihr zu der nötigen Kraft und Unterstützung, um Veränderungen einzuleiten).

Was ich will: dass meine Meinung akzepiert wird, dass es meiner Tochter daheim besser ergeht als in irgendeiner Betreuung. Und dass die Menschen (vor allem Verwandte) meine Tochter so akzeptieren wie sie ist, mit all ihren Ekligkeiten. Schon allein der Gedanke daran, dass dem nicht so ist, macht mich müde.

Die anderen werden sich nicht ändern. Ändern kann ich nur mich. Vielleicht ist diese Ablehnung auch systemisch bedingt und meine Tochter und ich sind bloß das Tüpfelchen auf dem i, um ja nicht hinschauen zu müssen, wie es um das eigene Gefühl des Ausgeschlossenseins geht. (soweit ich derzeit mit Aufstellungen gekommen bin, ist das ein ganz großes Thema, das sich durch alle angehörigen Familien zieht).

Liebe Grüße pluto
 
Was ich will: dass meine Meinung akzepiert wird, dass es meiner Tochter daheim besser ergeht als in irgendeiner Betreuung. Und dass die Menschen (vor allem Verwandte) meine Tochter so akzeptieren wie sie ist, mit all ihren Ekligkeiten. Schon allein der Gedanke daran, dass dem nicht so ist, macht mich müde.

Die anderen werden sich nicht ändern. Ändern kann ich nur mich.
Liebe Pluto,

So verständlich Dein Wunsch ist - Du bleibst mit ihm Gefangene des Systems. Ausserdem beißt sich da die Katze in den Schwanz : Wenn man die Bewertungen wegläßt und das auf die Grundvorgänge verdichtet, akzeptieren sie Dich nicht, wie Du bist - und Du akzeptierst sie nicht, wie sie sind. Das ist das Paradoxe, Du erwartest von anderen etwas, was Du selbst nicht tust. (So verständlich das auch ist - damit verfestigst Du das System, an dem Du leidest.) Das System durchbrechen würde höchstwahrscheinlich, wenn Du ihre Nicht-Akzeptanz akzeptierst.

Etwas weniger abstrakt ausgedrückt : solange es Dir wichtig ist, von den anderen Familienmitgliedern akzeptiert zu werden, machst Du Dein Wohlergehen von den anderen abhängig. Erst wenn Du sie läßt, wie sie sind und schaust, wie es Dir (Euch) bei den gegebenen Rahmenbedingungen möglichst gut gehen kann, kann Bewegung und Veränderung entstehen.

Wir haben für so was ein schönes Motto : "Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert". Wenn Dir nicht mehr wichtig ist, von anderen akzeptiert zu werden, gewinnst Du Narrenfreiheit. Ein Wesensmerkmal des Narren ist, dass er Systeme zur Kenntnis nimmt (sie nicht zu verändern versucht !) und sie nützt - ohne sich darin zu verstricken.

Liebe Grüße, Reinhard
 
Gerade bei diesem Thema habe ich mich mehr so gefühlt: (von anderen immer nur geschlagen und sie wissen ja eh alles, was gut für mich ist. Manche Aufsteller mit eingeschlossen.)
Seufz - das ist eine Gradwanderung.

Ich merke das immer wieder : aus der neutralen und nicht-involvierten Sicht des Beraters / Therapeuten kann man leicht Möglichkeiten sehen, wie jemand sein Leben einfacher gestalten könnte. Und gleichzeitig weiß ich manchmal : wenn ich selbst in der Lage des Betroffenen wäre, würde ich es wahrscheinlich nicht annähernd so gut meistern, wie dieser Mensch es gerade tut.

LG, Reinhard
 
Hallo Reinhard,

Du erwartest von anderen etwas, was Du selbst nicht tust. (So verständlich das auch ist - damit verfestigst Du das System, an dem Du leidest.) Das System durchbrechen würde höchstwahrscheinlich, wenn Du ihre Nicht-Akzeptanz akzeptierst.

Wie oft habe ich das schon versucht. Sie einfach "links" liegen lassen. Vom Kopf her würde es auch ganz gut klappen, nur meine Gefühle kann ich nicht so einfach mit logischen Erklärungen beruhigen bzw. sanft stimmen.

Ich bin jetzt auch einen großen Schritt weiter gekommen (meine Tochter und ich machen ab und zu Aufstellungen bei uns daheim): Ich wurde weder von meiner Mutter, noch von meinem Vater wirklich gesehen. Durch meine Tochter wurde ich immer wieder an diesen Schmerz erinnert. Um den Schmerz nicht zu spüren habe ich zig Wege versucht, dass ich wahrgenommen werde. Das schlimme ist nur, dass ich selbst meine Tochter gar nicht richtig gesehen habe. (so ein Eingeständnis aufgrund der Tatsachen, was in einer Aufstellung passiert ist, ist nicht so leicht zu akzeptieren, zumal ich immer dachte, sie wäre quasi wie ein Mittelpunkt in meinem Leben.)

Das Thema: gesehen werden, scheint sich ganz zentral durch meine Familie und auch die meines Mannes hindurchzuziehen. Das gibt es noch viel Aufräumarbeit in mir bzw. Berichtigungen in meinem Glaubenssystem.

Liebe Grüße pluto
 
Da fällt mir eine Geschichte ein, die Martin Buber erzählt. Er kennt einen Eingeborenen-Stamm, der keine Hauptwörter kennt - und der alles, was wir mit Hauptwörtern bezeichnen durch Verhaltensweisen beschreiben.

Zu "Einsamkeit" sagen sie dort "Wir schauen einander in die Augen, und keiner ist bereit selbst das zu tun, was er sich vom anderen wünscht."

Jeder will geliebt werden, aber wer beginnt zu lieben ?

LG, Reinhard
 
1. Wie oft habe ich das schon versucht. Sie einfach "links" liegen lassen. Vom Kopf her würde es auch ganz gut klappen, nur meine Gefühle kann ich nicht so einfach mit logischen Erklärungen beruhigen bzw. sanft stimmen.

2. Ich wurde weder von meiner Mutter, noch von meinem Vater wirklich gesehen. ... Das Thema: gesehen werden, scheint sich ganz zentral durch meine Familie und auch die meines Mannes hindurchzuziehen.
1. Das "Links liegen lassen" hat mit Akzeptieren (Deinem tiefsten Wunsch) NICHTS zu tun - ganz im Gegenteil. Es ist die vernichtendste Form der Aggression (zerstörerischer noch als körperliche Gewalt) - weil es den anderen quasi in der eigenen Welt eliminiert.

2. Ja - es ist erschreckend, wenn man es bemerkt, aber auch logisch. Genauso, wie wir von unseren Eltern ihre verbale Sprache (zB. Deutsch) übernehmen, übernehmen wir auch ihre Beziehungssprache und ihr Beziehungsverhalten. Sehr häufig gehen wir mit uns selbst und mit anderen so um, wie sie mit uns umgegangen sind.

Man entkommt seinen wunden Punkten nicht - solange man sie nicht bei sich gelöst hat, sucht man sich immer wieder Menschen, die ihren Finger in die offenen Wunden legen.

Kennst Du das Buch vom "inneren Kind" von John Bradshaw ("Das Kind in uns") ? Das könnte Dir vielleicht nützlich sein, Deine Verletzungen und Sehnsüchte zu heilen oder zumindest zu lindern. (Ist ein Buch mit guten Übungen - nicht nur zum Lesen, sondern zum Durchleben.)

Liebe Grüße und ALLES GUTE,

Reinhard
 
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Hallo Reinhard,

ganz vielen Dank, dass du dich mit meinem Thema beschäftigt hast.

"Einsamkeit" sagen sie dort "Wir schauen einander in die Augen, und keiner ist bereit selbst das zu tun, was er sich vom anderen wünscht."

Bei mir ist es die Angst: Angst davor, den großen, unendlichen Schmerz zu fühlen und nicht zu wissen wie ich ihn heilen lassen kann. Und Angst davor, erneut verletzt zu werden.

Über die Arbeit mit dem inneren Kind habe ich von Chopich die beiden Bücher. Zum Arbeitsbuch bin ich noch nicht gekommen. John Bradshaw hat ein Buch über Familiengeheimnisse und Scham geschrieben. Das erste könnte ich noch einmal durcharbeiten und das letzte endlich mal lesen. (Scham ist ein zentrales Thema in meinen Familien und bei mir.)

Liebe Grüße pluto
 
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