Teil 6
Es regnete und regnete ununterbrochen. Der Nil begann zu steigen und überschwemmte das Land. Wir hatten das Nildelta hinter uns gelassen. Endlich, denn ich hatte genug von so viel Wasser. Wir waren alle, auβer dem Erzengel Gabriel, nass. Maria hatte ihren Mantel über sich und das Kind gegeben, aber der Regen bahnte sich seinen Weg
Ich musste schon mehrmals niesen und befürchtete eine herannahende Erkältung und Rheuma. Ich war voller Sorgen, da ich ja nicht mehr der Jüngste bin und es womöglich zu Komplikationen kommen könnte. Gar nicht auszudenken, eine Rippenfellentzündung oder gar eine Lungenembolie
Benjamin!, erschall des Engels Stimme.
Ich seufzte schwer. Der Engel las pausenlos in meinen Gedanken, ich hatte überhaupt keine Privatsphäre mehr. Vor allem meine Träume mit der liebreizenden Dalila, die kann er ja auch sehen! Das ist ja richtig peinlich, überlegte ich und dabei lief es mir siedend heiβ über den Rücken. Ich knurrte kurz nach oben zum Himmel.
Benjamin! Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Durch die Kraft des Jesus bist du verjüngt worden. Und deine Tagträume mit Eselin Dalila, sind ganz normal, lachte Gabriel.
Hm
Ich spüre aber ein leichtes Stechen in den Rippen!
Ach Benjamin. Du hast sehr viel Einbildungskraft. Siehe dort vorne auf dem Hügel: das ist Heliopolis.
Noch drei Stadien bis zur Stadt On, meldete sich meine liebliche GPS Stimme von Dalila.
Ich blieb auf der Stelle stehen und rief verwirrt zu Gabriel hinauf:
Wo sind wir denn nun wirklich, in Heliopolis oder On?
Ach Benjamin. Heliopolis und On, ist das Gleiche. Früher wurde diese Stadt einmal On genannt, heute heiβt sie Heliopolis und dein GPS ist noch alttestamentarisch eingestellt. Es braucht dringend eine Erneuerung auf neutestamentarisch!
Erzengel Gabriel schien heute bei besserer Laune zu sein, ihm konnte der Regen auch nichts anhaben. Neutestamentarisch, dachte ich und wackelte einmal kurz mit den Ohren.
Das leuchtete mir ein mit dem Testament, obwohl ich noch nie etwas von einem neuen Testament gehört hatte, aber der Engel wirds wissen, vertraute ich und setzte meinen Ritt fort.
Der Regen hatte nachgelassen und ein Regenbogen spannte sich vor uns am Firmament, genau über dem Hügel mit dem Tempel der jetzt näher und näher rückte.
Ich lief ein wenig schneller, trotz des leichten Stechens, das ich zwischen den Rippen verspürte. Womöglich hat sich der Engel getäuscht und die herannahende Erkältung übersehen, überlegte ich und dachte, dass ein Halswickel heute Abend wohl angebracht sei und warmer Tee mit Heilessenzen, so wie die gute alte Rebna mich immer versorgt hatte.
Wir betraten Heliopolis vom Westtor aus, das nur noch aus zerfallenen Lehmziegeln bestand. Eine breite Allee aus Sphinxen zur rechten und linken Seite, führte den Hügel hinauf zum Tempel. Die Stadt breitete sich vor uns aus, einsam und verlassen und überall lagen Steine von halb zerfallenen Bauten herum. Nur der Tempel schien unversehrt und stand noch, ein groβer und majestätischer Bau.
Das ist heiliger Boden!, sprach Gabriel so laut, dass die Steine rings um uns erzitterten. Hier war der Anfang der Welt nach der groβen Flut. Aus dem Chaos entstand der Ur-Hügel und das Zentrum von Ägypten.
Vor lauter Aufregung vergaβ ich sogar meine herannahende Rippenfellentzündung und
bestaunte ein wenig ängstlich die Statuen der Sphinxen aus Alabaster, die fast lebendig wirkten und viel gröβer als ich waren. Ein wenig argwöhnisch musterte ich ihre Köpfe, ob sich da was bewegte. Dann wäre ich aber gerannt! Aber sie blieben stumm und reglos. Ich atmete erleichtert auf. Gar nicht auszudenken, von so einer Horde Ungeheuer überfallen und verschlungen zu werden.
Ich blickte zu Esau, ihm erging es nicht anders als mir. Beunruhigt musterten seine Augen die seltsamen Geschöpfe aus Stein, abwechselnd rechts und links.
Fürchtet euch nicht!, erklang es einmal wieder von oben. Hier auf dieser Allee wandelten die heiligen Priester in feierlicher Prozession, gefolgt von der Menge, zum Tempel. Die Priester schwangen Kessel mit brennender Holzkohle auf der Weihrauch zum Himmel emporstieg und sangen Lobpreisungen auf den Gott Amun-Re, begleitet vom Klang der Sistren.
Vor uns wuchsen hohe Obelisken in den Himmel, wie ein groβer Wald waren sie angeordnet. Einige der Obelisken waren umgestürzt.
Wir durchquerten den Vorhof des Tempels und kamen auf eine scheinbar undurchdringliche
Wand zu. Ein Gefühl von Heiligkeit und Ehrfurcht beschlich mich, als die Sonne plötzlich aus den Wolken hervorbrach und die zwei hohen Obelisken zu jeder Seite der Pylonen am Eingang zum Tempel golden erstrahlen lieβ. Erzengel Gabriel erläuterte:
Obelisken sind Sonnensymbole, so wie Heliopolis dem Sonnengott geweiht wurde. In zweitausend Jahren, werden diese Obelisken in den groβen Metropolen der westlichen Welt stehen. Städte deren Namen heute noch unbekannt sind wie: Washington, Paris, London und Rom und sie werden diesen Städten groβe Macht verleihen!
Es war ein gewaltiges Erlebnis, als wir erst zwischen den beiden Pylonen, und dann durch den schmalen Eingang des Amun-Tempels hindurch schritten. Auf dem Rücken trug ich die Mutter Gottes und den kommenden Weltenherrscher.
Ich fühlte in diesem Augenblick eine seltsame Kraft, eine Kraft wie aufrichtend, wie erwachend aus einem tiefen Traum.
Wir hatten das Innere des Tempels betreten, mit Säulen, unendlich hoch zum Himmel emporgereckt und erhaben über uns, dass ich mir so klein vorkam. Es war, als stände ich an einer Schwelle, wo Nacht und Tag sich ineinander verweben. Dort war es als hörte ich furchterregend die gewaltige Stimme Gottes umgeben von den Scharen seiner Engel. Wie ein kosmischer Gesang hörte es sich an. Ich blickte zu Maria und dem Jesuskind und sah den Glanz in seinen Augen. Augen so strahlend wie Sterne und ein himmlisches Lächeln auf seinen Lippen, wie verkündend das herannahende Reich, dass nicht von dieser Welt ist. Oh, es war ein bewegender Eindruck! Unvergesslich eingeprägt in meine Erinnerung.
Die Nacht hatte sich über Heliopolis gesenkt und der Regen war zurückgekehrt. Wir hatten Unterschlupf im Inneren des Amun- Tempels gesucht, in der der Nähe des Allerleiligsten, wo wir nicht nass wurden und Joseph ein Feuer entzünden konnte. Die heilige Familie suchte Wärme in der Nähe des Feuers und war eingeschlafen. Vom Jesuskind ging ein Strahlen aus, es war wie damals in Bethlehem, als das Licht in die Welt herunter kam. Aber heute war es wie gleiβendes Sternenlicht.
Der Sonnengott stieg auf einer Barke vom Himmel und es ist der Weg aus dem Meer zum festen Land, richtete Gabriel sich an mich, denn Esau war bereits eingeschlafen.
Der Sonnengott?, fragte ich den Engel. Kannst du nicht herunter kommen und dich neben mich setzen, um es mir zu erzählen. Alle schlafen schon und ich würde deine Gesellschaft überaus gerne in Anspruch nehmen.
Du müsstest geblendet die Augen schlieβen. Ich bleibe besser hier oben sitzen.
Wer ist der Sonnengott?, wollte ich wissen.
Der Sonnengott Amun-Re, das ist der Christus Jesus, den die Eingeweihten im Auβen sahen. In der Sonne sahen die Priester ihn und haben ihn verehrt. Der Christus, der sich aus dem Kosmos zur Erde näherte, den sahen die Hohepriester kommen durch die Jahrtausende.
Ich lauschte konzentriert der Erzählung Gabriels und ich gestehe, für einen Esel war das nicht einfach. Um mich wirklich voll und ganz zu konzentrieren, legte ich die Ohren an.
Und die Barke, warum wurde der Sonnengott auf der Barke auf dem Nil herumgefahren?
Das Bild der Barke, das ist der Weg des Menschensohnes vom Meer der wogenden Empfindungen, den Urkräften des Lebens, hin zum festen Land. Und dieser Weg ist der Christusweg vom Wasser auf das Land, zum Berg, auf den Berg. Es ist auch der Weg auf den der Christus die Menschen ruft. Die Jünger des Christus werden seinem Weg folgen. Vom See kamen die Fischer bis aufs Land, dann ins Haus und wieder auf den Berg.
Das versteh ich nicht!, warf ich kleinlaut ein.
Das ist auch hier nicht der Ort, auf diese Bilder einzeln einzugehen. Es sind die Stufen der Bewusstseinsentwicklung!
Ich nickte verlegen. Des Engels Worte pflanzten sich tief in mein Herz, auch wenn ich nicht den ganzen Sinn verstand, denn viel Verstand besitze ich nicht, dafür aber viel Herz.
Christus wird einmal in ein Buch eingesperrt werden, fuhr Gabriel fort. Ein Buch mit Siegeln, und nur wenige werden es verstehen. Es wird aber eine Zeit kommen, wo diese Siegel gesprengt werden und dann wird der Blick frei für das kosmische Wesen des Christus
und seinem Schreiten durch die Jahrtausende.
In meinem Herzen wurde es auf unerklärliche Weise warm und ich fühlte eine Liebe, so grenzenlos und unendlich, dass ich von Schauern ergriffen wurde. Da begann Gabriel erneut und fuhr fort:
Es wird eine Zeit kommen, da werden die Menschen nur über jene drei Jahre des Jesus Christus reden, sie sind auch das Herzstück der Welt-Geschichte. In diesen drei Jahren hat sich ausgelebt und wird noch ausgelebt werden, eine unerhört starke Verdichtung. Ein Urbild von allem was ist und sein wird!
Das was auf ein paar Blatt Papier eines Tages über den Christus niedergeschrieben wird, ist nicht alles. Es geht darum, was in die Herzen der Menschen eingeschrieben wurde und da wird hinter Amun-Re und Apollo ein viel Gröβerer sichtbar der spricht: «Ehe denn Abraham war, Bin Ich.»
Benjamin?, fragte Gabriel leise.
Aber ich gestehe, ich war eingeschlafen. Die Worte des Engels waren zu mächtig, und das Feuer seiner Worte brannte in meinem Herzen. Seine Inszenierung eines weit überspannenden Bogens der Jahrtausende, von der Vergangenheit bis in die Zukunft der Menschheit, war zu gewaltig und machte mich schwindelig. Ich schloss die Augen und wurde von einer groβen Welle aus Licht erfasst, hinaus auf ein weites Meer geworfen. Dort saβ ein junger Mann in einem Boot und ich erkannte ihn am Sternenglanz seiner Augen, es war Christus.
Es war im Morgenrauen, als mich die Stimme des Engels weckte:
Benjamin!
Fang jetzt bloβ nicht damit an, wir müssen aufbrechen, murmelte ich verschlafen. Es war gestern ein anstrengender Tag und ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir!
Benjamin!
Eine wunderbare, taghelle Nacht war es gewesen, dort drauβen auf dem weiten Meer im Gespräch mit Jesus Christus. Er hat mir alle Fragen beantwortet und mein Herz ist hoch beglückt darüber
Benjamin! Ihr dürft keine Zeit verlieren und sollt sofort aufbrechen.
Ich erhob mich und jammerte erst einmal vor mich hin, aber Joseph hatte dem Esau bereits die Sachen aufgepackt und das hieβ, aus dem Tempel hinaus und weiterreiten bis Babylon.
So nannte sie Joseph, die kleine Siedlung auf dem ostseitigen Ufer des Nils, dort sollen sich Hebräer angesiedelt haben. Hanna und Ismael leben dort, die uns aufnehmen werden.
Es versprach heute ein klarer Tag zu werden. Ich sog die Luft durch meine Nüstern. Ein frischer Wind war aufgekommen, der zunehmend meine Sinne erweckte und den Duft von den nahen Akazien und der Maulbeerbaumhecke aus dem Hof des Tempels herüber brachte.
Schweigend blieben wir vor dem hohen Benben Stein im Hof stehen. Erneut beschlich mich diese heilige Stimmung wie gestern. Die aufgehende -Sonne ging genau über der oberen Spitze auf und vergoldete sie. Es war, als nähme in diesem Augenblick der Sonnengott Amun-Re dort oben Platz.
Der Jesusknabe deutete voller Wonne mit dem Händchen hinauf und jauchzte. Ein Jauchzen voller Seligkeit, es brach das vorhergehende Schweigen und machte einer groβen Freude in uns allen Raum.
Ein halber Tagesritt nach Babylon!, erklang die wohltuende GPS Stimme meiner liebreizenden Dalila. Bitte Nilabwärts, aber nehm die Route durch die Wüste, der Nil ist weit über seine Ufer getreten.
Seufzend machte ich mich auf den Weg mit Esau, hinter dem Joseph schritt.
Esau, ich habe heute Nacht mit Jesus Christus im Traum gesprochen, rief ich ihm vielsagend zu. Ich habe groβes Vertrauen in alles und mich selbst!
Über was habt ihr gesprochen?
Wir sprachen über die Geheimnisse des Universums, die Evolution, auch über die Tiere und die Zukunft der Menschheit!
Und? Erzähl bitte, lieber Benjamin.
Was soll ich erzählen?
Die Geheimnisse
Hm
Leider habe ich alles vergessen, darum sind und bleiben es ja auch Geheimnisse, grinste ich Esau an. Sobald ich an unser Gespräch heute Nacht denke, fühle ich eine groβe Wärme in meinem Herzen und so ein unsagbares Glücksgefühl. So als wüsste ich, dass ich nie allein bin.
Ausgelassen machte ich einen kleinen Luftsprung, drehte meinen Kopf zum Jesuskind und zwinkerte ihm zu. Der kleine Knabe schenkte mir ein Lächeln und seine Augen blickten mich dabei an, als wüssten sie genau, was sich heute Nacht im Traum zugetragen habe. Auch Maria lächelte wohlwollend und streichelte mir über das Fell. Maria kannte mich inzwischen zur Genüge und wusste sich so gut es ging festzuhalten, wenn ich mal wieder in die Luft sprang.
Benjamin!, ertönte es tadelnd vom Himmel.
Ich reite ja schon wieder normal!, rief ich vergnügt hinauf und machte mich auf den Weg in die Wüste.
Four oclock! warnte Esau aufgeregt.
Bei unserem Herrn im Himmel, was ist four oclock?, fragte ich aufgebracht. Geht das schon wieder mit Moshe Dayan los?
Das heiβt vier Uhr und bedeutet rechts vorne nähert sich ein Ungeheuer!
LG Ali