Ethik und Rechtsphilosophie - gibt es eine Willensfreiheit?

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LynnCarme

Guest
Ethik und Rechtsphilosophie - gibt es eine Willensfreiheit?

Hallo zusammen!

Hiermit eröffne ich einen speziellen Faden zum Thema Ethik und Rechtsphilosophie im Kontext des Rechts und Wahrheitsempfindens sowie der Willensfreiheit, die wiederum mit der Verantwortlichkeit von (Straf-) Taten zusammenhängt. Ist die Willensfreiheit eine Illusion, wie manche Naturwissenschaftler behaupten? Oder lässt sich die Willensfreiheit philosophisch begründbar herleiten? Denn: Wenn es keine Willensfreiheit gäbe, dann könnte eine juristisch mündige Person für ihr Verhalten und entsprechende Folgen rechtlich nicht verantwortlich gemacht werden, nicht?

Ein solcher philosophischer Beweis mag vielleicht unnötig sein, weil eine gegenteilige Grundannahme zu absurden Resultaten führt, doch wäre es doch interessant, einen solchen philosophischen Beweis schlüssig herleiten zu können, sodass diese Schlussfolgerungen als beweislastige Indizien fungieren könnten. Genau dieser Aspekt würde mich interessieren. Wie lässt sich "das Axiom" einer bestehenden bzw. vorausgesetzten Willensfreiheit zumindest ausreichend belegen?

Der Hinweis auf die Absurdität einer gegenteiligen Annahme und Rechtsprechung reicht mir nicht, denn das Leben an sich wirkt oft absurd bei aller Tatsächlichkeit der beobachteten Ereignisse. Außerdem gibt es genug Philosophen, die eine Willensfreiheit anzweifeln. Nicht dass ich persönlich von einer illusorischen Willensfreiheit ausgehe, aber ich bin sozusagen befangen, weil ich als autarkiesuchende Persönlichkeit den Gedanken, keinen freien Willen zu haben, nur schwerlich akzeptieren könnte. Trotzdem sehe ich gerade darin eine gewisse Determiniertheit, mein Streben nach Willensfreiheit basiert auf meinem Antrieb nach Autonomie. Damit wäre also auch gar nichts bewiesen.

Muss es rechtlich zwingend notwendig eine Willensfreiheit geben, um das bestehende Rechts- und Strafsystem weiter rechtfertigen zu können?
 
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Der Mensch ist offenbar in der Lage, sich als determiniert zu begreifen, was nur in Abgrenzung zu einer angenommenen Willensfreiheit als solches überhaupt wahrnehmbar ist. Jemand, der im Gefängnis sitzt, merkt das nur, weil er 1. das Gefängnis also solches zu erkennen vermag und 2. etwas außerhalb dieses Gefängnis definieren oder wahrnehmen kann, wodurch ihm seine eigene Begrenztheit und damit die Freiheit außerhalb dieser Begrenztheit gewahr wird.

Wie relativ jedoch die Willensfreiheit ist, wird durch die vielfältigen Einschränkungen im Leben ersichtlich. Man könnte sagen, das Eingeschränktsein hat nichts mit dem Willen zu tun, man könnte sich ja auch gegen diese Einschränkung willentlich aufbäumen. Wenn dies nicht möglich ist, wäre es keine fehlende Willensfreiheit, sondern eine durch andere beschränkte Handlungsfähigkeit. Wenn wir jedoch von psychischer Determiniertheit sprechen, werden diese nicht immer als ich-dyston wahrgenommen, sondern oft als ich-synton. Das "Gefühl der Willensfreiheit" hängt also vom Grade der Syntonie ab. Jemand mit Wahngedanken empfindet diese als synton, er fühlt sich also frei in seinem Willen, doch können seine Wahngedanken durch Drittpersonen als Resultat einer determinierten, gestörten, psychotischen Wahrnehmung definiert werden.

Es braucht also eine dritte Instanz, welche die Willensfreiheit von außen her beurteilt. Eine rechtliche Instanz wäre aber wiederum durch das Gesetz konstituiert und festgelegt, sodass allein schon dieser Umstand die Wahlfreiheit des Beurteilens einschränkt, auch wenn immer mehr psychologische Gutachten einbezogen werden. Trotzdem wäre es doch wichtig, sich diesbezüglich zu reformieren und neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse, auch wenn diese natürlich auch einseitig sind, miteinfließen zu lassen. Man könnte z. B. den Schuldbegriff an sich fallen lassen und nur noch die Verantwortlichkeit, die ja immer mehr oder weniger gegeben ist, auch bei Unzurechnungsfähigkeit, als Maßstab nehmen. Ein unzurechnungsfähiger Straffälliger muss auch in seinem Handeln sanktioniert werden, weniger im Sinne einer Strafe, sondern einer strafverhindernden Lösung.

Ich frage mal andersherum: Würde wir es merken, wenn wir keine Wahlfreiheit hätten? Woran ließe sich dies feststellen?
 
Spannende Fragen, Lynn ...

Muss es rechtlich zwingend notwendig eine Willensfreiheit geben, um das bestehende Rechts- und Strafsystem weiter rechtfertigen zu können?

Vielleicht müsste man hier den Anfangspunkt noch ganz wo anders setzen. Denn Gesetze sind ja nichts festgeschriebenes, sondern sind ja abhängig von der Gesellschaft in der man sich bewegt. Und andere Gesetze wieder haben weder mit Recht noch mit Ethik etwas zu tun, sondern sind reine Resultate von Lobbyarbeit ... und fallen damit oft gar nicht unter das Rechtsempfinden eines Volkes.

Die Frage wäre hier für mich ... haben wir überhaupt einen absoluten Rechtsmaßstab? Denn selbst ein Gebot wie "du sollst nicht töten", das letztendlich ja ein für eine Gesellschaft unproduktives (?) Vorgehen ausschließt, wurde und wird in vielen Kulturen nicht so eng gesehen.


Der Mensch ist offenbar in der Lage, sich als determiniert zu begreifen, was nur in Abgrenzung zu einer angenommenen Willensfreiheit als solches überhaupt wahrnehmbar ist. Jemand, der im Gefängnis sitzt, merkt das nur, weil er 1. das Gefängnis also solches zu erkennen vermag und 2. etwas außerhalb dieses Gefängnis definieren oder wahrnehmen kann, wodurch ihm seine eigene Begrenztheit und damit die Freiheit außerhalb dieser Begrenztheit gewahr wird.

Das ist richtig. Aber hat ein Mensch diese Willensfreiheit tatsächlich in seinen "Genen" ... oder ist es etwas, das ihm anerzogen wird - vielleicht sogar nur als Begrifflichkeit, und nicht als echte Wahlmöglichkeit? Sowohl Versuche in der Psychologie als auch Verbrechen an Menschen zeigen ja, dass man einen Menschen in völliger Abhängigkeit halten kann. Wo liegt dann noch die Willensfreiheit?

Oder ergibt sich möglicherweise dieser Eindruck von Willensfreiheit nur daraus, dass natürlich eine beliebige Anzahl von Menschen beliebig unterschiedliche Willen haben, d.h. ein gewisses Set von Willensmöglichkeiten vorhanden ist. Letztendlich das Individuum aber eine genau determinierte Entscheidung trifft ... und auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit davon abweichen kann.

Was macht eigentlich einen Menschen zu einem Verbrecher? Zum einen die Gesellschaft durch ihre Regeln. Würde sich dieser Mensch in einer anderen Gesellschaft, einer anderen Kultur befinden, dann wäre vielleicht sein Verbrechen gar keines ....
Zum Anderen sind es psychisch fehlende Grenzen, eine fehlende Prägung auf die gesellschaftlichen Regeln seiner Umgebung. Das können jetzt Fehler in der Erziehung sein, eine generell fehlende Erziehung bzw. Sozialisierung in die umgebende Gesellschaft, auch die Fremdheit in einem Gesellschaftssystem mit anderen Regeln .... Das Fehlen der gesellschaftlichen Sozialisierung begünstigt hier den Verstoß gegen die die gesellschaftlichen Regeln.

Ein solcher philosophischer Beweis mag vielleicht unnötig sein, weil eine gegenteilige Grundannahme zu absurden Resultaten führt, doch wäre es doch interessant, einen solchen philosophischen Beweis schlüssig herleiten zu können, sodass diese Schlussfolgerungen als beweislastige Indizien fungieren könnten. Genau dieser Aspekt würde mich interessieren. Wie lässt sich "das Axiom" einer bestehenden bzw. vorausgesetzten Willensfreiheit zumindest ausreichend belegen?

Die Frage wäre meiner Ansicht nach ... würde die Annahme einer fehlenden Willensfreiheit tatsächlich zu absurden Resultaten führen? Oder ist das nur eine Annahme? Vielleicht würde sie dazu führen, dass die Menschen gegeneinander toleranter wären? Dass sie akzeptieren würden, dass Menschen auch aus anderen Kulturkreisen kommen können. Vielleicht sogar dazu, "Verbrechern" zu helfen anstatt sie zu bestrafen??? Wäre auch interessant, dieses Modell einmal auszuarbeiten.

Wir dürfen eines nicht vergessen ... die ursprünglichen "Gesetze" waren ja letztendlich nur die ethischen Regeln, die das Zusammenleben innerhalb eines Stammes geregelt haben. Ethische Regeln, die wir im Alten Testament genauso wiederfinden wie im Neuen Testament und im Koran und in allen anderen "spirituellen" Regelwerken. Erst im Laufe der Zeit wurden aus den ethischen Regeln Gesetze, die sich letztendlich als praktisches Mittel zur Einführung von Regeln zur Untermauerung der Macht der Führungsschicht erwiesen haben. Und heute nurmehr ein Sumpf aus sinnlosen Gesetzen sind, die Legionen von Rechtsanwälten beschäftigen.
 
Der Mensch hat deshalb Willensfreiheit, weil der Wille nichts Festes ist, sondern etwas Bewegliches. Der Wille ist frei, der Mensch kann seinen Willen wandeln. Er ist in seinem Willen und in seiner Willensbildung an nichts gebunden.

Ein "Schuldiger" ist, meine ich, in diesem Zusammenhang ein Mensch, der nicht sein Rechtsbewusstsein einsetzt, um seine Willensbildung zu regulieren. "Verantwortlich" ist er für die Tat aber nur im persönlichen Sinne: für die gesellschaftlichen oder privaten Umstände, die ihn zu der Tat getrieben haben, ist er nicht verantwortlich. Ein Schuldiger wird bezüglich dieser Umstände in einem Gerichtsverfahren auch nicht gesucht, sondern es geht allein um die persönliche "Schuld" des Angeklagten, die beklagt worden ist. Darum wer verantwortlich ist, darum geht es im Grunde nicht. Das sind sehr oft Andere.

Und "Zurechnungsfähigkeit" bezeichnet den Umstand, daß jemand eins und ein zusammenzählen und die Folgen seiner Tat oder den mit ihr verbundenen Rechtsbruch vorhersehen hätte sehen können. Also "eins hinzurechnen" können, die Folgen wissen. Wer das nicht kann, kann zwar persönlich verantwortlich sein und wird sich in der Regel auch so fühlen, aber er ist nicht schuldig, weil er eben nicht eins und eins zusammenzählen konnte in diesem Moment.

Das sind meine Gedanken zu diesem Thema bisher.

lg :lipstick:
 
Auch wenn wir alle determiniert wären, könnten wir doch allesamt nicht wirklich den jeweils anderen vorausberechnen, höchstens zu gewissen Annahmen und Wahrscheinlichkeiten greifen aufgrund von bisherigen Erfahrungswerten. Auch ein Wahnkranker beispielsweise ist nicht berechenbar, trotzdem ist dieser nicht willensfrei in einem psychotischen Schub.

Denn ist das wirklich noch Wahlfreiheit, wenn jemand aus einem primären oder sekundären Krankheitsgewinn heraus sich kompensierend in einen Wahn hineinwählt?

Solange besagter Krankheitsgewinn nicht durch Simulation erzielt wird, steht hinter einem solchen Krankheitsgewinn, der auf maladaptive Weise kompensiert, sehr viel Leidensdruck. Von Wahl und Willensfreiheit kann da meiner Ansicht nach nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil von Determiniertheit, worunter die Betroffenen auch leiden. Sie verlieren ihre Identität und versuchen alles Mögliche, um wieder ein Ich zu werden. Allein schon die Folgen drängt sie in die Ausgrenzung und Isolation, woraus sie sich nur mit fachlicher und medikamentöser Hilfe langsam wieder herausarbeiten können.

Es ist in gewisser Weise eine unbewusste "Entscheidung", ohne wirklich die Wahlfreiheit für eine andere Reaktion auf die Umwelt zu haben. Das ist für mich keine Willensfreiheit, sondern eine aufgezwungene Reaktion auf ein krankmachendes System.

Wir können auch ein anderes Beispiel nehmen, z. B. die Psychosomatik, wo Menschen psychosomatische Symptome entwickeln in einer maladaptiven Ventilfunktion, durchaus als Gegenposition und Verweigerung gegenüber den Anforderungen der heutigen Leistungsgesellschaft. Aber es ist 1. keine bewusste Entscheidung und 2. keine Wahlentscheidung und damit 3. keine Willensfreiheit, sondern ein deterministisch-maladaptives Gegenverhalten aus Kausalitäten heraus, wie sie viele andere gleichermaßen unter denselben Umständen entwickeln unter psychobiosozialen Faktoren, die auf den Betroffenen einwirken und ihn in diesen primären oder sekundären Krankheitsgewinn hineintreiben, um sich zu schützen vor dem Raubbau und Druck, den sie nicht mehr aushalten.

Ich persönlich halte beide Faktoren (Determinismus und Willensfreiheit) für zutreffend. Das Radikale habe ich schon immer in jeder Beziehung abgelehnt. Nicht einmal die Liebe würde ich für bedingungslos halten. Selbstverantwortung finde ich wichtig, aber ich würde den Menschen niemals als autonom bezeichnen. Die Erde und auch die Tierwelt würde gut ohne Menschheit auskommen. Der Mensch scheint eher der Störfaktor zu sein im Naturgefüge. Trotzdem halte ich die Menschen in ihrer Individualität und Winzigkeit (in Relation zum Kosmos) für wertvoll, nur halte ich sie weder für wirklich eigenständig noch unabhängig von Kausalitäten, sodass der Determinismus wahrscheinlich eher 99,9% ausmacht und der Rest die kleine Wahlfreiheit ist, die aber wie der berühmte Schmetterlingsflügelschlag am anderen Ende der Welt für entscheidende Kausalitäten sorgen kann.

Ich sehe es so, dass die Wissenschaft im Grunde genommen nur die "äußeren" Erscheinungen untersucht und misst, was diese auch nicht bestreitet. Es ist jedoch ein Aspekt, der nicht einfach ausgeblendet werden sollte, wenn man den Betrachtungsgegenstand Mensch wirklich aus allen Blickwinkeln erforschen und erfassen möchte. Ich erkenne da nicht wirklich einen Gegensatz, es sei denn jemand hängt einem idealistischen Weltbild nach, das sich mit der heutigen Naturwissenschaft nur als wenig deckungsgleich vereinbaren lässt.

Nicht nur die Naturwissenschaft entwirft Modelle der Wirklichkeit, das machen alle, weil es nicht anders geht. Sogar empirische Erfahrungswerte werden in ihrer Hochrechnung zu Modellen und Thesen. Das lässt sich nicht umgehen. Die in der Psychologie gesammelte Phänomenologie beruht nicht nur auf Messung, sondern auf Symptomatiken. Da steckt schon viel Empirie drin, auch wenn das wissenschaftliche Weltbild es in versachlichter Form in Krankheitsmodellen defizitär begreift, dies aufgrund des Leidensdruck der Patienten, daran wird die Grenze zwischen Störung und reiner neutraler Akzentuierung gesetzt, was wiederum zeigt, dass schon der Mensch in seiner Erlebnisweise erfasst wird.

Aber auch in der Fachliteratur der Neurologie wird darauf hingewiesen, dass abweichende neurologische Erscheinungen, die auf gewisse Störungen (z. B. Zwänge) hinweisen, durch Psychotherapie weitestgehend normalisiert werden können. Auch da wird also dem inneren Erleben durchaus eine Wirkungsweise eingeräumt. Also ich persönlich halte die Wissenschaft für bereichernd, ich kann es auch gut mit meinem um andere Aspekte erweiterten philosophischen Weltbild (durchaus auch spirituell und nicht defizitär, es gibt immer mindesten zwei Seiten) verbinden.

Eine "radikale" Sichtweise, welche den Determinismus auschließt, ist nur eine gewünschte Fiktion, die mit dem Ziel der Autonomisierung gegenüber jeder Art der Uneigenständigkeit und Kausalität verfolgt wird. Für mich ist das ein nachvollziehbares, aber idealistisches Denken, eine Verweigerung und Rebellion dem realistisch Gegebenen gegenüber, das nun mal in ihrer Erfahrung selbst leider nicht wirklich so großartig willensfrei ist, wie es gewünscht wird. Kinder denken in ihrer "magischen" Phase so. Es geht um Macht.

Ich kann das gut nachvollziehen, da ich durchaus auch idealistische Tendenzen bei mir beobachtete (vor allem in meiner Jugend), doch haben sie sich allesamt als lebensuntauglich erwiesen. Ebenso schädlich halte ich jedoch auch ein rein defizitäres Denken. Ich persönlich kann von einer möglichst wertfrei realistischen, auf Empirie ausgerichteten, sachlichen und offenen Betrachtungsweise am meisten profitieren und dieses am ehesten umsetzen. Alles andere konnte sich nicht wirklich positiv durchsetzen in meiner Lebensführung. Ich lasse vieles offen und fühle mich deshalb nicht eingeengt. Es ist ja nicht so, dass ich die Willensfreiheit komplett ausschließe.

Eine bedingte Liebe z. B. muss aus meiner Sicht nicht Bedürftigkeit sein. Es ist nur so, dass auch die Liebe von Kausalitäten (z. B. gemeinsame Lebensgeschichte, Familienbindungen etc.) abhängt. Gerade diejenigen, welche von bedingungsloser Liebe sprechen, wirken auf mich am wenigsten liebevoll in entsprechenden Diskussionen aufgrund der schon fast fanatisch-fundamentalistischen Radikalität, wie Andersdenkende dabei ausgeschlossen werden. Derart Gläubige denken meistens auch hierarchisch im spirituellen Bereich. Natürlich sind sie bereits höher aufgestiegen, der "wahren Liebe" fähig. Für mich ist es lediglich ein romantisch verklärtes, unrealistisches Ideal.

In gewisser Weise ist die Wissenschaft auch fiktiv und idealistisch, weil die Wissenschaft eben nur die äußeren Erscheinungen modellhaft und in gesammelten Daten einfängt und verifiziert, dies aber sehr wohl weiß, denn genau darauf beruht wissenschaftliches Denken. Ich rede jetzt nicht von den "Wissenschaftsgläubigen", die sowieso einem meist veralteten Wissenschaftsbegriff hinterherlaufen und den wissenschaftlichen Gedanken nicht wirklich verstanden haben. Tendenziell gerinnen alle Thesen zu idealistischen Modellen, die es in der Form in der Realität nicht gibt, aber auch darüber ist sich die Wissenschaft bewusst (z. B. auch was die Krankheitsmodelle in der Psychologie betrifft).

Es kommt sehr auf das Krankheitsmodell an, wie sehr da die Logik noch greifen kann. Außerdem gibt es auch Krankheitsmodelle und Akzentuierungen und allgemein Persönlichkeitsprofile, wo gerade das rationale Denken selbst zum Symptom wird. Also auch darin sind wir letztlich alle mehr oder weniger determiniert in unserem Denken und Handeln. Weiter kommt eine Vielzahl von äußeren Faktoren hinzu, die einer logischen Willensfreiheit im Wege stehen und diese einschränken. Ich würde eher davon ausgehen, dass wir durchaus eine gewisse logische Willensfreiheit haben, dies jedoch in einem deterministisch eingeschränkten Rahmen von Geburt an, genauer: schon im Zeugungs- und Geburtsprozess.
 
@LynnCard , ich würde hier nicht unbedingt in Krankheitsbildern denken, auch wenn das in der Medizin der übliche Zugang ist. Hast Du mal mitgezählt, wie oft Du da oben jetzt das Wort "krank" verwendet hast? Aber Mensch ist ja nicht nur durch krankheitswertige Störungen determiniert, sondern sogar vielleicht noch viel stärker durch seine Prägungen.

Nehmen wir einmal ein "normaleres" Beispiel: Jemand gerät immer wieder in Wirtshausschlägereien. Warum passiert das? Weil er als Kind nie derart sozialisiert wurde, Differenzen mit anderen Methoden als mit der Faust zu lösen. Dieser Mensch ist nicht krank ... es gibt nur einen "Fehler" in seiner Sozialisierung.

Wobei es eigentlich ja kein Fehler ist, sondern nur ein Verstoß gegen einen gesellschaftlichen Wunsch ... denn letztendlich ist der Einsatz von Körperkraft (Gewalt) zum Durchsetzen einer Meinung ja eine sehr menschliche Eigenschaft, die uns nur allen weitgehend abgewöhnt wurde. Letztendlich ist ja gerade der Einsatz von Gewalt und dessen Sanktionierung oder Bestrafung immer nur eine Frage, auf welcher Seite des Gesetzes oder auf welcher politischen Seite man steht.

In diesem Sinne ist der Mensch also sogar determiniert ... er hat keine Handlungsalternative, weil er diese nie gelernt hat. Er ist deshalb aber weder kränker noch gesünder als andere Menschen, er hat nur andere Regeln aus seiner Erziehung, die mit den gesellschaftlichen Regeln nicht kompatibel sind.

Nun könnte man diesem Menschen unterstellen, dass er ja in Eigenverantwortung seine Defizite hätte ausgleichen können. Dazu müsste diesem Menschen aber erst bewusst werden, dass er ein Defizit hat. Dieses Defizit kann er aber nicht erkennen, da er ja nie etwas anderes gespiegelt bekommt, als das was er selber lebt. Und selbst wenn er etwas Anderes erleben würde, würde er es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als Handlungsalternative erkennen (wobei Gewalt bei entsprechender Stärke immer die effizienteste Handlungsalternative ist).

Menschen brauchen immer einen entsprechenden Leidensdruck, um ihre Defizite zu erkennen und auszugleichen! Ist das, was bis dahin geschieht wirklich ihre Schuld? Kein Mensch würde es so sehen ... oder? Und trotzdem ist der Mensch determiniert in seinen Handlungen.
 
Hallo,

ich bin positiv überwältigt über den interessierten Anklang meiner Frage. Ich beziehe mich dabei auf die strafrechtlichen Vorgänge, wo gerichtspsychiatrische Gutachten herangezogen werden. Da werden dann Gewaltauffälligkeiten schon pathologisiert (z. B. antisoziale Persönlichkeit). Weiter lese ich noch rechtsphilosophische Literatur dazu. Was sich davon wirklich im realen Leben empirisch beobachten lässt, wäre für mich aller Wahrscheinlichkeit nach der Wahrheit am nächsten, relativ gesehen. Damit meine ich nicht nur den naturwissenschaftlichen Aspekt, sondern auch innere Prozesse und persönliche Beobachtungen, die von anderen bestätigt werden und womöglich sogar eine gewisse statistische Aussagekraft aufweisen könnten, sofern es dazu Studien gäbe.

Ein Problem in der Diskussion stellen immer wieder unterschiedliche Definitionen der Begriffe Determinismus und Willensfreiheit dar. Wenn der Determinismus ohne Selbststeuerung wirksam wäre als reines Zufallsprinzip, dann würden alle bewussten Aktionen erstmal aus diesem Begriffsbereich herausfallen. Die Naturwissenschaft betrachtet dies allerdings weitgefasster, da das Gehirn solche Handlungsabläufe organisiert, auch unbewusst und intuitiv. Die Determiniertheit besteht danach in der Abhängigkeit vom Gehirn und dessen Funktionstüchtigkeit in entsprechenden Gehirnarealen. Sobald es da zu neurologischen Abweichungen kommt, wird es auch die auszuführenden Handlungen beeinflussen. Offenbar werden aber auch bei neurologisch Gesunden die Entscheidungsprozesse vor dem eigentlichen Entschluss vom Gehirn vorbereitet und eingeleitet, noch bevor es zum Entschluss kommt. (Es gibt Fachleute, welche diese Studien stützen und solche, die sie widerlegen, je nach Grundhaltung.)

Man könnte das natürlich auch anders interpretieren, nämlich durch die Aufgabenstellung an den Probanden, der ja weiß, dass er sich entschließen muss im Verlauf des Tests. So kann das Gehirn sozusagen anlaufen. Für mich wäre es naheliegend, da ich bei mir im Alltag beobachte, wie ich vor gewissen Situationen innerlich darauf fokussiere, intuitiv, mit Vorahnungen und Voreinschätzungen. Es könnte mit einer natürlich angelegten Präkognition erklärt werden, würde z. B. auch ins Evolutionsmodell und deren Selbsterhaltungsoptimierung passen, wo solche Frühwarnsysteme genetisch und anthropologisch sinnvoll wären, um zu überleben. Auch im religiösen Sinne wäre dies denkbar, sozusagen schöpferisch oder göttlich eingegebene intuitive Eingebungen und Vorahnungen (der Seele).
 
Dem wird gerade wissenschaftlich nachgegangen, hier ein interessantes Video dazu:

Leider ist das Video nicht unbedingt wissenschaftlich. Bei den Befragungen in Afrika schwingen so viele europäische Glaubenssätze mit, die in Afrika nicht gelten, und die letztendlich leider zu teilweise falschen Schlussfolgerungen führen.

Was mir wirklich gefällt ist die Einstellung bei der Gerichtsmedizin, die sich auch sehr mit meiner eigenen deckt ... wenn jemand eine bewusste Entscheidung für einen Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln getroffen hat, dann soll derjenige bestraft werden. Wenn er aber auf Grund seiner Prägungen keine Handlungsalternative gehabt hat, dann soll ihm geholfen werden. Wobei letztendlich dann immer noch die Frage offen bleibt, ob die bewusste Entscheidung im ersten Fall wirklich eine bewusste Entscheidung ist.
 
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Was mir wirklich gefällt ist die Einstellung bei der Gerichtsmedizin, die sich auch sehr mit meiner eigenen deckt ... wenn jemand eine bewusste Entscheidung für einen Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln getroffen hat, dann soll derjenige bestraft werden. Wenn er aber auf Grund seiner Prägungen keine Handlungsalternative gehabt hat, dann soll ihm geholfen werden.

Dann wird Dir die Einstellung des Strafverteidigers in folgendem Video gefallen, er drückte sich am Ende des Videos ähnlich aus (finde ich einen guten Anhaltspunkt).

 
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