Die Fabel Vom Seeadler

Tariel

Aktives Mitglied
Registriert
21. August 2003
Beiträge
1.373
Ort
Kosmopolitanien
Einst flog ein Seeadler über das Meer, weil er wissen wollte was auf der anderen Seite des Meeres sei. Weil der Weg so weit war, landete er zum Ausruhen auf einer kleinen, kargen Insel, auf der nur ein paar Gräser wuchsen. Dort liefen seltsame Vögel rum, die meistens fast keine Federn hatten. Er fragte die Vögel, warum dies so sei und sie antworteten, dass ihr Herrschern ein mächtiger Leguan wäre, der schon sehr alt sei und sehr weise. Er habe ihnen gesagt, dass man sich die Federn auszupfen müsse und nur wer sich ein Leben lang die Federn immer ausgezupft habe, der könne einst am Lebensende diese karge Insel verlassen. Dem Seeadler erschien das widersinnig und er wunderte sich, denn wenn man sich die Federn ausrupft, dann kann man doch nicht fliegen und muss doch auf der Insel bleiben.



Er fragte die Vögel, warum sie denn nicht einfach von dieser kargen Insel wegfliegen würden, doch sie antworteten „Wohin sollten wir denn fliegen? Es gibt doch nur diese Insel auf der Welt.“ Der Seeadler, der schon viele Inseln gesehen hatte, widersprach heftig und begann zu erzählen, wie es denn auf anderen Inseln sei. Nicht alle wären so karg wie diese. Auf anderen Inseln, da gäbe es Büsche und Bäume und die Vögel würden dort in den Zweigen ihre Nester bauen. Ein alter Geier hörte erst eine weile still zu und sagte dann: „Es gibt keine Bäume. Der Seeadler lügt euch an. Schaut Euch doch die Insel an. Seht ihr etwa hier Bäume.“ Etwas verstört unterbrach ihn der Seeadler. „Natürlich gibt es Bäume auf den anderen Inseln“. Trotzig erwiderte der Geier. „Welche anderen Inseln? Es gibt keine anderen Inseln. Das hier ist die einzige Insel auf der Welt.“ Der Seeadler schaute um sich und sah ein Gipfel auf der Insel. „Lasst uns mal dort hoch steigen. Von dort müssten wir sogar eine andere sehen können.“ Der alte Geier schwieg eine Weile, atmete zweimal schwer durch und verkündete dann selbstsicher „ Was Du da siehst, das ist nur ein Felsen, den der böse Drache dorthin geworfen hat, der früher hier geherrscht hat. Auf dem Felsen gibt es auch keine Bäume. Der böse Drache will nur, dass die Vögel die dort hin flatterten, abstürzen und umkommen.“ „Wer ist denn dieser alte Drache, denn du hier erwähnst“ wollte der Seeadler wissen. Der Geier zeigte auf eine Felsen, wo die Geschichte der Insel als Bildergeschichte eingeritzt war. „Sieh her, dass ist der böse Drache, der früher hier war und das hier, das ist der Leguan, der ihn besiegt hat, das ist unser Herrscher“. Der Seeadler betrachtete das Bild eine Weile und meinte dann: „Die beiden sehen sich aber ziemlich ähnlich. Sind das denn wirklich zwei verschiedene? Der Leguan mag doch bestimmt so ausgesehen haben wie der Drache als er noch jung war“. Wütend schrie der Geier dazwischen „Der Drache ist der eine und der ist böse und der alte Leguan ist der andere und der beschützt uns vor dem Drachen. Basta. Und überhaupt solltest du dir auch die Federn auszupfen. Das ist hier so Brauch.“ Der Seeadler aber weigerte sich. „Wenn ich mir wie ihr auch meine Federn ausrupfe dann kann ich doch nicht mehr weiter fliegen“ Dann erhob er sich in die Lüfte und begab sich auf die Suche nach dem alten Leguan. Er fand ihn schließlich, doch es erschreckte ihn was er da sah. Der Leguan war alt und blind und sein Maul war blutverschmiert. Er lebte in dem Eingang einer Höhle und vor seiner Höhle lagen die Kadaver von toten Vögeln, an denen einige Geier die letzten Reste an Fleisch abknabberten. Der Seeadler ließ sich in etwas Abstand nieder, so dass ihn der Leguan und die Geier nicht bemerkten und beobachtete sie einen ganzen Tag lang. In der Abenddämmerung ging schließlich der Leguan auf Jagd. Es fiel im offensichtlich schwer zu jagen. Aber weil die Vögel keine Angst vor ihm hatten, konnte er sich ihnen leicht nähern und weil sie ohne Federn nicht davonfliegen konnten, gelang es ihm, einige zu erwischen.



Nach Einbruch der Dämmerung versammelten sich die Geier beim alten Leguan. Einer begann den Leguan zu preisen „Gelobt sei der Leguan, der uns immer an seinem Festmahl teilhaben lässt. Wie groß seine Güte ist, dass er uns das Aas gibt, das wir zum Leben brauchen. Gepriesen sei der Leguan.“ Der Seeadler verhielt sich ganz still, dass keiner ihn wahrnahm und damit er auch genau mitbekam, was dann der Leguan sagte. „Meine lieben Geier. Ihr habt mir immer treu gedient. Ich habe aber schlechte Nachrichten. Viele Vögel halten sich nicht mehr an das Gebot, ihre Federn zu zupfen. Einige flattern schon herum. Wisst ihr was es bedeutet, wenn sie die Insel verlassen würden. Ich kann die Samen der Gräser nicht essen. Das können nur die Vögel. Ohne sie würde ich verhungern und auch ihr, die ihr vom Aas dieser Vögel lebt. Es muss wieder Ordnung sein unter den Vögel, dass ein jeder sich seine Federn zupft, wie das Gebot es sagt.“ Einer der Geier verbeugte sich unterwürfig vor dem Leguan und fragte: „Ehrwürdiger Leguan. Wie sollen wir es machen, dass sie wieder die Gebote halten?“. Mit leiser, aber eindringlicher Stimme erwiderte der Leguan: „Meine lieben Brüder, der Schlüssel zur Folgsamkeit ist Angst und Hoffnung. Sagt ihnen, die Raben würden dem bösen Drachen dienen und sie würden uns bedrohen. Erfindet einfach irgendwelche Gefahren. Und sagt, bald würden eine neue Zeit anbrechen, die viel besser sei und in der es jedem, der die Gebote gehalten hat, gut ginge. Schiebt dann den Raben ein paar Gräueltaten in die Schuhe. Wenn dann der Hass auf die Raben groß genug ist, ist es ein Leichtes für uns, die anderen Vögel im Kampf gegen die Raben auf unsere Seite zu bekommen. Und erzählt den anderen Vögel, dass der alte Leguan prophezeit hat, dass es noch vor der guten Zeit einen Endkampf von GUT gegen BÖSE gäbe. Dann werden die Vögel glauben, dass ich die Zukunft kenne . Und sagt ihnen vor allem, dass dieser Kampf eine notwendige Reinigung sei, weil so viele die Gebote nicht mehr halten. Das Böse müsse erst vertilgt werden, damit das Gute entstehen könne“ Die Geier verbeugten sich vor dem Leguan mit den Worten „Es geschehe nach deinem Willen“ und verließen den Platz.



Am nächsten Tag erzählte der Seeadler den anderen Vögeln was er gesehen hatte, doch sie glaubten ihm nicht und verlachten ihn. Egal wovon er erzählte, ob nun über andere Inseln, über Bäume, dass der Drache und der Leguan identisch seien, dass man sich die Federn wieder wachsen lassen müsse? Sie glaubten, alles das würde der Seeadler nur erfinden, denn es unterschied sich völlig von dem, was die Geier ihnen bislang schon ihr Leben lang erzählt hatten. Einer beschimpfte den Seeadler „Wenn wir die Federn nicht rupfen, werden wir nie die Insel verlassen können. Ist es das, was Du willst? Rupf dir besser erst mal selbst die Federn aus“ Ein anderer tönte „Es fehlt dem Seeadler einfach der Sinn für das Schöne. Er kann sich einfach nicht an der schönen, hellen Haut erfreuen, die zum Vorschein kommt, wenn man sich die Federn ausgerupft hat. Er merkt wohl nicht, das dieses viel sauberer ist, weil sich nicht so viel Dreck im Gefieder verfangen kann.“



So verging Woche um Woche, wo der Seeadler mit den Vögeln sprach. Wenn er zwischendurch Zeit hatte, dann erhob er sich in die Lüfte. Eines Tages traf er dort einen anderen Seeadler. Der andere sprach ihn an „Kommst Du denn von dieser kargen Insel ? Weißt Du denn nicht, dass es viele anderen Inseln gibt, mit Bäumen und Büschen?“ „Doch“, erwiderte der Seeadler, „davon erzähle ich auch immer den Vögeln auf dieser Insel“ Daraufhin fragte der andere Seeadler „Merkst Du denn nicht, dass Du aber während Du diesen etwas von den anderen Inseln und der Freiheit erzählst, selbst auf dieser Insel festgehalten wirst und wenn Du ihnen etwas vom Fliegen in den Lüften erzählst, selbst auf dem Boden bleibst? Fliege jetzt weiter und verlasse die Insel, denn sonst bist Du ebenso unfrei wie diese Vögel. Deine Heimat sind die Lüfte und diese Vögel, die selbst nicht fliegen können, binden Dich an den Boden.“



So verließ der Seeadler die Insel und wurde dort nicht mehr gesehen. Nur manchmal wenn er über die Insel flog, warf er von oben einen kleinen Zweig ab, weil er erhoffte, dass daran manche erkennen könnten, dass es woanders vielleicht doch Bäume gab. Vielleicht würde sich ja dann irgendwann ein anderer seine Federn wachsen lassen auch vom Boden der Insel in die Lüfte erheben.


Alles Liebe
Tariel
 
Werbung:
Danke für diese äusserst lehrreiche Geschichte. :blume:
So sieht man doch einmal mehr, wozu "Loslassen-Können" und "vernünftige Einsicht" gut sind. Dabei zeigen die Zweige, die der Seeadler von Zeit zu Zeit auf die Insel fallen lässt, sein göttliches Mitgefühl. :liebe1:
 
Vor allen Dingen kann man auch sehr gut erkennen, was Suggestion alles bewirkt.
Diesen Insel-Vögeln hat man das einsuggeriert, was genau ihrer Natur widerspricht, nämlich ohne Federn von dieser Insel wegkommen zu können. Sie nahmen diese Suggestion an, die eher im Sinne des Manipulators ist, und schalteten ihre eigene Vernunft aus.
Man sieht, wie wertvoll es ist, dass man vernünftig denkt und handelt, statt sich in die Irre führen zu lassen.
Sehr lebensnah. ;)
 
Freifliegender Seeadler...

was man von Icarus weniger behaupten konnte...

by the way...

wer schreibt so schöne Storys?

Gruss
Dio
 
Werbung:
Zurück
Oben