Ich habe ein neues Wort gelernt. Sedierung. Und sogleich wurde es zu meinem neuen Lieblingswort. Seit ich dieses Wort gelernt habe, geht mir nichts anderes mehr durch den Kopf. Sedierung. Ich mag dieses Wort. Es beruhigt mich regelrecht. Sedierung oder Sedation kommt, wie viele schöne Worte, aus dem Lateinerischen. Es beschreibt eine Handlung und diese Handlung führt man durch - genau - mit einem Sedativum. Soviel habe sogar ich schon begriffen.
Ich liebe nicht nur dieses Wort, ich verstehe auch die Handlung dahinter und sehe durchaus ihre Notwendigkeit in vielen Fällen. Es gibt nicht genug Personal, um sich mit jedem einzelnen Bewohner rund um die Uhr zu beschäftigen oder ihn zu bewachen, dass er nicht aufspringt, obwohl er nicht mehr richtig mobil ist, stürzt und sich einen schlimmen Bruch zuzieht. Also sediert man bis zu einer gewissen Tiefe. Das leuchtet mir alles ein.
Schließlich sind 187.- Euro Tagsatz nicht viel. Da kann man sich nicht zuviel erwarten. Altern ist nicht immer schön und Demenz nicht wirklich lustig. Darum verstehe ich nur schwer, dass man im Pflegeheim nicht gerne offen darüber spricht. Was es wiegt, das hat es. Also ich zumindest kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man hier lieber etwas verbergen will, was offensichtlich ist. Die Sedierung, die Handlung hinter meinem neuen Lieblingswort.
Rein aus Neugier, weil ich kürzlich selbst Quetiapin - das ist ein Neuroleptikum - in recht hoher Dosierung verschrieben bekommen habe und daher mit der sedierenden Wirkung des Präparats Erfahrung machen durfte und gar nicht um die Für und Wider des Mittels mit den Pflegern auszudiskutieren, gehe ich raus zum Stützpunkt um mal kurz nachzufragen. Die Pfleger kennen mich schon und grüßen mich freundlich aus der Ferne:
"Hallo Crazy Monk, wie gehts?"
"Danke der Nachfrage, mir gehts gut. Ein bissel schwindelig ist mir und das Geld ist knapp, aber sonst bin ich zufrieden. Ich wollt nur wegen meiner Mutter kurz nachfragen... bekommt sie noch diese Seroquel?"
"Ja." sagt der Pfleger. Er wirkt ein wenig überrascht, denn ich stelle normal nicht viele Fragen. Und offenbar hat er kurzfristig vergessen, dass er mir über Medikamentation eigentlich keine genauere Auskunft geben will. Oder darf... ich weiß es nicht.
"Wieviel Milligramm bekommt sie pro Tag?" frage ich weiter, noch immer benommen von meiner eigenen Quetiapin-Dosis vom Vorabend.
"Da musst du den Doktor fragen, Crazy Monk. Über die Medikamente dürfen wir keine Auskunft..."
Ich will mir den freundlichen Umgang mit dem Pflegepersonal nicht verderben und lass ihn in Ruhe, verzieh mich zurück in den Aufenthaltsraum zu Mutter. Muss ich eben irgendwann am Vormittag herkommen, um den Doktor zu erreichen. Ich bin der letzte, der den Pflegern einen Vorwurf machen würde, dass sie Mutter ein Sedativum verabreichen. Schließlich habe ich ihr diese Quetiapin-Tabletten zu Hause auch schon gegeben. Natürlich auch auf ärztliche Verordnung und in möglichst niedriger Dosierung. Aber Verantwortlich für die Gabe war immer nur ich. Das scheint im professionellen Bereich anders zu sein.
Wie verhält es sich nun? Ist der Pfleger nicht befugt, mir über die Dosierung der Sedierung Auskunft zu geben oder ist er nicht gewillt, sich mit der Entscheidung des Arztes und somit tiefer mit seiner eigenen Arbeit auseinanderzusetzen?
Egal. Verständnisvoll wie ich bin, verstehe ich letztendlich beides, sehe die Unterwerfung und rieche die Angst. Unterwerfung vor dem Arzt und Angst vor der Frage des Angehörigen nach der Schwere der Handlung hinter meinem neuen Lieblingswort - der Sedierung.
Dabei will ich niemandem Angst machen, mit meiner Frage. Bin einfach nur ein wenig traurig, weil ich jetzt, nachdem ich selbst diese Tabletten verordnet bekam und recht hoch dosiert austesten durfte, begreife, was ich meiner Mutter da ein paar Jahre lang eingegeben habe. Natürlich fühle ich mich für den Verlauf der Demenz mitverantwortlich. Da gibt es kein Hin und Her Gerede. Und ich befürchte, aufgrund von Beobachtungen bei der Abendportion, dass sich die Tagesdosis mittlerweile zumindest verdreifacht hat. Darum bin ich rausgegangen und wollte wissen, wieviel sie mittlerweile wirklich bekommt. Das wäre zumindest mal eine Erklärung für mich, warum Mutter keinen einzigen zusammenhängenden Satz mehr bilden kann.
Aber man redet nicht gern mit mir, wenns um heikle Dinge geht.
Und das macht mich aufs neue traurig, wo ich doch so verständnisvoll bin.