In dem Zusammenhang die Frage der Hochsensitivität. Für mich ist die Frage: schafft man es schon, Verantwortung für diese Art zu sein zu übernehmen? Schafft man es schon, die eigenen Wahrnehmungen so zu sortieren, daß man mit ihnen ein normales Leben führen kann?
Wenn ich mich selber betrachte: fürchterlich viele Wahrnehmungsinhalte. Hochbegabung und Hochsensitivität verknüpft zu einem sozialbegabten Wesen. Eine Katastrophe letztlich, damit klar zu kommen, sich in dieser Welt wirklich zu entwickeln und nicht so klein zu bleiben, wie man begonnen hatte. Also auch: erwachsen werden, die Einschränkungen der Sozialisation immer mehr ablegen, diese Fähigkeiten neben allen anderen Fähigkeiten wirklich auch einbringen und die eigene Art des Soseins zulassen können. Mit allen möglichen Einblicken in Zusammenhänge, die sich nur dem kognitiv etwas besser verknüpften Menschen zeigen.
Ich sag mal so: wenn ich die Facetten des Menschenseins, die ich bereits aus Eigen- und Fremdbeobachtungen heraus kenne, in ein Bilderbuch malen würde, dann hätte dieses Buch bei mir mehrere tausend Seiten. Ein "normaler" Mensch, der weniger sensitiv und kognitiv veranlagt ist, hält in seinem Gedächtnis vielleicht gerade mal 50 vor, die er entdeckt hat und sich behalten hat. (Deshalb werde ich auch als ein sehr guter Gesprächspartner beschrieben, weil ich eben soviele Facetten kenne und daher empathisch sehr genau identifizieren kann, was gerade im Anderen und dadurch auch in mir vorgeht.)
Bei diesem gesamten Facettenreichtum hat es sich bei mir als praktisch erwiesen, sich einige wenige Dinge zu suchen, die man selber nur für sich tut und die man auch mit niemandem teilen kann. Ich selber habe natürlich auch lernen müssen, die Vielfältigkeit meiner Wahrnehmungen und die psychischen Beschäftigungen, die sich daraus ergaben, zuzulassen und sie gleichzeitig aber auch zu koordinieren und in den Griff zu bekommen. Ich habe mir da ganz einfach einige Regeln erarbeitet, die ich anwende, und dann klappt es eigentlich ganz gut. Gerade wenn ich beim Arbeiten dann meine Hochsensitivität nutze und mir erlaube, meinen eigenen Verständnishorizont von einer Sache anderen mitzuteilen, bekomme ich sehr gute Feedbacks. Denn selbst Menschen, die ich für sehr gebildet und sehr weise halte, sagen mir dann, daß mein Blickwinkel auf die Materie ihnen doch nochmal eine andere Perspektive eröffnen konnte. Und sie loben meine Art, Schwieriges, eigentlich sehr vielfältig zu Betrachtendes kurz und prägnant in einer einzigen kurzen Aussage auf den Punkt zu bringen. Das kann ich aber nur, weil ich vorher schon soviel über diese Sache nachgedacht hatte und weil ich diese Sache auf deutlich mehr Arten und Weisen beleuchtet habe, als die meisten anderen Menschen, die ich kenne.
Diese Vielschichtigkeit meiner Wahrnehmung durchblicken zu lassen und sie im Ergebnis zu äussern, ist für mich ein schwieriger Prozeß. Jeden Tag. In jeder Sekunde. Es ist meine Lebensaufgabe, meine Hochbegabung und meine Hochsensitivität zu meistern und mein Lebensziel zu erfüllen: daß ich gerne lebe, daß ich fruchtbar bin und wenn auch nur im Geiste, daß ich mich wohl fühle. Daß ich harmonisch sozial mit anderen lebe, auch wenn ich ihr Vorgesetzter, ihr Lehrer, ihr Kontrolleur oder ihr Konkurrent bin. Ich will mich in Harmonie bringen. Und siehe da, seit ich das aktiv probiere, harmonisiere ich auch meine Umgebung, wirke schlichtend und fördernd dort, wo ich es kann. Weil ich bin wie ich bin. Ich kann also im Moment für mich sagen, daß ich aktiv das Beste aus meiner Situation und damit auch aus meinem Leben zur Zeit mache und darauf bin ich super stolz. Und glücklich bin ich darüber. Denn das war eben nicht so, bis ich etwa 37 war.
Damals habe ich wohl eine Tiefe in mir entdeckt, einen Halt, den ich nicht mehr loslassen muß, wenn ich das Haus verlasse. Ich nehme immer einen inneren Kern von mir mit, den ich mir in mühseliger Meditationsarbeit in 25 Jahren erarbeitet habe. Er ist an Bilder geknüpft, z.B. ein stiller Bergsee in meinem Bauch. Er ist an Laute geknüpft, z.B. OM. Er ist an meinen Namen geknüpft, mit dem ich mich wachrufe, wenn ich mal wieder in meinen Wahrnehmungskanälen und in meiner Denkdrüse verschwinde. Er ist aber vor allem an meinen Körper geknüpft, der mir Signale sendet, die ich niemals übersehe. Nur wenn ich schlafe spüre ich meinen Körper nicht, das war als jüngerer Mann anders. Aber neben dem Altern ist sicher auch die Meditation der Schlüssel zum Erfolg gewesen, speziell die Meditation in Bewegung, das Taichichuan. Das mache ich jetzt seit 10 Jahren und kann mir in jeder Situation blitzartig bewußt werden, falls ich abwesend war, versunken in mein komplexes Inneres.
Dieses komplexe Innere "verfasse" ich z.B. hier beim Schreiben. Ich finde es wichtig, eine stabile Form zu haben, in der ich mein Inneres ausdrücken kann. Das Schreiben bietet sich da an, aber auch das Malen, oder die Bewegung als Ausdruck. Meine "Verfassung" soll stabil sein. Ich habe keine Lust, mich mal schlecht und mal gut zu fühlen, es sei denn der Körper verursacht es. Ich will eine einzige Schwingung haben, in der ich mein Leben führen will und erleben kann, ohne daß es mir schadet. Ich muß, weil ich hochsensitiv bin, da ganz andere Verhaltensweisen an den Tag legen, als andere Menschen. Ich muß sehr viel mehr als andere Menschen darauf achten, daß das, was in mir ist und heraus kommt, geordnet ist so, wie ich es auch will.
Zusammenfassend würde ich sagen, daß ich es mit der Hochsensitivität schwer habe, mich selber zu orten, weil ich soviele Wahrnehmungen zur gleichen Zeit habe. Daher führe ich ein Privatleben, das dem Deinen recht ähnlich ist. In der Arbeitszeit aber sieht das ganz anders aus. Hier sammele ich soviele Eindrücke, daß ich sie dann hier alleine verarbeiten muß, daß ich dann hier regelrecht die Spannung, die das meinem Nervensystem und damit auch meinem Körper und meinen Organen einbringt, aktiv reduzieren muß, indem ich meditiere. Das Problem ist, daß ich jeden Muskel meines Körpers spüre, jedes Organ spüre, jeden Knochen, jeden Druck, jedes Kribbeln, jedes Geräusch, alles was sich bewegt: kurz: den gesamten Körper. Stets. Und das ist für meine Kognition noch ungewohnt. Das verlangt noch viel Aufmerksamkeit, ca.20%, würde ich sagen. Lasse ich diese 20% nicht auf meinem Körper, dann kriege ich binnen kurzer Zeit Rückenschmerzen. Mein Geist - so könnte ich es sagen - schwirrt dann in Höhen herum, die ich mir mit 40 einfach nicht mehr erlauben will. Erdung ist angesagt.
lg