"Das ist nicht mehr Buddhismus"
Der Dalai Lama wendet sich gegen Sektierertum und Fundamentalismus. Mit dem Dalai Lama sprach Andreas Bänziger (Tages-Anzeiger) in Dharamsala.
Eure Heiligkeit, glauben Sie an Geister?
Ja. Geister in einem buddhistischen Sinn sind andere Wesen als Menschen und Tiere, die unser nacktes Auge sehen kann. Diese Geister sind eine Welt für sich. Wie in der Menschenwelt gibt es gute und schlechte Geister. Und unter den guten Geistern gibt es wiederum zwei Arten: niedrige und hohe Geister. Die hohen Geister kann man als Bodhisattvas verstehen (als Wesen, die ins Nirvana eingehen dürften, aber in der Welt bleiben, um andern Menschen zu helfen, Red.). Ich glaube also nicht nur an Geister, sondern an verschiedene Arten von Geistern. Normalerweise können wir nicht mit diesen Geistern verkehren. Aber unter gewissen Voraussetzungen ist Kommunikation möglich. Das ist die Erklärung für das Orakel oder Medium.
Ist Dorje Shugden ein Geist?
Ja. Darum dreht sich ja die Kontroverse. Das ist halt ein bisschen kompliziert. Die bedeutenderen Geister gehen auf die Zeit von Padmasambhava im 8. Jahrhundert zurück (Padmasambhava gilt als grosser Geister- und Dämonenbezwinger in Tibet, Red.). Damals leisteten diese Geister zunächst Widerstand, akzeptierten dann aber die Belehrung durch Padmasambhava (wodurch einige zu Schutzgeistern oder -gottheiten des Buddhismus und Tibets wurden, Red.). Zu dieser Kategorie gehört das Staatsorakel Nechung. Wir halten diese Geister für zuverlässig, denn sie haben eine lange Geschichte ohne jede Kontroverse in über 1000 Jahren. Shugden gehört offensichtlich nicht zu dieser Kategorie. Er entstand erst zur Zeit des 5. Dalai Lama (17. Jahrhundert, Red.). Der 5. Dalai Lama sagt in seiner Autobiographie, dass Shugden wegen eines schlechten Karmas sehr schädlich wurde und dass er ihn deshalb zerstörte. Die Anhänger von Shugden halten ihn für einen sehr guten Geist. Aber der 5. Dalai Lama machte klar, dass er Shugden als eine negative Kraft betrachtet.
Warum ist das alles heute so wichtig?
300 Jahre lang hatte das sehr wenig Bedeutung. Im südlichen Tibet, wo dieser Geist lebt, wurde Shugden von den Leuten als lokale Gottheit verehrt. Das ist in Ordnung. Aber grosse Meister wie Tsongkhapa (der Begründer der Gelug-Schule, Red.) verehrten solche lokalen Geister nie. Erst unter dem 13. Dalai Lama (dem Vorgänger des jetzigen Dalai Lama, Red.) wurde ein wichtiger Lama zum Verehrer von Shugden, und der 13. Dalai Lama rügte ihn deswegen.
Erklärt das, weshalb Sie selber diesem Geist eine Zeitlang wohlgesinnt waren?
Es war ein Fehler von mir, dass ich um 1950 unter dem Einfluss eines gewissen Lama Kontakt zu diesem Geist aufnahm, dass ich ihn anrief und verehrte. Zu meiner Schande muss ich das gestehen, ich denke, es geschah aus Unwissenheit. Das ist kein Geheimnis, und ich kann es erklären.
Probleme gab es, als Klöster in Indien (die exilierten Klöster der "reformierten" Gelug-Schule Ganden, Drepung und Sera, Red.) anfingen, Shugden zu verehren und sogar mein zweiter Lehrer sich diesem Geist zuwandte. Ich begann, eine Untersuchung anzustellen, mit dem Resultat, dass ich die Shugden-Verehrung beendete. Aber ich behielt das für mich, bis merkwürdige Geschichten auftauchten, wonach einige Lamas und Beamte von Shugden zerstört wurden, weil sie Praktiken anderer Schulen aufnahmen. Denn diese Leute glauben, dass sich Anhänger der Gelug-Schule nur an die Gelug-Schule halten und keine Unterweisung aus andern Traditionen erhalten sollten. Das ist eindeutig sektiererisch, und Sektierertum ist ein Problem. Deshalb gelangte ich an die Öffentlichkeit. Dieser Geist soll nichts zu tun haben mit der tibetischen Regierung (im Exil, Red.), mit der Freiheit Tibets, weil er so schlechte Beziehungen hatte mit dem 5. Dalai Lama und auch mit dem 13. Dalai Lama. Ich gab auch den Rat, dass die Klöster Shugden nicht speziell verehren sollen. Mit individueller Verehrung gibt es kein Problem, das ist das Recht des Individuums, ob gläubig oder nicht gläubig.
Wie haben die Tibeter und Tibeterinnen im Exil und in der Heimat Ihren Rat aufgenommen?
Viele Tibeter hielten sich an diese Weisung. Aber in gewissen Gegenden von Tibet nahm die Shugden-Verehrung trotzdem zu, und auch in Indien gab es Klöster, die absichtlich Shugden huldigten. Deshalb habe ich die Einschränkungen 1995 verschärft.
Haben wir es hier mit einer Art Revolte gegen den Dalai Lama zu tun? Steckt ein politisches Motiv dahinter?
Schwer zu sagen. Ich denke, am Anfang gab es kein politisches Motiv. Aber dann wurden die Chinesen auf die Kontroverse aufmerksam, und die chinesischen Behörden begannen die Shugden-Verehrung zu fördern. Ich habe drei Punkte, die gegen die Shugden-Verehrung sprechen.
Erstens ist dieser Geist nicht gut für die Regierung von Tibet.
Zweitens bin ich gegen jedes Sektierertum eingestellt, sowohl innerhalb des Buddhismus als auch ausserhalb. Ich habe immer die Verständigung zwischen Christen und Buddhisten gefördert. So sage ich auch innerhalb des tibetischen Buddhismus, dass man die verschiedenen Traditionen gleichzeitig praktizieren soll. Ich tue das auch selber, und ich finde es sehr nützlich. Für diese Einstellung ist Shugden ein schweres Hindernis.
Und drittens muss ich feststellen, dass viele Leute, auch Tibeter, sehr wenig über Buddhismus wissen und keine Ahnung haben vom Dharma (der buddhistischen Lehre, Red.). Solche Leute halten Shugden beinahe für einen Buddha. Ein Zentrum in England verehrt Shugden tatsächlich als Buddha. Manche glauben auch, dass diese Gottheit wichtig ist für ihr tägliches Leben, für das Geschäft, um Geld zu machen. So entsteht die Gefahr, dass dieser Geist wichtiger wird als Buddha. Das ist nicht mehr länger Buddhismus, wie der 13. Dalai Lama klar festgestellt hat.
Die innertibetische Kontroverse um Shugden wurde der breiten Öffentlichkeit erst durch eine Kampagne von europäischen Buddhisten aus England und der Schweiz bekannt. Warum ist dieses Thema für Sie so wichtig?
Besonders die neuen jungen Buddhisten im Westen, die oft persönliche Probleme haben, Probleme mit der Familie oder andere Schwierigkeiten, fühlen sich tief im Geist verunsichert. Sie suchen Schutz, und sie glauben, in Shugden einen mächtigen Beschützer zu finden. Diese jungen Leute glauben, dass dieser Geist wirksamer ist als Buddha. Sie halten sich für Buddhisten, aber in Wirklichkeit haben sie mehr Vertrauen in diesen Geist. Sie wissen kaum etwas von den Vier Edlen Wahrheiten. Das ist nicht der Buddhismus, der uns lehrt, wie wir Meister unser selbst werden. Die Gefahr besteht, dass der tiefgründige und verlässliche tibetische Buddhismus zur Geisterverehrung degeneriert.
Man wirft Ihnen vor, dass Sie das Menschenrecht der Religionsfreiheit verletzen.
Dieser Geist ist es, der schlecht ist für die Religionsfreiheit. Dieser Geist sagt, wer ihn verehrt, soll nicht Nyingma-, Kagyü- oder Sakya-Lehren praktizieren (die drei andern Schulen des tibetischen Buddhismus neben der Gelug, der Schule des Dalai Lama, der auch Shugden zugehört, Red.). Er sät Uneinigkeit. Dieser Shugden-Geist hat während 360 Jahren Spannungen zwischen der Gelug-Tradition und den andern Schulen verursacht. Wenn man Einschränkungen gegen einen Fundamentalisten erlässt, beschränkt man nicht die religiöse Freiheit, sondern man verteidigt sie. Mir ist es nur recht, dass jetzt diese Kontroverse nach 360 Jahren öffentlich geworden ist, und ich begrüsse es, wenn dieser Konflikt historisch untersucht wird.
Schwächt dieser Streit Ihren Kampf für ein freies oder autonomes Tibet?
Ich glaube nicht. Einige mögen das Vertrauen in mich verloren haben. Aber gleichzeitig haben zahlreiche Anhänger der Kagyü- oder der Nyingma-Schule erkannt, dass der Dalai Lama einen wirklich nichtsektiererischen Kurs verfolgt. Ich glaube, diese Shugden-Verehrung ist seit 360 Jahren wie eine quälende Eiterbeule. Nun habe ich wie ein moderner Chirurg eine kleine Operation vorgenommen. Das tut im Moment etwas weh, aber es ist nötig, um das Problem zu lösen, sonst wird es weiter stören.
Tages-Anzeiger, Andreas Bänziger
23.03.1998
(
http://www.tibetfocus.com/shugden/shugden_interview.htm)