ich mag den begriff schatten an sich sehr, weil er an das vorhandensein von licht gebunden ist. wohl deshalb hat c. g. jung den dunklen archetyp als schatten bezeichnet. und er gehört unverzichtbar zur sammlung jener archetypen dazu, die unser ganzes ergeben - mag es nun unser persönliches ganzes sein oder das jeweilige ganze in unseren umgebenden zwiebelschichten (für die wortklauber: ich weiß schon, dass es eigentlich nur ein ganzes geben kann - aber sprache vereinzelt nun mal, und da zeigt sich das große ganze in vielen mehr oder weniger kleinen phänomenen...).
schatten ist also - das ist mir wichtig - nix schlechtes. diese bewertung der lichtvollen bravo-anteile und der dunklen pfui-anteile unserer persönlichkeit entstammt einem bürgerlich-ideologischen moralsystem, das keine psychologischen und erst recht keine esoterischen sichtweisen akzeptiert. in diesem system sind die weißen die guten und die dunklen die bösen ... bombe drauf und kusch.
aber selbst die moral braucht ihre schatten, denn wie sonst könnte sie ihre notwendigkeit begründen? angst vor der energie der schatten, die als verdrängte energie besonders machtvolle, unheimlich drängende energie ist... und je dicker der staudamm, desto bedrohlicher die wucht des aufgestauten...
schattenenergie ist wie jede energie nicht zu bewerten, sie ist. punkt. frage ist, wie wir mit ihr leben. ich mag sehr das yin-yang-symbol der ineinander verschlungenen fischblasen. das ganze ist kein einförmiges grau, sondern die einsicht, dass in der frequenz der dualität schwarz und weiß neben- und miteinander das ganze ergeben. nicht als mischung, sondern als wohlunterschiedene qualitäten. der tag hat eine andere qualität als die nacht, und alle versuche, die nacht zum tag zu machen, sind letzten endes sinnlos.
integration des schattens kann - wie ich es sehe, ganz subjektiv - nicht so etwas wie aufhellung des schattens, durchdringung mit licht, bekämpfen des schattens etc. sein. das wäre dann wieder das vergrauen, der versuch, die nacht zum tag zu machen, in der regel eine folge von angst vor dem schatten.
welches ziel hätte schattenarbeit? wenn ich gelegentlich lese, es ginge darum, auch seinen schatten zu leben, dann fang ich mich zu fürchten an. entweder ist da nicht gar so viel schatten (was dann auch auf das licht ein spärliches licht werfen würde...) - oder es ist erst recht ein verdrängungsmechanismus, der den teufel mit beelzebub austreiben will: ein bisserl schatten leben, mal mit wohligem schaudern die eine oder andre regel brechen, mal die sau rauslassen, mal so tun, als ob... wenn ich die wucht meines schattens wirklich leben würde - ich wär bald hinter gittern. aber vielleicht bin ja auch das nur ich.
gretchen hat zum teil sicher recht, dass alles, was wir tun, auch einen schatten wirft und den schatten in uns mitbaut. was uns als schatten-archetyp, als dunkles yin zum hellen yang aber erfüllt, geht weit über diese tageslicht-schatten hinaus. wir versammeln in uns die schatten der menschheit - der schatten ist nach c. g. jung ein kollektiver archetypus - und ganz konkret die schatten unseres herkunfts- und bezugssystems, und da ist der erste schritt von schattenarbeit die wahrnehmung. ganz wörtlich: die bereitschaft, es als faktum zu nehmen, dass der schatten in uns wahr ist. wahr nehmen.
liebevoll und würdigend wahr nehmen. oft und oft habe ich es erlebt, dass in dem augenblick, in dem das gelingt, die schatten-energie nicht mehr unheimlich und drängend ist, sondern in nahezu wunderbarer weise sich zu einer kraft wandelt. "nur" durch eine andere qualität des hinschauens, des wahr nehmens. nicht mit dem moralischen zeigefinger, sondern in liebe und demut annehmend.
das führt dann in einem zweiten schritt dazu, nicht den schatten zu leben, sondern aus der kraft des schattens zu leben. und da kehren sich vordergründige ursache-wirkung-relationen um: wo die schattenenergie kraftvoll fließen kann, scheint auch das licht viel heller.
ob jeder weg auch automatisch zur schattenarbeit führt? ich glaube nicht. ich glaube sogar ganz ketzerisch, dass gerade die esoterik eine fülle an verführerischen, saumselig wonneproppig betulichen illusionen anbietet, genau dieses nehmen des schattens zu vermeiden.
und noch ein gedankensprung: ich habe mal das tagebuch der hl. therese von lisieux gelesen, eine nonne, die sehr jung in ihre kongregation eingetreten und auch sehr jung gestorben ist. sie beschreibt in hymnischer weise die süße ihres leidens und ihre hingabe an den geliebten christus ... und beides mit so inbrünstiger lust, dass es auch als das tagebuch einer masochistin gelesen werden kann. sehr licht und sehr schatten... offenbar ist es also nicht das mittelgrau, das heil(ig) macht...
alles liebe,
jake