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Definition „Extremismus“ –
„Linksextremismus“
Bei „Extremismus“ und „Linksextremismus“ handelt es sich um zwei grundlegen-
de Arbeitsbegriffe, die bestimmte Auffassungen und Perspektiven enthalten. Somit
bedarf es einer Erläuterung des konkret Gemeinten. Außerdem findet man in der
politischen und wissenschaftlichen Debatte auch Einwände, die sich gegen das
Verständnis von „Extremismus“ und „Linksextremismus“ richten. Diese Kritik soll
ebenfalls aufgegriffen und kommentiert werden. Demnach geht es im Folgenden
zunächst um Begriffsgeschichte und Wortbedeutung von „Extremismus“ (2.1), die
Negativ- (2.2) und Positiv-Definition des Begriffs (2.3), die daran geäußerte Kritik
(2.4) und die Kritik dieser Kritik (2.5). Anschließend stehen die Unterscheidung
von „links“ und „rechts“ (2.6), die Definition von „Linksextremismus“ (2.7), An-
archismus und Kommunismus als deren „Ideologiefamilien“ (2.8), das Verhältnis
von Linksextremismus und Kapitalismuskritik (2.9) sowie von Linksextremismus
und Sozialismusforderungen (2.10) im Zentrum des Interesses.
2.1 Extremismus – Begriffsgeschichte und Wortbedeutung
Zunächst aber zum Extremismus-Begriff: Er geht auf das lateinische Wort „extre-
mus“, also „der Äußerste“ zurück. Damit deutet sich schon an, dass Extremismus
nicht allein für sich, sondern in Abhängigkeit von einem anderen Terminus oder
Wert definiert werden muss. Es geht demnach um die äußerste Abweichung oder
den äußersten Gegensatz von einem anderen Prinzip oder Standpunkt. Die Bezeich-
nung kann also nicht für sich allein, sondern immer nur im Spannungsverhältnis
zu etwas Anderem stehen. Was dieses Andere ist macht auch den Kernaspekt des
inhaltlichen Verständnisses von „Extremismus“ aus. Die Geschichte des Terminus
lässt sich nach Uwe Backes historisch betrachtet bis in die Zeit der griechischen
A. Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland,
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DOI 10.1007/978-3-658-04507-4_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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2 Definition „Extremismus“ – „Linksextremismus“
Antike zurückverfolgen: Der Begriff des politischen Extrems geht auf die altgrie-
chische Maßethik zurück, welche bei Handlungen ein Zuviel und ein Zuwenig als
Abweichungen von einer Mitte unterschied. Platon übertrug diese Kategorie auf
seine Staatsformenlehre und gab ihr damit eine politische Bedeutung.
Auch bei Aristoteles findet man eine Verbindung der ethischen Auffassung von
Mitte mit dem politischen Plädoyer für einen Staatstyp. Beide Philosophen traten
mit unterschiedlicher Ausrichtung für die Etablierung von gemäßigten politischen
Ordnungssystemen auf Basis einer Mischverfassung ein und lehnten die Despotie
ebenso wie die Pöbelherrschaft als extreme Abweichungen davon ab. Dieses Ver-
ständnis spielte danach erst wieder in der Neuzeit eine Rolle im politischen Diskurs:
Seit dem nutzte man den Begriff „Extremismus“ häufig in politischen Umbruchpha-
sen, um damit die Protagonisten eines besonders rigiden Vorgehens zu bezeichnen.
Zunächst bedienten sich Betrachter des Zeitgeschehens dieser Formulierung aber
nur sporadisch, ohne dass sie im öffentlichen Diskurs allgemeine Anerkennung
fand. Dies geschah erst im 20. Jahrhundert, zunächst nach der Oktoberrevolution
der Bolschewiki in Russland 1917 und dann nach der Machtübertragung an die
Faschisten in Italien 1922 (vgl. Backes 2006).
Bei dieser Begriffsverwendung wurden inhaltliche Gesichtspunkte deutlich, wel-
che auch das heutige Verständnis des Terminus prägen: Es geht um politische
Bestrebungen, die eine bestehende Gesellschafts- und Staatsordnung rigoros ableh-
nen. Dabei spielt die jeweilige ideologische Begründung und politische Zielsetzung
der Akteure keine entscheidende Rolle. Als grundlegend für das Verständnis
muss vielmehr die angesprochene fundamentale Ablehnung der politischen Ge-
gebenheiten gelten. Unbestimmt blieb in diesem Verständnis aber die inhaltliche
Besonderheit des Abgelehnten, womit die undifferenzierte Verwendung des Termi-
nus als Bezeichnung für alle oppositionellen Tendenzen möglich wurde. Zu einem
diesbezüglich trennschärferen Verständnis kam es in der Bundesrepublik Deutsch-
land erst zu Beginn der 1970er Jahre, gingen doch die Verfassungsschutzbehörden
seinerzeit dazu über, politische Bestrebungen gegen die juristisch definierte frei-
heitliche demokratische Grundordnung als Ausdruck des Extremismus anzusehen
(vgl. Warg 2008).
2.2 Negativ-Definition von Extremismus
In den Politikwissenschaften bildete sich erst ab Mitte der 1980er Jahre ein sy-
stematisch entwickeltes Verständnis von „Extremismus“ heraus. Entscheidenden
Anteil hatten daran Uwe Backes und Eckhard Jesse, die zahlreiche Publikationen
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2.2 Negativ-Definition von Extremismus
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(vgl. z. B. Backes und Jesse 1989) zum Verständnis von Demokratie und Extremis-
mus als einem „antithetischen Begriffspaar“ (Backes und Jesse 1983) veröffentlich-
ten. Demnach sollte der Terminus zwar weiterhin über die Ablehnung eines poli-
tischen Systems definiert werden. Im Unterschied zu den referierten Auffassungen
ging es aber nur um eine bestimmte Staatsordnung. Die grundlegende Verwerfung
von Diktaturen würde demnach nicht unter diese Bezeichnung fallen. Backes und
Jesse definieren: „Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeich-
nung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren,
die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner
fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen ...“ (Backes und Jesse 1993,
S. 40).
Demnach bezog sich der Begriff nur auf politische Bestrebungen und Ideolo-
gien, die sich gegen die Grundlagen einer modernen Demokratie richten. Sofern
gesellschaftskritische und oppositionelle Auffassungen und Organisationen deren
Normen und Regeln teilen, kann in diesem Sinne nicht von „Extremismus“ ge-
sprochen werden. Die Verwendung des Terminus „Sammelbezeichnung“ macht
außerdem deutlich, dass damit sowohl hinsichtlich der ideologischen Ausrich-
tung als auch des politischen Vorgehens ganz unterschiedliche Bewegungen und
Parteien, Organisationen und Personen erfasst werden können. Die Gemeinsam-
keiten bestehen in der Ablehnung der Minimalbedingungen eines demokratischen
Verfassungsstaates. Insofern nimmt dieses Verständnis entgegen anderslautenden
Fehldeutungen auch keine Gleichsetzung der gemeinten Bestrebungen vor. Dar-
über hinaus bezieht sich die von Backes und Jesse zitierte Definition nicht nur auf
politische Aktivitäten, sondern auch auf ideologische Prinzipien.
Diese Begriffsbestimmung von Extremismus setzt die Definition des demokra-
tischen Verfassungsstaates voraus. Demnach wird hier zunächst nicht politischer
Extremismus, sondern dessen erklärtes Gegenteil bestimmt. Allgemein gelten als
grundlegende Merkmale solcher Staatsordnungen: Gewaltenteilung und Individua-
lität, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Volkssouveränität
(vgl. u. a. Enzmann 2012; Kielmansegg 2013). Auf Basis der Akzeptanz dieser
Minimalbedingungen können die unterschiedlichsten politischen Ideen um gesell-
schaftliche Akzeptanz werben, während eine die Prinzipien gerichtete politische
Bestrebung eine solche Möglichkeit aufheben würde. Alle Auffassungen, Handlun-
gen und Organisationen in diesem Sinne gelten demnach als Erscheinungsformen
des „Extremismus“. Es handelt sich insofern um einen Abgrenzungsbegriff und
eine Negativ-Definition – konstitutiv für das Verständnis ist die Ablehnung der
Normen und Regeln des modernen demokratischen Verfassungsstaates.
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2 Definition „Extremismus“ – „Linksextremismus“
2.3 Positiv-Definition von Extremismus
Hier besteht dann aber das bereits angedeutete Problem: Es wird nicht erklärt, was
Extremismus ist, sondern was Extremismus nicht ist. Dies sieht auch Backes so,
bestehe doch die Gefahr einer inhaltsleeren und zirkulären Begriffsbestimmung
nach dem Motto: „antidemokratisch = extremistisch“ und „antiextremistisch =
demokratisch“. Außerdem werde diese Negativ-Definition dem Phänomen nicht
gerecht, da der Eindruck entstünde, „als sei der politische Extremismus etwas
Sekundäres, dessen Existenz vom Primärphänomen des demokratischen Verfas-
sungsstaates abhänge. Eine derartige Vorstellung muss jedoch ahistorisch sein.“
Die reine Negativ-Definition hat für Backes den „entscheidenden Nachteil, dass sie
das Feld der extremistischen Phänomene nur in seinem Schattenriss abbildet, so
dass das breite Spektrum der Extremismen strukturell unbestimmt bleibt. Daher
kann der Eindruck entstehen, als handele es sich um ein Spiel mit antithetischen
Begriffen, deren Definitionsbereich allzu Disparates zusammenzwingt“ (Backes
1989, S. 103, 111).
Der bedeutende Schritt, den Backes gegenüber dem bisherigen Verständnis von
Extremismus weiter geht, besteht in der aufgezeigten Notwendigkeit einer Positiv-
Definition. Dies läuft bei ihm auf die Erfassung der formalen Gemeinsamkeiten
bei der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates durch die gemeinten
Extremisten hinaus. Angesprochen sind damit die Strukturmerkmale, die allen
so unterschiedlichen Formen des gemeinten Phänomens eigen sind. Als solche
benennt Backes offensive und defensive Absolutheitsansprüche, Dogmatismus,
Utopismus bzw. kategorischer Utopie-Verzicht, Freund-Feind-Stereotype, Ver-
schwörungstheorien, Fanatismus und Aktivismus (vgl. Backes 1989, S. 298–311).
So sehr sich die einzelnen Bewegungen und Organisationen des politischen Extre-
mismus ideologisch unterscheiden und widersprechen mögen, ihnen gemeinsam
sind in dieser Perspektive die erwähnten formalen Eigenschaften ihrer Ideologie
in der Frontstellung gegen die Normen und Regeln des modernen demokratischen
Verfassungsstaates.
Ähnliche Merkmale arbeitete der Autor nach einer Analyse des linken, rechten
und religiösen Extremismus heraus: erstens den exklusiven Erkenntnisanspruch
(Glaube an ein „höheres Wissen“), zweitens den dogmatischen Absolutheitsan-
spruch (Behauptung der unbezweifelbaren Richtigkeit eigener Positionen), drittens
das essentialistische Deutungsmonopol (alleinige Erfassung des „wahren Wesens“
der Dinge), viertens die holistischen Steuerungsabsichten (angestrebte ganzheit-
liche Kontrolle der Gesellschaft), fünftens das deterministische Geschichtsbild
(Wissen um den vorgegebenen historischen Weg), sechstens die identitäre Gesells-
chaftskonzeption (Forderung nach politischer Homogenität der Gesellschaft), sieb-
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2.4 Kritik am Extremismusverständnis
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tens den dualistischen Rigorismus (Denken in kompromisslosen Gegensatzpaaren
wie Gut-Böse) und achtens die fundamentale Verwerfung (rigorose Verdammung
des Bestehenden) (vgl. Pfahl-Traughber 2010a). Allen extremistischen Ideologien
sind die genannten formalen Merkmale eigen.
2.4 Kritik am Extremismusverständnis
Im Rahmen der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den
mit „Extremismus“ gemeinten Bestrebungen wurden immer wieder Einwände ge-
gen das referierte Verständnis erhoben. Diese Kritik lässt sich in drei Kernaussagen
aufteilen: Erstens formulierte man den Vorwurf, es handele sich lediglich um einen
„politischen Kampfbegriff“. Für Manfred Funke nutzen die Inhaber der „Defi-
nitionsherrschaft über die zentralen Standards einer Gesellschaftsordnung“ die
Bezeichnung, um erkannte oder vermutete „Zerstörer der Basisstabilität“ (Funke
1986, S. 133) so markieren und ausgrenzen zu können. Wolf-Dieter Narr spricht
davon, dass der Terminus dem „Irrgarten der Kampfbegriffe“ (Narr 1980, S.
374) entstamme. Für Wolfgang Rudzio ist „Extremismus“ mehr „ein praktisch-
politischer ... Abgrenzungsbegriff“ (Rudzio 1986, S. 167). Und Christoph Kopke
und Lars Rensmann meinen, dem vorgetragenen Extremismusverständnis sei eine
„politisch motivierte Setzung“ (Kopke und Rensmann 2000, S. 1452) eigen.
Ein zweiter Einwand unterstellt eine unangemessene Gleichsetzung un-
terschiedlicher Phänomene. Helga Grebing spricht etwa von einer „falschen
Gleichung“ (Grebing 1971), wollten doch „Linke“ eine Erweiterung der Auto-
nomie des Individuums und „Rechte“ die Bindung an eine hierarchisch gestufte
Ordnung umsetzen. Hans-Gerd Jaschke meint, dass die Auffassung von der
„streitbaren Demokratie“ im Kontext des Extremismusverständnisses „keinen
substanziellen Unterschied zwischen Links- und Rechtsextremismus“ (Jaschke
1994, S. 143) macht. Auch Gero Neugebauer betont, dass die „nationalsoziali-
stischen Rechten ... antidemokratisch“ wären und die „sozialistische Linke ...
antikapitalistisch“ (Neugebauer 2000, S. 22) sei. Und nach Christoph Butterwegge
befinden sich in der Perspektive des Extremismusverständnisses „Todfeinde wie
Faschisten und Kommunisten ... per definitionem ,im selben Boot“‘ und dies
würde auf eine „Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus“ (Butterwegge
2010, S. 35, 38) hinauslaufen.
Als dritter Einwand gegen das Extremismusverständnis kann der Vorwurf der
mangelnden analytischen Reichweite gelten. Jaschke meint, diese Auffassung sei,
„wenig geeignet, tieferliegende Ursachen ins Blickfeld zu bekommen. Die er-
zwungene Gegenüberstellung von Demokratie und Extremismus „individualisiert
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2 Definition „Extremismus“ – „Linksextremismus“
Ursachenkomplexe und vernachlässigt das gesellschaftliche Bedingungsgefüge“
(Jaschke 1991, S. 53). Ähnlich argumentiert auch Neugebauer, könne das Extre-
mismusverständnis aufgrund seiner Fixierung auf den demokratischen Rechtsstaat
„der Komplexität der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit kaum gerecht“
(Neugebauer 2000, S. 14) werden. Und für Butterwegge klassifiziert die Extre-
mismustheorie „zwar alles, erklärt aber nichts“. Demgemäß spricht er ihr auch
die Wissenschaftlichkeit ab, könnten deren Anhänger einen solchen Anspruch
doch nicht erheben, „weil es sich oft nur um Typologien handelt, die bestimmte
Phänomene erfassen, beschreiben und klassifizieren“ (Butterwegge 2010, S. 39).
2.5 Kritik der Kritik am Extremismusverständnis
Bei den referierten Auffassungen handelt es sich um Fehldeutungen und Missver-
ständnisse, aber auch um Unterstellungen und Verzerrungen. Daher soll hier zu
den drei Einwänden eine Kritik der Kritik (vgl. ausführlicher u. a. Backes und Jesse
2001; Brodkorb 2011; Pfahl-Traughber 2000) erfolgen. Die erste Aussage behaup-
tet, es handele sich lediglich um einen „politischen Kampfbegriff“: Richtig ist an
diesem Einwand, dass „Extremismus“ auch als Schlagwort in politischen Debatten
inhaltlich Verwendung findet. Da dies aber für zahlreiche Begriffe der Politikwis-
senschaft gilt, lässt sich hieraus nicht die Notwendigkeit eines Verzichts auf den
Terminus ableiten. Ansonsten dürfte man politisch instrumentalisierbare Bezeich-
nungen wie etwa „Demokratie“, „Gerechtigkeit“ oder „Moderne“ auch nicht mehr
nutzen. Darüber hinaus sind die Kriterien zur Einordnung einer politischen Orga-
nisation als extremistisch klar benannt. Bei einschlägigen Bewertungen stehen die
jeweiligen Autoren in der Pflicht, überzeugende Argumente und Belege für ihre
Einschätzung vorzubringen.
Der zweite Einwand unterstellt eine unangemessene Gleichsetzung unterschied-
licher Phänomene: Hierbei handelt es sich um eine Fehlwahrnehmung, geht es dem
Extremismusverständnis doch nur um die Hervorhebung einer Frontstellung gegen
die Normen und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaates. Eine Auffassung
nach dem Motto „Links gleich Rechts“ oder „Rot gleich Braun“ geht damit nicht
einher, zumal es sich um ideologisch divergierende Auffassungen handelt. Das
Extremismusverständnis nimmt auch keine Gleichsetzung des Gefahrenpotentials
von Links- und Rechtsextremismus vor. Dies kann je nach Handlungsebene oder
Rahmensituation ganz unterschiedlich ausgerichtet sein. Das Extremismusver-
ständnis konzentriert sich in der vergleichenden Betrachtung auf die strukturellen
Gemeinsamkeiten der politischen Auffassungen und Handlungsweisen, die sich
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2.6 Unterscheidung von „links“ und „rechts“
21
gegen Demokratie und Menschenrechte richten. Die Gegner des Ansatzes müssten
erklären, warum ihnen diese Perspektive nicht wichtig ist.
Und die dritte Kritik hebt die eingeschränkte oder mangelnde analytische
Reichweite des Extremismusverständnisses hervor. Es ist in der Tat auf das Span-
nungsverhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat fixiert, womit sich allein
aber wichtige Fragen nicht beantworten lassen: Wie kommt es zur Herausbildung
extremistischer Bestrebungen? Welche Faktoren erklären deren Entwicklung? Wie
ist das Verhältnis zu etablierten politischen Kräften? Welche gesellschaftlichen
Ursachen spielen eine Rolle? Das konventionelle Extremismusverständnis konzen-
triert sich mitunter allzu sehr auf die Einordnung der untersuchten politischen
Bestrebungen. Aber diese Feststellung nötigt nicht zu dessen Verzicht. Gleichwohl
bedarf es der Ergänzung durch andere Problemstellungen. Denn die Frage nach
dem Verhältnis einer Organisation zu Demokratie und Menschenrechten bedeutet
nicht, dass man die Frage nach den Gründen für deren Entstehung und Entwicklung
nicht mehr stellen muss (vgl. als exemplarische Kritik der Kritik Pfahl-Traughber
2010b).
2.6 Unterscheidung von „links“ und „rechts“
Bevor der Linksextremismus im engeren Sinne definiert wird, sollen noch einige Er-
örterungen zur allgemeinen Unterscheidung von „links“ und „rechts“ vorgetragen
werden. Auch heute noch dienen die beiden Kategorien aus dem 19. Jahrhundert
häufig zur Einordnung von Personen oder Parteien. Gleichzeitig äußern kritische
Stimme ihre Vorbehalte gegen die Angemessenheit der Unterscheidung. Daher
fragt Norberto Bobbio nach einem geeigneten Kriterium, um die beiden politi-
schen Richtungen zumindest in relativer Betrachtung hinsichtlich ihrer Differenzen
zu erfassen. Er erblickt es in der Einstellung zur „Gleichheit“: Als „Egalitarier“ bzw.
„Linke“ gelten Bobbio jene, „die, ohne zu verkennen, dass die Menschen ebenso
gleich wie ungleich sind, eher dem größere Bedeutung beimessen, was sie gleich
statt ungleich macht“, und als „Nichtegalitarier“ bzw. „Rechte“ jene, „die von der
gleichen Feststellung ausgehen, um desselben Zieles willen dem größere Bedeutung
beimessen, was die Menschen ungleich statt gleich macht“ (Bobbio 1994, S. 78)
Gegen diese Auffassung kann der Einwand erhoben werden, es handele sich
um eine eindimensionale und vereinfachende Unterscheidung, die der Komplexi-
tät und Vielschichtigkeit zur Erfassung des politischen Spektrums der Gegenwart
nicht entspricht. So suggeriere die Rede von einer „Linken“ und einer „Rechten“
eine Einheitlichkeit der gemeinten politischen Spektren, welche angesichts ihrer
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2 Definition „Extremismus“ – „Linksextremismus“
inneren Unterschiede über die Einstellung zu Demokratie, Staat oder Wirtschaft
nicht bestehe. Darüber hinaus müssten andere Dimensionen wie „autoritär – de-
mokratisch“, „bewahrend – verändernd“ oder „individualistisch – kollektivistisch“
zur Differenzierung genutzt werden. So angemessen diese Einwände allgemein sein
mögen, so treffen sie Bobbios Unterscheidung nur eingeschränkt: Er macht auch
in der zitierten Formulierung deutlich, dass es ihm um ein Kriterium in relativie-
render und nicht in starrer Perspektive geht. Und Bobbio verwies selbst noch auf
andere Dimensionen seiner Unterscheidung von „links – rechts“.
Zunächst aber noch zu dem allgemeinen Merkmal, wozu Backes und Jesse kri-
tisch formulieren: „Die von Bobbio zur Unterscheidung von ,links‘ und ,rechts‘
eingeführte Orientierung am Gleichheitsideal ist in Wirklichkeit zu einem so
großen Ausmaß Gemeingut der freiheitlich-demokratisch ausgerichteten Parteien
geworden, dass die so entstandene Rechts-Links-Dimension im breiten Mittelfeld
des politischen Spektrums nur mehr graduelle Unterschiede kennt, jedenfalls kei-
ne tiefen, die Koalitionsfähigkeit stark beschränkenden Klüfte“ (Backes und Jesse
1997, S. 27). Diese Einschätzung trifft auf das demokratische Lager und die politi-
sche Sphäre zu. Bezogen auf die sozialen und wirtschaftlichen Bereiche lassen sich
aber durchaus noch Differenzierungen über die Einstellung zur Egalität vorneh-
men: Zwar kann man auch hier von einer gewissen Annäherung der politischen
Lager sprechen, hinsichtlich des relativen Stellenwertes von „Gleichheit“ bestehen
aber auch bei „linken“ und „rechten“ Demokraten erkennbare Unterschiede.
2.7 Definition „Linksextremismus“
Bobbios Auffassungen zu einer politischen Unterscheidung zweier Grundrichtun-
gen ist darüber hinaus keineswegs eindimensional ausgerichtet. Für ihn dient auch
das „Ideal der Freiheit“ und nicht nur das „Ideal der Gleichheit“ zur Differen-
zierung: „Es gibt sowohl auf der Rechten wie auf der Linken freiheitliche und
autoritäre Doktrine und Bewegungen. Und zwar deshalb, weil das Kriterium der
Freiheit dazu dient, das politische Ordnungssystem nicht so sehr im Hinblick auf
seine Ziele, als vielmehr im Hinblick auf seine Mittel oder auf seine Methode zu
unterscheiden, die es zur Erreichung seiner Ziele einsetzt: das heißt es bezieht sich
auf die Annahme oder auf die Verweigerung der demokratischen Methode unter
der man die Gesamtheit von Regeln zu verstehen hat, die es möglich machen, kol-
lektive Beschlüsse aufgrund freier Diskussionen und freier Wahlen zu fassen, und
nicht, weil zu Mitteln der Gewalt gegriffen wird“ (Bobbio 1994, S. 83). Hinsichtlich
der Einstellung zur Freiheit lasse sich demnach eine extreme und eine gemäßigte
„Linke“ und „Rechte“ unterscheiden.
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2.8 Anarchismus und Kommunismus als „Ideologiefamilien“
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Ganz im Sinne dieser Perspektive findet auch die hier genutzte Bezeichnung
„Linksextremismus“ in der folgenden Darstellung und Erörterung Verwendung.
Es handelt sich zunächst einmal um eine Sammelbezeichnung, d. h. mit ihr sollen
durchaus unterschiedliche Phänomene unter einem Oberbegriff erfasst werden.
Demnach können bezüglich der Ideologie, Organisation und Strategie auch Dif-
ferenzen bestehen. Folgende Gemeinsamkeiten erlauben es aber, die gemeinten
politischen Bestrebungen unter die Bezeichnung „Linksextremismus“ zu fassen: Er-
stens geht es um alle politischen Auffassungen und Handlungen, die der Gleichheit
eine herausgehobene Position im eigenen politischen Selbstverständnis zuweisen.
Zweitens müssen sich die damit einhergehenden Bestrebungen gegen die Nor-
men und Regeln eines modernen demokratischen Verfassungsstaates richten. Und
demnach stehen dabei drittens primär die angewandten Mittel und weniger die
beschriebenen Ziele im Zentrum des Interesses.
Eine demokratische und eine extremistische „Linke“ können also in Deutungs-
mustern, Idealen oder Utopien durchaus gewisse Gemeinsamkeiten haben. Ihre
grundlegende Differenz ergibt sich aus der Antwort auf die Frage, ob sie auf dem
Weg zu deren Umsetzung Demokratie und Menschenrechte, Pluralismus und
Rechtsstaatlichkeit zur Disposition stellen wollen oder nicht. Daher müssen de-
mokratische „Linke“ keineswegs eine Position der „Mitte“ einnehmen und auf
grundlegende Gesellschaftskritik verzichten. Solange sie die erwähnten Minimal-
bedingungen akzeptieren, auf schrittweise Reformen setzen und eine gewalttätige
Revolution ablehnen, können sie auch nicht als extremistische „Linke“ gelten. Bi-
lanzierend kann „Linksextremismus“ somit wie folgt definiert werden: Es handelt
sich dabei um eine Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und
Bestrebungen, die im Namen der Forderung nach einer von sozialer Gleich-
heit geprägten Gesellschaftsordnung die Normen und Regeln eines modernen
demokratischen Verfassungsstaates ablehnen.
2.8 Anarchismus und Kommunismus als „Ideologiefamilien“
Sammelbezeichnung meint auch, dass es trotz dieser Gemeinsamkeiten auf den un-
terschiedlichen Ebenen durchaus Differenzen, Konflikte und Widersprüche geben
kann. Dies gilt etwa für den ideologischen Bereich, lassen sich doch die linksextre-
mistischen Bestrebungen verschiedenen Richtungen zuordnen. Allgemein lassen
sich zwei Grundpositionen ausmachen: der Anarchismus und der Marxismus.
Beide „Ideologiefamilien“ weisen noch weitere Teilströmungen auf, was später
noch ausführlicher thematisiert werden soll. Für die angestrebte Gesellschaft der
Zukunft besteht sowohl im Anarchismus wie im Marxismus aber eine identische
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2 Definition „Extremismus“ – „Linksextremismus“
Auffassung in Gestalt der Utopie einer herrschafts- und klassenlosen Gesellschaft,
also einer Sozialordnung ohne repressiven Staat und soziale Unterschiede. Diese
Idealvorstellung muss nicht mit allen Minimalbedingungen einer modernen Demo-
kratie brechen, bei Linksextremisten ist dies angesichts des angestrebten politischen
Weges hin zu eben diesem Ziel aber der Fall.
Worin bestehen nun aber die Differenzen zwischen Anarchismus und Marxis-
mus als den beiden großen „Ideologiefamilien“ in diesem politischen Lager? Sie
beziehen sich auf die Einstellung gegenüber der Institution des Staates und die Per-
spektive für dessen Überwindung: Die Anarchisten lehnen grundsätzlich jede Form
von Herrschaft und demnach auch den Staat als deren Instrument ab. In ihrer Sicht
bedeutet die Akzeptanz der Gesetze durch die Individuen grundsätzlich einen ver-
werflichen Zwangsakt. Menschliche Freiheit könne es nur nach der Abschaffung
des Staates und der Etablierung einer herrschaftsfreien Gesellschaft geben. Da-
her lehnen Anarchisten nicht nur autoritäre Regime, sondern auch demokratische
Staaten ab. Eine solche Frontstellung bestand und besteht außerdem gegenüber so-
zialistischen Staatsmodellen. Und demnach ging es allen Anarchisten im Laufe der
Geschichte dieser politischen Bewegung um die direkte Abschaffung solcher Insti-
tutionen nach einer erfolgten Revolution (vgl. u. a. Guerin 1971; Wittkop 1989).
Gegenüber den Anarchisten bekämpfen die Marxisten mehr den Kapitalismus
und weniger den Staat. Zwar lehnen sie eine solche Einrichtung ebenfalls als In-
strument der politischen Herrschaft der ökonomischen Interessen von Kapitalisten
ab. Gleichwohl geht es dabei nur gegen den bürgerlichen, nicht aber gegen den
sozialistischen Staat. Denn eine solche Einrichtung halten Marxisten sehr wohl für
notwendig: Nach einer erfolgreichen Revolution, welche die Kommunistische Par-
tei an die Spitze der Regierung bringe, bedürfe es zunächst noch eines Staates als
Instrument zur Unterdrückung der Gegner eines solchen Systems. Darüber hinaus
komme dem sozialistischen Staat die Aufgabe zu, die Gesellschaft durch politische
Erziehung und soziale Umverteilungen für den Übergang in den Kommunismus
als herrschafts- und klassenlose Gesellschaft vorzubereiten. Erst im Rahmen dieser
Entwicklung, so das Selbstverständnis der Marxisten, würde der Staat als Institution
langsam absterben (vgl. u. a. Kolakowski 1979; Leonhard 1970).
2.9 Linksextremismus und Kapitalismuskritik
Mitunter formulieren Kritiker des Extremismus- bzw. Linksextremismusverständ-
nisses, mit diesen Begriffen und Zuordnungen würden pauschal Einwände gegen
den Kapitalismus als Ausdruck einer demokratiefeindlichen Bestrebung diffamiert