in dem moment aber, da sich ein solcher mensch als berater betätigt und, sich auf erleuchtung berufend, die nichterleuchtung abtut als maya, als nicht existent, wirft er einen ratsuchenden eher in eine selbstwertkrise, als dass er ihm einen impuls in richtung licht gibt.
Betrachten wir das mal ein bisschen genauer. All die Herren und Damen, die ich kenne und von welchen man glaubt, sie hätten in ihrem Leben "Erleuchtung erlangt" betonen stets, dass es sowas wie "Erleuchtung" nicht gibt. Na gut, mag man einwenden, JENE mögen das ja begreifen, aber ich, ich der ich (noch) nicht erleuchtet bin, wie soll ich das denn verstehen? Waren es nicht genau jene Leute, die Jahre und Jahrzehnte mit ihren Praktiken zugebracht haben, gesucht und gesucht haben, meditiert haben und gebetet und asketisch gelebt, und jetzt kommen die zu MIR und sagen: "Hey, du brauchst nix zu tun, weisste, "Erleuchtung" - war alles nur ein grosser Scherz." Im Zen spricht man oft vom "torlosen Tor". Nur wenn man auf der andern Seite des Tors ist, bemerkt man, dass da gar nirgendwo ein Tor war.
Also. Die Herren und Damen "Erleuchtete" können jetzt entweder die armen, unerleuchteten Otto Normalerverbraucher anlügen und ihm irgendeinen Weg vorschlagen, den er zu gehen habe um Erleuchtung zu erlangen, obwohl sie selbst wissen, dass es sowas gar nicht gibt...
...oder sie können dem Herrn Otto gleich zu Beginn sagen, dass es keine Erleuchtung gäbe und es für ihn somit nix zu tun gäbe. Das wäre wenigstens die Wahrheit.
Das Problem ist: Otto Normalverbraucher WILL UNBEDINGT eine Anleitung haben, er will unbedingt etwas zu tun haben, einen Weg, den er beschreiten kann. Er will es dem Ach-So-Weisen nicht abnehmen, wenn dieser behauptet, dass Erleuchtung nicht existiere. Mit andern Worten: Er schert sich nicht darum, ob der Quasi-Erleuchtete ihm beteuert, dass er sich völlig im Irrtum befinde, das einzige wofür er sich interessiert ist, wie er möglichst schnell ebenfalls zu dieser Erfahrung kommen kann.
Und jetzt? Soll der Quasi-Erleuchtete dem Herrn Otto irgendwas vorlügen, nur damit jener zufriedengestellt ist und irgendwas zu tun hat? Da schaut der Quasi-Eleuchtete sich selbst an und sieht, wie lange - Jahre um Jahre - er mit einem Käse wie seine spirituellen Praktiken zugebracht hat, wie er all die Jahre hätte einfach LEBEN können, aber nein, er hat so viel Zeit vertan einer Illusion nachzujagen. Doch Herr Otto will sich nicht beirren lassen. Er will den gleichen Weg gehen, er will lieber sein Leben mit einer fruchtlosen Suche vertun als einfach glücklich bisschen zu leben.
Na gut, der Quasi-Erleuchtete zeigt dem Herrn Otto, was er selbst so lange Zeit getan hat und Herr Otto beginnt den gleichen Weg zu gehen. Eigentlich schmerzt es den Quasi-Erleuchteten, das mitansehen zu müssen, aber so unglaublich hat sich Herr Otto darauf versteift, dass man ihn nicht abbringen kann. Also macht Herr Otto brav alles, was ihm aufgetragen ist. Er sucht und sucht und sucht, verliert Monate, Jahre, wertvolle Zeit im Leben, er wird älter und älter und nie tritt das ein, was jener Quasi-Erleuchtete in seinem Erleben so genau geschildert hat. Herr Otto strengt sich noch mehr an, lässt viel Geld für Bücher und Kurse liegen, liest sich durch die ganze Eso-Szene, saugt alle diese Meinungen und Ansichten in sich auf.
Und dann, vielleicht nach 10 Jahren, vielleicht erst nach 25 Jahren oder vielleicht gar nie im Leben, tritt an ihn irgendein Mensch heran, der durch seine offene und unverdeckte Ehrlichkeit beeindruckt. Er spricht mit dieser Person ein bisschen, gewinnt sie als Freund, lernt des Freundes Ehrlichkeit zu schätzen. Als das Gespräch auf die eigene spirituelle Praxis kommt, schaut ihn der Freund skeptisch an: "So viel Geld kostet das alles? Ja, hast du denn bis jetzt irgendwas davon mitnehmen können, ich meine, wirklich tiefgreifend und für deinen Alltag?" Herr Otto stockt, er öffnet den Mund, aber keine Antwort kommt ihm aus dem Mund. Zum erstenmal seit 25 Jahren kommt er wieder zu Bewusstsein. "Was habe ich erreicht, in den letzten 25 Jahren? Bin ich meinem Ziel, der Erleuchtung, auch nur EINEN Schritt nähergekommen?" Ein schrecklicher Verdacht kommt in ihm hoch.
Also geht er zu seinem Guru, seinem Quasi-Erleuchteten. Dieser grinst wie immer und sagt ihm, er solle sich nur weiter brav an seine spirituelle Praxis halten. Doch jetzt reagiert Otto ungewohnt: Er kann den Verdacht nicht mehr ablegen. Da nagt in ihm etwas, es nagt und nagt, und lässt ihn nicht mehr los. Was hat ihm all die spirituelle Praxis gebracht? Zum erstenmal seit 25 Jahren entscheidet er sich, für eine Woche mit der spirituellen Praxis auszusetzen (entgegen dem Willen des Gurus). Zum erstenmal in 25 Jahren sieht er sich das Leben und Wirken des Gurus genau an, sieht er mal die andern spirituellen Sucher etwas genauer an.
Was er sieht, erschreckt ihn. Alle üben sich im dauerlächeln, alle reden von Bewusstheit, von allumfassender Liebe, doch wenn sie sich auch nur schon mal das Schienbein irgendwo anstossen, kommen wüste Flüche über ihre Lippen.
Wie echt ist all diese gegen aussen zur Schau getragene Gelassenheit? Wie echt ist Otto's Gelassenheit selbst?
Jetzt setzt sich ein Prozess in Gang: Zweifel. Otto hört nicht mehr auf damit. Er beginnt zu zweifeln, überall wo er hinsieht entdeckt er nichts als Lügen. Das schlimmste ist, die Lügen stammen nicht nur von anderen, nein, Otto hat sich selbst dauernd belügt. Er durchforstet nach und nach die Fundamente seines Denkens, er kann nicht mehr aufhören damit. In ihm entsteht eine ungeheure Wut, Wut auf den Quasi-Erleuchteten, Wut gegen sich selbst, Wut gegen die andern spirituellen Sucher, Wut gegen all die ihm in den letzten 25 Jahren vorgetragene Scheisse. Wo er hinblickt sieht er nichts als Lügen. Otto wird sich klar, dass er während 25 Jahren sich einfach nur selbst missbraucht hat und er beginnt zu verzweifeln. Nichts macht mehr Sinn, in ihm ist so viel Wut, Verzweiflung und Zweifel wie noch nie.
Das merkt auch Otto's Umfeld. Seine Frau glaubt, Otto habe Depressionen. Man schickt ihn zum Psychologen, der meint: "Midlife crisis" und verordnet ein paar Medikamente. Der gute Otto weiss weder ein noch aus und brav schluckt er die Medikamente. Gleichzeitig ist er wütend auf den Psychologen, ein weiterer Lügner im System, auf seine Frau (warum hat sie ihn nie auf den eigenen Irrtum aufmerksam gemacht, wie konnte sie zulassen, dass 25 Jahre des Lebens sinnlos verbraucht verfliessen?). Falls Otto sich mit Reiki oder Meditation beschäftigt hat, tauchen jetzt plötzlich merkwürdige Dinge auf, die er aber hinnimmt, sie sind ihm egal. Seine Wahrnehmung ändert sich bisweilen abrupt, er ist verwirrt, extrem vergesslich, weiss plötzlich den Pincode seiner Kreditkarte nicht mehr, er fühlt sich bisweilen wie ein Alien in der Welt.
Otto's Gefühlswelt ist durcheinander. Alles ist Zweifel. Sein Leben hat sich als Lüge entlarvt, es gibt niemanden, der ihm weiterhelfen könne. Sein Guru grinst und rät ihm zum weitermachen. Der Lügner! Die Phase dauert lange, paar Monate, die Spannungen in der Ehe nehmen zu, irgendwann zieht Ottos Frau aus dem Haus, glücklicherweise sind keine Kinder im Spiel. Otto ist jetzt alleine, aber ihm ist das scheissegal, überhaupt ist ihm alles in letzter Zeit völlig egal. Die Medikamente nimmt er nicht, zum Guru geht er nicht, beim Job hat er sich für einen Monat krankmelden lassen. Otto KANN nichts meht tun, alles kotzt ihn an. Einen Spaziergang unternehmen? Otto fragt sich: WOZU? Für das bisschen sinnlose Vergnügen? Musik hören? Otto fragt sich: WOZU? Für ein bisschen Zerstreuung? Mühselig schleppt sich Otto vom einen Tag in den nächsten, aber alles ist ihm scheissegal. Stundenlang liegt er nur auf seinem Bett und tut nichts, bis ihm der Rücken schmerzt, bis er keine Lebensmittel mehr zu Hause hat.
In ihm ist eine Art unendlich grosse Langeweile, eine Art existentieller Brechreiz, eine geistige Übelkeit nie gekannten Ausmasses.
Otto hegt längst nicht mehr nur an den spirituellen Übungen oder der Idee der Erleuchtung Zweifel, nein, er hat auch begonnen, seinen eigenen Zweifel zu bezweifeln. Ja, seine eigenen Gedanken bezweifelt er, das eigene Denken! Denn anscheinen produziert dieses Denken nur sagenhaften Quatsch, aber trotzdem kann er nicht aufhören.
...
Irgendwann passiert's. Eines Nachts, Otto liegt in einem merkwürdigen Zustand, auf eine gewisse Weise völlig wach, auf eine andere Weise schlafend im Bett, seine Gedanken RASEN, er fragt sich grade: "Was kann denn einer, was kann eigentlich einer wie ich überhaupt mit Sicherheit WISSEN?" Otto hat schon tausend Antworten durchprobiert aber keine hat ihm eingeleuchtet, keine hat ihn befriedigt. Ganz plötzlich, mitten in einem Gedanken
setzt das Denken abrupt aus.
Verwirrt beginnt Otto den Gedanken nochmal von vorne, vergessen wir nicht, dass er halb im Schlaf aber gleichzeitig sehr, sehr wach ist. Er denkt denselben Gedanken nochmals von vorne, aber plötzlich, mitten in einem Gedanken
setzt das Denken abrupt aus.
Einatmen, Ausatmen. Otto hört in sich hinein. Keine Gedanken mehr. Otto setzt sich auf, schemenhaft die Umrisse seines Zimmers. Doch da ist kein Zimmer, da ist lauter Unbekanntes, lauter unverständliche Gegenstände. Otto hat das Gefühl, nicht mehr atmen zu können und er reisst das Fenster auf. Kühle Nachtluft strömt hinein und Otto sieht hinaus aus dem Fenster und was er da sieht, ist eine Welt, wie er sie noch nie zuvor gesehen hat. Nichts anderes als je zuvor, und alles völlig anders. Da ist nichts Geheimnisvolles an diesem Zustand, nein, Otto begreift zum ersten Mal im Leben, dass er sich bis anhin immer geirrt hatte. Wenn er bisher einen Baum angeschaut hat, dann war alles was er dort jeweils sah, nicht der wirkliche Baum, sondern er sah im Grunde genommen das von Gedanken erschaffene Konzept eines Baumes. Überhaupt hat Otto in seinem Leben immer nur Konzepte und Gedanken in der Welt gesehen, nie wie die Dinge wirklich waren, nämlich völlig leer von allen Konzepten und Gedanken.
Da begreift Otto, dass er in seinem Leben dem grössten Irrtum aller Zeiten aufgesessen ist: Er glaubte, dass sein Denken Wahrheit produzieren würde. Das ist nicht so. Und jetzt perlt aus seinem Bauch heraus ein Lachen, stösst nach oben, unaufhaltsam, mit der Gewalt einer fahrenden Lokomotive beginnt Otto zu lachen. Er lacht, er lacht, er lacht sich die Irrtümer aus dem Bauch. Otto lacht und lacht und kann nicht mehr aufhören, er lacht Tränen. Immer hat er sich geirrt, schon sein ganzes Leben lang, immer war er im Irrtum! Es ist so absurd, er kann es gar nicht glauben, es ist so einfach, er kann es nicht glauben. Während der nächsten halben Stunde kann Otto nicht mehr aufhören zu lachen.
Der nächste Morgen ist wunderbar, schön, leicht. Die Sonne scheint und Otto macht draussen einen Spaziergang. Die Welt ist verändert - und dennoch genau die gleiche wie zuvor. Da ist nichts Neues hinzugekommen, sondern nur die blöden VORSTELLUNGEN von ihm abgefallen.
Noch am gleichen Tag merkt Otto, dass es jetzt für ihn im Leben nichts mehr zu verstehen gibt, dass Gedanken niemals ein Ende haben und es nichts jenseits der Gedanken gibt (ausser allem was, von Gedanken niemals berührt, um ihn herum existiert und einfach so ist, wie es schon immer war - ein Baum ist einfach nur JENES DORT, nicht aber das, was sein Kopf mit "B.A.U.M." bezeichnet).
Otto sieht ein, dass auch sein Glaube an Erleuchtung völliger Quatsch gewesen war. Und es gibt ihm ein bisschen einen Stich in die Seite, wenn er nochmals die alten Bücher hervornimmt, wo all die Weisen und Erleuchteten genau erzählen, was ihnen widerfahren ist. Eigentlich steht es ja dort schon, eigentlich haben die es ja schon immer gesagt: Es gibt keine Erleuchtung! Jetzt WEISS das Otto auch. Es kann gar keine Erleuchtung geben, wie sinnlos hat er doch die letzten 25 Jahre vergeudet, hat darüber Krach mit seiner Frau angefangen, für nichts und wieder nichts. Er ist Illusionen nachgejagt. Otto geht zu seinem Guru, der sieht ihn an und sagt ihm: "Jetzt weisst du alles, was ich dich je hätte lehren können. Es gibt für dich nichts mehr zu tun. Vielleicht wirst du in alte Verhaltensmuster zurückfallen, aber du wirst dich immer wieder daran erinnern an das, was du jetzt weisst." Sogar jetzt bleibt der Guru pathetisch, ein Showmaster, aber eigentlich hat er ja Recht. Otto fragt sich bloss, warum der Guru so unheimlich viel Geld von ihm genommen hat, für nichts.
Jetzt sieht Otto, wie sein Umfeld genau denselben Quatsch wiederholt, wie er es auch getan hat, 25 Jahre lang. Es schmerzt ihn, das mitansehen zu müssen. Er redet mit den Menschen, versucht sie zu überzeugen, dass es gar keine Erleuchtung gibt, aber sie glauben es ihm nicht. Hans Mittelmann glaubt ihm kein Wort. "Aber du hast ja auch 25 Jahre deine spirituelle Praxis ausgeübt. Erzähl mir nicht, dass Erleuchtung nicht existiert." Otto ist verzweifelt, wie kann er Hans nur davon überzeugen, dass er doch den Unsinn lassen soll, dass er doch, verdammt noch mal, die 25 Jahre lieber einfach LEBEN soll, statt sie für reinste Illusionen zu verschwenden? Aber Hans will nicht hören. Hans will suchen, Hans will etwas TUN. Hans glaubt, dass Otto erleuchtet ist, doch Otto bestreitet das vehement.
Otto wird bisschen älter und sieht die Nutzlosigkeit seines Tuns ein. Vielleicht, so denkt er, missverstehe ich die psychologischen Faktoren des Menschen. Vielleicht muss auch Hans zuerst 25 Jahre lang vergeuden, bis er wie ich einsieht, dass die 25 Jahre vergeudet waren. Also erzählt er dem Hans, was dieser hören will. Gibt ihm eine spirituelle Praxis, zeigt ihm, wie dieser auf dem Weg zu gehen habe, was er zu tun habe. Otto sieht mit an, wie Hans in sein Unglück läuft und er weiss, dass Hans irgendwann zu ihm kommen wird und ihn fragen wird: "Warum hast du mir die letzten 25 Jahre dauernd Lügen erzählt?" Otto wird mit den Schultern zucken und denken: "Du wolltest es ja so." Aber er wird schweigen und lächeln. Er mag Hans eigentlich sehr gerne.