Viele Narzissten weisen paradoxerweise eine erhöhte Fähigkeit zur Einschätzung anderer auf. Da sie, wie ich sagte, kein echtes Empfinden für sich selbst entwickeln konnten, könnte man auch sagen, sie hätten einen Mangel an Empathie für sich selbst. Sie nehmen den unterschwelligen Schmerz gar nicht wahr, ständig auf Attribute reduziert zu werden. Wer aber keine Empathie für sich selbst hat, der kann auch keine für andere haben. Aus diesem Grunde sind Narzissten mehr als andere gefordert, das Verhalten anderer Menschen nachvollziehen zu können. Weil sie in sich selbst emotionale Regungen, die nicht mit dem überzeichneten Selbstbild übereinstimmen, nicht wirklich empfinden, kennen sie auch die Gefühle und emotionalen Regungen anderer gar nicht wirklich. Da die anderen Menschen aber dennoch agieren und reagieren, benötigen sie folglich ein anderes Instrument als die Empathie, um Sinn aus dem Verhalten der Mitmenschen zu machen, also um zu verstehen, was in den anderen Menschen vor sich geht. Die unterentwickelte Empathie (zu sich selbst und zu anderen) wird dann wettgemacht durch eine übermässig geschärfte analytische Beobachtungsgabe. So erkennen sie oft Regungen in anderen, die jene anderen zu unterdrücken versuchen, die "normale" Menschen nicht erkennen würden, weil sie sie in sich selbst ebenso automatisch unterdrücken.
Die analytische Beobachtungsgabe anderer bleibt aber "kalt", also ohne tieferes Gefühl. Es ist ein reines Nachvollziehen, nicht ein mitfühlen oder mitleiden mit dem anderen. Und weil der Narziss nicht mit-leidet, ist er auch von den Gefühlen des anderen - sowie von seinen eigenen - nicht beschränkt. Er ist daher oft erstaunlich frei, Dinge auszusprechen, nicht selten auf ziemlich verletzende Art und Weise, und damit so manches auf den Punkt zu bringen, was andere nicht auszusprechen wagten.
Er ist, kurz gesagt, abgetrennt vom eigenen Empfinden. Und das kompensiert er auf mehrlei Weise.