Kraft für Krakel
Der Gebrauch von Heft und Füller bereits im ersten Schuljahr soll die Ursache für zunehmende Schreib-Lese-Schwächen bei Kindern sein. Aachener Psychologen fordern daher wieder Schiefertafeln.
Ihre Tochter gehört in eine Sonderschule, mahnte Junglehrerin Margot Keller, 23, einen Vater in zugigem Schulflur, "sie leidet an Legasthenie*, wahrscheinlich durch einen Hirnschaden."
Vater Manfred Berger**, 31, glaubte der Pädagogin kein Wort. Er hielt seine Tochter Birgit, 7. wegen ihrer zerfahrenen Schrift weiterhin für faul. Kaum wieder zu Hause, behandelte er den angeblichen Hirnschaden Birgits mit einer Ohrfeige.
An Legasthenie leiden nach Schätzungen des Lübecker Schulpsychologen Karl Strube "bis zu 20 Prozent der Grundschüler mehr oder weniger" -- Jungen drei- bis viermal so häufig wie Mädchen.
Ob und wann ein Hirnschaden diese Schwäche verursacht, können Lehrer wie Eltern allenfalls vermuten. Sie sind auf das Urteil von Medizinern und Psychologen angewiesen.
Auf ärztliche Expertisen und vor allem auf jahrelange Experimente stützt
* Legasthenie (Lese-Schreib-Schwäche) ist eine von der Intelligenz unabhängige Leistungsschwäche, die sich beim Schreiben, Lesen wie in der Rechtschreibung in gehäuften Fehlleistungen bei Schülern zeigt.
** Der Name wurde von der Redaktion geändert
der Psychologe Professor Friedrich Steinwachs von der Technischen Hochschule Aachen seine Feststellung, daß 80 Prozent der legasthenischen Schüler körperlich und geistig völlig gesund seien. Nur ein Fünftel sei krank und müsse entsprechend betreut werden.
Die Ohrfeige für die kleine Birgit traf nach Steinwachs-Ansicht "den Falschen". Eher für betreuungsbedürftig hält er die Masse der Lehrer, die der sich ausbreitenden Legasthenie -- unbewußt -- den Weg geebnet hätte. Denn: Die von deutschen Pädagogen seit 1945 immer stärker praktizierte Methode, Schüler bereits im ersten und zweiten Schuljahr mit Papier, Füller und Bleistift auszurüsten, ist in vielen Fällen, so wies Steinwachs nach, schuld an der Schreib-Katastrophe. Durch dieses Schreibzeug würden Schülerhände verkrampft.
Dem Aachener Forscher war aufgefallen, daß sechsjährige Kinder im ersten Schuljahr durchweg mit Hochdruck schreiben. Sie bringen mit der Schreibspitze zwischen dreihundert und sechshundert Gramm aufs Papier. Schreibgeübte Erwachsene kommen bei ruhiger Gemütslage mit hundert Gramm Druck aus.
Erschwert schon die überstark angespannte Kinderhand das Schreiben, so potenzieren Papier, Bleistift. Kugelschreiber und Füller die kindliche Mühsal noch. Papier und Schreibspitze sind so glatt, daß Buchstaben und Worte zu Krakeln mißraten. Überschüssige Kinderkraft wird nicht abgebremst. Steinwachs: "Das Kind muß zu viele Energien zurückstauen, was zu erneuter Verkrampfung führt."
Besonders den Füllfederhalter hält Steinwachs für ungeeignet: "Ihm fehlt alles, was ein Schreibstift im ersten und zweiten Schuljahr aufweisen muß: allseitige Beweglichkeit, druckfeste Spitze, hoher Reibungswiderstand."
Gelingt es den Schülern in der Frühphase ihrer Schreibversuche -- vor allem in den ersten sechs Monaten nicht, eine klare, gleichmäßige Schrift zu erlernen, besteht nach Steinwachs "die Gefahr, daß sich dem Kind zeitlebens ein falsches Schrift- und Schreibmuster einprägt".
Aus dem Schüler-Verdruß mit Buchstaben und Worten entsteht unversehens eine Rechtschreibschwäche. Denn die kindliche Konzentration bleibt durch Heft und Füller ständig gespalten zwischen Schönschrift-Anspruch und Rechtschreibe-Zwang. Und bei Schülern, die unklar und falsch schreiben, stellt sich fast automatisch auch noch die Leseschwäche ein.
Die Folge ist generelle Lern-Unlust. wie Steinwachs beobachtete: "Mängel der Schreibperfektion und Rechtschreibschwäche wirken sich summierend in den Nachfolgeklassen aus und können zur allgemeinen Lern-Aversion, Lernschwäche auch in den Fächern führen, für die das Kind überdurchschnittlich begabt ist."
In der Schulpraxis werden derartige Fälle häufig nicht erkannt, und so werden bereits in der Grundschule viele Begabungen vertan. Steinwachs: "Diese schreibschwachen Kinder werden leicht aufgrund einer nicht durchgeführten Legasthenie-Symptom-Testung falsch diagnostiziert und der Sonderschule zugeführt, womit ihr soziales Schicksal häufig vorbestimmt ist."
Abhilfe verspricht sich der Aachener Schreibdruck-Experte von einem Griff in die pädagogische Mottenkiste. Nur die alte, geschmähte Schiefertafel -- spezialbeschichtet mit Naturschiefer -- und der holzumkleidete weiche Griffel senken den Schreibdruck der Kinderfinger bereits nach sechs Monaten und verbessern die Schreibbewegungen rapide. Das wies das Steinwachs-Team in zwei Jahre langen Versuchen mit 30 000 elektrischen Schreibdruck-Meßwerten von 150 Kindern des ersten und zweiten Schuljahres nach.
Der Reibungswiderstand der Tafel verlangsamt die Schreibgeschwindigkeit der Grundschüler; die harte Schieferplatte entkrampft die Schreibhand. Schnelle Tafel-Erfolge wiederum fördern Lerneifer und aktivieren Intelligenz.
Dem eingewurzelten Pädagogen-Vorurteil, Schiefertafeln seien unhygienischer als Hefte. begegnete der Psychologe schließlich mit einem Professoren-Gutachten. Erlangens mittlerweile emeritierter Hygieniker und Bakteriologe Knorr prüfte Hefte und Tafeln.
Knorrs mikroskopisch gesicherter Befund: Auf Papier haften Keime wesentlich besser und länger als auf Schiefertafeln.