Glück - Ein Versuch über Werte

Kvatar

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Thema: Glück aus gemeinsamer Betrachtung von Biologie, Semantik und Zen


PROLOG

"Ich lehre Euch, weil Ihr und alle Wesen glücklich sein und Leid vermeiden wollt.
Ich lehre Euch, wie die Dinge sind."


(Sidharta, der "Buddha", 500 v.Chr.)


* * * * *


Er seufzte. "Ich habe es dir schon so oft erklärt" sagte er.
"Wenn du nicht bekommst was du willst, dann leidest du.
Wenn du bekommst was du nicht willst, dann leidest du.
Du leidest sogar dann, wenn du genau das bekommst was du haben wolltest, nur weil du es nicht
ewig behalten kannst."

"Das verstehe ich nicht. Wenn das Leben also letztlich nur Leiden
ist - wozu dann die ganze Aufregung ?"

"Nein, nicht das Leben ist Leiden" lachte er. "DU leidest."




Inhalte:

1. Vorwort / Vorüberlegungen
1.1 Prolog

2. Neuronale Netze
2.1 Wahrnehmung durch Sinne
2.2 Reizverarbeitung durch elektrische Impulse
2.3 Gewöhnung (Habituation) und Sensibilisierung
2.4 Vor- und Nachteile des Neuronalen Prinzips
2.4 Leerlaufaktivität "Denken"

3. Semantik und ZEN
3.1 Inhalte der Sematik
3.2 Sprache und Wirklichkeit - Begriffliches Denken
3.3 Nichtbegriffliche Kommunikation - das KOAN
3.4 Lehrmethoden und Ziele des ZEN

4. Schlusswort

+++++++++++++++++++++++++++++++++



Vorüberlegungen:

Jeder Mensch ist auf der Suche nach Glück - Philosophen, Dichter und Denker aller Zeiten suchten (und suchen!) nach Regeln und Gesetzmässigkeiten des Glücks wie es heute auch Biologen, Verhaltensforscher und die "Happieologen" tun. Innere, chemische Prozesse im menschlichen Körper werden zur Klärung der Glücksfrage untersucht, psychische,religiöse und philosophische Überlegungen geführt, viele gutgemeinte Ratschläge erteilt. Leider brachten all diese Bemühungen selbst der grössten Denker keine wirkliche,absolute (un- bedingte) Lösung des Dilemmas von Unglück und Glück. Fast keiner ist immer wahrhaft glücklich, nach unserem Verständniss gehören Glück und Unglück untrennbar zusammen. Wir erleben Glück und Unglück in stetem Wechsel.

In diesem Referat sollen nicht weitere Glücks-Situationen oder "Vorstellungen" und Interpretationen des Glücksphämomens untersucht oder empirische Erhebungen geprüft werden, sondern das grundlegende Prinzip, das dem Phänomen "Glück" immer zugrunde liegt.

Ein Bild auf einem Fernsehbildschirm besteht aus vielen Punkten. Diese Punkte für sich isoliert zu betrachten eröffnet dem Betrachter nicht das Bild, das sie zusammen ergeben. Das Ziel dieses Referates ist , das grundsätzliche Prinzip von "Glück" zu finden, indem die einzelne Bildpunkte zum Gesamtbild zusammengefügt werden.

Der Glücksbegriff selbst soll dabei nicht zentral im Mittelpunkt stehen, sondern die Überlegung, was den Menschen un- /glücklich macht oder von seinem Glück trennt. Dass der Mensch - und sein Empfinden - dabei die zentrale Rolle spielen soll erscheint sinnvoll: was würde das ultimativste Glück uns nützen, wenn kein Mensch da wäre, um es zu erleben?
Ob eine Situation als glücklich oder unglücklich erlebt wird wird vom Erleber (der Person) entschieden. Die Entscheidung zwischen beiden Zuständen wird im Kopf des Erlebers (der Person) getroffen; sie ist letztlich das Ergebniss biologischer,statischer Gehirnfunktionen.

Im ersten Teil wollen wir daher ein Grundverständniss für die Prozesse schaffen, die im menschlichen Gehirn während einer Entscheidungsfindung stattfinden. Aufbau und Funktionsweise des Gehirns (des sog. Neuronalen Netzes) sollen dargestellt werden . Es wird erläutert, wie (Sinnes-) Wahrnehmungen im neuronalen Netz verarbeitet werden und welchen Einflüssen Entscheidungsfindungen unterworfen sind. Das Wissen um die Stärken und Schwächen des Gehirns ermöglicht schliesslich ein Verständniss für das Phänomen der Subjektivität. (Subjektiv = von persönlichen Gefühlen, Wünschen oder Vorurteilen beeinflusst; Unsachlichkeit; einseitige, aber als "richtig" erlebte Wahrnehmung (Quelle: www.Langenscheid.de).

Im zweiten Teil wollen wir überprüfen, inwieweit das Wahrnehmungsverhältniss Mensch/Umwelt durch den menschlichen Sprachgebrauch reflektiert wird, denn unsere Art uns auszudrücken spiegelt unsere Umweltwahrnehmung zwischen uns selbst und unserer Umgebung wieder. In diesem Teil soll die Allgemeinsemantik in ihrer Auffassung über wirklichkeitsgemässes Erleben in Sprache und Sinneswahrnehmung im Vordergrund stehen. Hier soll überlegt werden, ob sprachliche Namensgebung zu der Illusion führen kann, dass die Struktur der Natur die gleiche sein muss wie die der Sprache.


Im dritten Teil fassen wir unsere Überlegungen, wie im Vorwort angekündigt, zusammen.
Hier analysieren wir die Belehrungen und Sichtweisen des ZEN und dessen Erklärungen zur Entstehung von ICH und MEIN (als Lernprozess) und deren Zusammenhang mit dem subjektiven (="ICH"-haften) Erleben von Glück und Unglück. Überleitend zum vorangegangenen Abschnitt "Semantik" soll das Phänomen der "rational sinnlosen" Lehrmethodik im ZEN vorgestellt werden, das auf Sprache als Kommunikationsmittel fast vollständig verzichtet.

Ziel des Referates soll sein, dem Zuhörer eine neue Sichtweise vorzustellen, die persönliches Glück und Unglück als Folge von erlernten Sprach- und Realitätswahrnehmungsmustern erklären.

Es ist zu vermuten (hoffen) , dass während des Vortrages Verständnisschwierigkeiten oder Rückfragen auftreten. Da sich das Referat auch ausgiebig mit der Problematik der unzulänglichen Sprache befasst sollen diese Rückfragen nicht nur erklärend, sondern (wenn möglich) anhand von Parabeln sinn"-bildlich" eine Erkenntnis darstellend beantwortet werden.
 
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2. Neuronale Netze

2.1 Aufbau von Nervenzellen


In unserem Gehirn befinden sich etwa 100 Mio Nervenzellen, die für die Reizwahrnehmung und deren Verarbeitung
verantwortlich sind. Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken wie auch Denken und Bewusstsein sind die Ergebnisse der koordinierten
Zusammenarbeit aller Gehirnzellen und Sinneszellen in einem systematischen Verbund, dem sog. Neuronalen Netz.

Den Kontakt zur Aussenwelt stellt das Gehirn über die Sinnesorgane (Auge, Ohr..) her. In diesen Organen werden die
wahrgenommenen Reize (Licht, Schall) an "Sinneszellen" in elektrische Impulse umgesetzt und damit für das Gehirn "lesbar" gemacht.
Die Impulse können je nach Reizmuster variieren: sie unterscheiden sich hauptsächlich in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge.
Sendet die Sinneszelle viele Impulse mit nur minimaler zeitlicher Verzögerung an das Gehirn, so handelt es sich um einen starken Reiz.
Ein schwächerer Reiz wird durch grössere Zeitabstände der Impulsaussendung "codiert". Ist dies geschehen, liegt die Wahrnehmung in quasi "digitaler" Form vor und kann über die Nerven zum Gehirn gesendet werden.

Das Gehirn selbst besteht aus einem enorm komplexen Verbund von Neuronen, die eng miteinander per "Datenleitungen" verbunden sind.
Betrachtet man den Aufbau eines einzelnen Neurons, so bemerkt man zunächst den Zellkörper, von dem einige Impulsleitungen (sog. Axone und Dendriten; von ihnen können an einer Zelle zwischen 2 und 30 Stück auftreten) seesternförmig zu anderen Neuronen abzweigen. Über diese Leitungen (Nervenfasern) werden Informationen von Zelle zu Zelle übertragen, wobei es zwei unterschiedliche Leitungsarten gibt: während die sog. Axone Impulse ausschliesslich von der Zelle fortleiten, übertragen die sog. Dendriten Informationen nur in Richtung des Zellkörpers. Durch diese wichtige Eigenschaft kann ein gelenkter Informationsfluss im Gehirn stattfinden. Würden diese Eigenschaften fehlen, wären die Folgen katastrophal: JEDER Impuls würde sich ungehindert im gesamten Gehirn ausbreiten, was jede Art von Informationsverarbeitung unmöglich machen würde.

Die eigentliche Reizverarbeitung geschieht jedoch nicht durch die einfache Impulsweiterleitung, vielmehr sind die Berührungspunkte zwischen Axonen und Dendriten zweier oder mehrerer Zellen die eigentliche Rechenstelle. An diesen Stellen, die als SYNAPSEN bezeichnet werden, beeinflusst ein Neuron das Verhalten der ihr nachfolgenden Zelle, indem sie diese entweder "erregt" und den Stromimpuls weitergibt oder das nachfolgende Neuron durch einen NEGATIVEN Impuls lähmt. Die Lämung bewirkt, dass nachfolgende Erregungen zunächst den negativen Zustand der Zelle ausgleichen müssen und z u s ä t zl i c h einen Impuls für die Auslösung einer Zellreaktion aufbringen müssen.
Die Stärke, mit der Neuronen ihre "Nachkommen" lähmen oder erregen können kann weit variieren. Auch können an einer Synapse mehrere Nervenzellen miteinander verbunden sein, deren Signale dann gegeneinander aufgerechnet werden. Positive und Negative Impulse gleicher Stärke gleichen sich aus, ungleiche Impulsstärken hinterlassen an der Synapse entsprechende Restbeträge an elektrischer Spannung, die von den Zellen nach einiger Zeit wieder langsam neutralisiert wird.


Eine sehr bedeutsame Fähigkeit des Gehirns ist, zwischen wichtigen und unwichtigen Reizmustern unterscheiden zu können. Unwichtige Reize werden in eine Rückkopplungsschleife (Abbildung) gelenkt, in der sie sich selbst neutralisieren. Andere Reize, die unsere Aufmerksamkeit "erregen" hingegen werden in die bewusste Wahrnehmung übernommen. Durch diesen Filterungsvorgang wird der Wahrnehmungskorridor stark eingeschränkt und die Aktivität des Gehirns um ein einzelnes Objekt zentriert. Tatsächlich kann sich nur ein Objekt gleichzeitig im Bewusstsein befinden und die Aufmerksamkeit auf sich zentrieren - typische Beispiele aus dem alltäglichen Leben sind Autofahren und Kartenlesen, Lernen und Kindergeschrei, Telefonieren und nebenbei ein Buch lesen - es ist schwierig, diese Prozesse gleichberechtigt nebeneinander ablaufen zu lassen.


Ein weiterer, enorm wichtiger Effekt sind die Prozesse der Habituation (Gewöhnung, Abstumpfung) und der Sensibilisierung. Sie sind wesentlich für die spätere "neuronale Unterscheidung" zwischen "wichtigen" und "unwichtigen" Reizmustern. Sie entscheiden, ob eine Wahrnehmung bewusst oder unbewusst verläuft:

Das neuronale Prinzip ist einfach: die Sensibilisierung wird dadurch erreicht, das für einen bestimmte Signalweg (also für ein bestimmtes REIZMUSTER!) zusätzliche Neuronen verschaltet werden, die dieses Muster direkt an das "Bewusstsein" versenden können. Bei der Gewöhnung (Habituation) wird für das entsprechende Reizmuster eine bremsende Rückkopplungsschleife angelegt, die das Reizmuster zusätzlich schwächt und diesem so den Zugang zum Bewusstsein erheblich erschwert.
Beispiele für Habituation sind zB das Ticken einer Uhr, Vogelzwitschern im Wald, "Berieselungs"-Musik im Kaufhaus. Sensibilisierungsvorgänge finden wesentlich seltener statt, ihr Prinzip kann man aber zB in krieselnden Partnerschaften anhand von (stets) offenden Zahnpastatuben etc. erkennen. Auch wenn das Beispiel zunächst seltsam klingt, so steckt darin dennoch das gleiche Prinzip der wachsenden Aufmerksamkeit für eine Wahrnehmung.


Tatsächlich gibt es keine Wahrnehmung, die ohne nachfolgende Habituation oder Sensibilisierung bleibt. Fast alle Sinneseindrücke führen zu Veränderungen im neuronalen Netz: Lernen, Erinnern und Vergessen basieren auf den gleichen Funktionen; in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenspiel bilden sie die Persönlichkeit und das Bewusst-Sein des Menschen. So sind Meinungen, Ansichten und Überzeugungen die Folge von Erlebtem, das zur Mustererkennung in Form von neuronalen Strukturgebungen im Gehirn abgelegt ist.
 
Neuronale Netze - Zusammenfassung:

Mit Wissen um die Arbeitsweise des Gehirns wird deutlich, dass die Wahrnehmung des reifen Menschen von vielen Faktoren beeinflusst wird.
Bereits während der Wahrnehmung wird der Eindruck durch Habilitation und Sensibilisierung aktiv verändert und durch den Vorgang der Kategorisierung/Interpretation dem Bewusstsein entzogen.

1. Unsere bewusste Wahrnehmung ist neurophysiologisch so eingerichtet, dass alles Unveränderliche und Gleichbleibende in unserer Wahrnehmung ausgeschaltet wird. Erst bei Veränderungen tauchen sie wieder in der Wahrnehmung auf. Der ursprüngliche Zweck ist die Beschränkung der Wahrnehmung auf wirklich überlebensnotwendige Objekte. Allerdings führt die Habituation in einer Umgebung, in der Überlebenskampf nicht mehr notwendig ist, zu einer Verarmung der Erlebniswelt. Die Folge ist Langeweile, die durch die Suche nach immer neuen Reizen ausgeglichen werden will.


2. Die Wahrnehmung des Menschen ist nicht objektiv, sondern subjektiv. Diese Erkenntnis deckt sich mit der Beobachtung, dass Menschen auch vom Glücksbegriff stark unterschiedliche Vorstellungen haben, wobei bedacht werden sollte, dass diese Vorstellungen wiederum Folge der beschriebenen geistigen Aktivitäten des Gehirns sind. Gut und Schlecht existieren in Wirklichkeit nicht, sie sind das Ergebniss einfacher Gehirnvorgänge.


Im alten China lebte ein alter Bauer zusammen mit seinem erwachsenen Sohn auf einem kleinen Hof. Ausser ein wenig Land und einem Pferd besassen sie nichts.
Eines Tages brach das Pferd aus der Koppel aus und floh in die Berge.
„Oh wie schrecklich“, sagten die Nachbarn da. „So ein Unglück!“.
„Wer weiss“, sagte der alte Bauer, „ob Glück oder Unglück“.

Wenige Tage später kehrte das Pferd aus den Bergen zurück in den Stall, und brachte 5 herrliche Wildpferde mit auf die Koppel.
„Wie wunderbar!“, jubelten die Nachbarn. „Was für ein Glück!“
„Wer weiss“, sagte der alte Bauer, „ob Glück oder Unglück“.

Tags darauf versuchte der Sohn eines der Wildpferde zuzureiten, doch er stürzte und brach sich ein Bein.
„Was für ein Unglück“, sagten die Nachbarn.
„Wer weiss“, sagte der alte Bauer, „ob Glück oder Unglück“.

Einige Tage später kamen Soldaten ins Dorf, und nahmen alle jungen Männer mit in den Krieg. Den Sohn des alten Bauern konnten sie nicht gebrauchen, und er blieb als einziger zurück.
Glück? Unglück?


Überliefert aus dem Zen
 
3. SEMANTIK UND ZEN


Es ist naheliegend zu vermuten, sich Struktur der Sprache, die Struktur des Denkens - und sogar der Struktur der Wirklichkeit - zumindest ähnelnd dürften oder gar gleich sind.

Die philosophische Frage, ob die Sprache nun das Denken beeinflusst oder andersherum soll für uns nicht von Interesse sein: Wir begnügen uns damit, festzustellen, dass die Prinzipien zwischen der neuronalen Reizmustererkennung und ihrer Assoziation/Interpretation auch bei der Worterkennung und ihrer Assoziation auftreten.
Wir erkennen im Sprachgebrauch des Menschen eine klare Unterteilung: TULPEN gehören zur Kategorie der BLUMEN. Diese gehören zur Kategorie der PFLANZEN. Die WISSENSCHAFT der Pflanzen ist die BIOLOGIE, Untergruppe BOTANIK etc. etc.


Die Verwendung von Sprache mag zur Kommunikation zwischen Menschen hilfreich sein.
Tatsächlich aber gibt es Sprachkritiker, die neben de Vorteilen der Sprache auch gravierende Nachteile bemängeln. Bemerkenswert ist, das die beanstandeten Mängel an der Sprache ihrem Sinn nach die gleichen sind, die Biologen an der Struktur des menschlichen Gehirns mit ihren Folgen des eingeengten Wahrnehmungskorridors bekritteln.

Die Mängelliste der Allgemeinsematiker sieht etwa so aus:

• Worte umfassen nicht die Wirklichkeit, sondern deuten lediglich auf sie hin
• Worte bedingen, das ihre genauen Bedeutungen zuvor ausreichend kategorisiert wurden
• Die Summe aller Beschreibungen einer Sache sind dennoch nie die Sache selbst
• Namensgebung führt zur Illusion, das die Strukturen von Sprache und Wirklichkeit gleich sind
• Verlust der extensionalen (nichtbegrifflichen) Wirklichkeit ( = Wahrnehmungskorridor )


Ausgehend von der Überlegung, das Denken und Sprache lückenhaft sein könnten (!), möchte ich versuchen, die besondere Anwendung von Sprache und Logik in den Lehren des ZEN-Buddhismus zu überprüfen, da diese Lehre sich der Sprache auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise bedient. Wenn im ZEN Sprache verwendet wird, bleibt sie meistens nicht in ihrem natürlichen Zustand. Oft wird sie so stark entstellt, das ihre Bedeutung für einen "Nichteingeweihten" sinnlos oder konfus erscheint.


Das Problem der Bedeutung im Zen-Buddhismus ist deswegen als Paradoxon interessant, denn die meisten in den Lehren verwendeten Zen-Sprüche haben, anscheinend, keine Bedeutung und sind vom gewöhnlichen Sprachverständnis aus gesehen sogar unsinnig.
Sprache existiert zum Zweck der Kommunikation zwischen den Menschen. Wo es kein Kommunikationsbedürfnis gibt, muß man auch nichts sagen. Dieses grundlegende Prinzip ist auch für Zen gültig. Wenn wir zwei Personen beobachten, die in einem Zen-Kontext in ein Gespräch miteinander verwickelt sind, dann haben wir natürlich den Eindruck, daß irgendeine Kommunikation stattfindet. Wir werden jedoch gleichzeitig durch die Beobachtung befremdet, daß die ausgetauschten Worte überhaupt keinen Sinn haben, daß sie uns - als Außenstehenden - meistens bedeutungslos oder unsinnig erscheinen. Gibt es überhaupt Kommunikation, wenn die benutzten Worte keinen Sinn ergeben? Was für eine Kommunikation wird es wohl sein, die sich sinnlos äußert?


Um das Phänomen anhand eines Beispieles anschaulich zu machen, möchte ich nun einen solchen Dialog, wie er für ZEN typisch ist, vorstellen:


[Arbeitsmaterial (Overhead-Folie) : Das KOAN Pi Yen Lu ]


CHÜ CHIH war ein berühmter Zenlehrer des 9. Jahrhunderts. Dieser Meister erhob immer einen Finger, wenn er etwas über Zen gefragt wurde. Das Hochhalten eines Fingers, ohne weiter etwas zu sagen, war seine stets gleiche Antwort auf jede Frage über Zen.
"Welches ist die oberste und absolute Wahrheit? " - Antwort: Das stille Hochheben eines Fingers.
"Was ist die Essenz des Buddhismus?" - Antwort: Wieder genau das gleiche stille Hochheben eines Fingers.


Das Koan wird hier unterbrochen!


Es ist klar, daß in einer normalen Lebenssituation diese Handlung keinen Sinn hat, denn das einfache Hochheben eines Fingers stellt überhaupt keine vernünftige Antwort auf irgendeine der gestellten Fragen dar, es sei denn man hätte gefragt: "Wo ist dein Finger?"
Die Antwort ist nicht verständlich, und da sie nicht verständlich ist, ist sie auch keine Antwort, und da sie keine Antwort mehr ist, erscheint sie uns sinnlos. Auf der anderen Seite spüren wir in unserem perplexen Geist etwas, das uns ahnen läßt, das in dieser Handlung des Meisters trotz der offenbaren Sinnlosigkeit seiner Reaktion eine andere, Nicht-Sprachliche Antwort stecken muss.
 
Fortsetzung des Koans

Meister CHÜ CHIH hatte einen jungen Schüler, einen Lehrling, der dem Meister überallhin folgte und ihn zu Hause und außerhalb bediente. Da er das Verhalten seines Meisters beobachtet hatte, erhob auch er immer einen Finger, wenn er während der Abwesenheit seines Meisters über Zen befragt wurde. Zuerst bemerkte es der Meister nicht, und alles ging für einige Zeit gut. Der fatale Moment mußte kommen, und er kam - der Meister erfuhr, was der junge hinter seinem Rücken getan hatte.

Eines Tages versteckte der Meister ein Messer in seinem Ärmel, rief den Jungen zu sich und sagte: "Ich höre, daß du das Wesen des Buddhismus verstanden hast. Ist das wahr?" Der Junge antwortete: "Ja, das ist so." Daraufhin fragte der Meister: "Was ist der BUDDHA?" Als Antwort hielt der junge einen Finger hoch. Meister CHÜH ergriff den jungen unversehens und schnitt den hochgehaltenen Finger mit dem Messer ab. Als der junge vor Schmerzen schreiend aus dem Zimmer rannte, rief der Meister ihn zurück. Der Junge drehte sich um.

In diesem Augenblick kam des Meisters Frage wie ein Blitz: "Was ist der BUDDHA?" Beinahe einem konditionierten Reflex gehorchend - könnten wir sagen -, hob der junge seine Hand, um seinen Finger hochzuhalten. Aber da war kein Finger mehr. Auf der Stelle erlangte sein Schüler die Erleuchtung (Satori).
 
2.3 Analyse


Die Anekdote erzählt, auch wenn es dem "Nicht-Buddhisten" angesichts des abgeschnittenen Fingers nicht so scheint, etwas Positives. Dieser Inhalt erschliesst sich dem Beobachter aber erst im Kontext zur Philosophie des ZEN: das Erreichen der Erweckung, dem SATORI, ist mit dem Verlust eines Fingers in der damaligen Zeit durchaus vereinbar gewesen.

Für den Nicht-Buddhisten hingegen wirft der Versuch, das Koan zu verstehen aber einige Probleme auf:

• Warum hielt Meister CHÜ CHIH immer einen Finger hoch, wenn er etwas über Buddhismus gefragt wurde?
• Warum schnitt er dem Jungen, der ihn nachahmte, den Finger ab? Was machte die Geste beim Meister sinnvoll, wohingegen sie bei seinem Schüler unsinnig war?
• Wie erreichte der Junge die Erleuchtung, als er den Finger, der nicht mehr da war, hochhalten wollte?


Was für einen Zen-Buddhisten bedeutungsvoll und verständlich ist, kann für einen Außenstehenden völlig bedeutungslos sein.
Darüber hinaus ist selbst in dem engbegrenzten Kontext der Anekdote der Akt des Hochhebens eines Fingers nur im Falle des Meisters bedeutungsvoll, während derselbe Akt als bedeutungslos und unsinnig angesehen wird, wenn er als Nachahmung vom Schüler vollzogen wird. Und wieder erhält derselbe Akt des Hochhebens eines Fingers durch den Schüler plötzlich eine entscheidende Wichtigkeit und wird bedeutungsvoll, als es dazu kommt, den Finger als "Nicht-Finger" hochzuheben.

Im Hinblick auf die Ansichten der Allgemeinsematik fällt auf, das die Möglichkeiten der Sprache offensichtlich nicht ausreichten, um den Schüler die Erleuchtung zu ermöglichen.

Was mit dem Schüler geschah, lässt sich mit Worten nur mangelhaft beschreiben, und so hat eine "nachgereichte" verbale Erklärung der Bedeutung auch nicht den gleichen Effekt. Durch Erklärung wird das Geschehene rational erkennbar, entzieht sich aber der im ZEN angestrebten extensionalen Wahrnehmung. Indem das KOAN einen rationalen Sinn bekommt, verliert es seinen extensionalen Sinn.
Die Sprache ist also der Entwicklung des Schülers in dieser besonderen Situation nicht hilfreich, sondern im Gegenteil extrem hinderlich.


Die Bedeutung von Sprache im Zusammenhang mit objektiver & subjektiver Wahrnehmung, Kategorisierung, Habituation und rationaler Wirklichkeit wird durch die Erklärungen eines ZEN-Lehrers unserer Zeit noch etwas deutlicher.


Schlusswort


Taisen Deshimaru Roshi, geboren in Japan, lebte seit 1969 in Frankreich und unterrichtete dort Schüler im ZEN. Obwohl er schon seit einiger Zeit in Frankreich lebte weigerte er sich, die französische Sprache zu lernen, weil er es auch immer ablehnte, die Aussagen des ZEN mit begrifflichen Aussagen weiter zu beschreiben.
Er sagte selbst:


"Manche fragen mich, warum ich nicht Französisch lerne, obwohl ich in Frankreich lebe. Aber wenn ich diese Sprache könnte, hätte ich wahrscheinlich Lust, meinen Schülern alles zu erklären, mit vielen Details, und das wäre dann sehr schwieig und kompliziert."



Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
 
Ich bitte um eure Aufmerksamkeit bezgl. der u.g. Seite, auf der hochinteressante Vorlesungsmitschnitte der Uni Tübingen eingesehen werden können:

http://timms.uni-tuebingen.de/jtimms/servlet/list02servlet2?squery=Biomedizin;+Anthropologie


Sprache und Gehirn - neue Erkenntnisse der funktionellen Bildgebung?

Ackermann, Hermann
Studium Generale Vorlesung im SS 2001; Donnerstag, 3. Mai 2001
Studium Generale; Biomedizin; Anthropologie; Gehirn; Neurologie; Sprache; Bildgebung; PET; Hermann Ackermann
03. May 2001
Typ: video, Dauer: 01:22:21




Sprachmelodie und Gestensprache. Vom kommunikativen Reichtum der non-verbalen rechten Gehirnhälfte

Dichgans, Johannes
Studium Generale Vorlesung im SS 2001; Donnerstag, 10. Mai 2001
Studium Generale; Biomedizin; Anthropologie; Gehirn; Neurologie; Sprache; Mimik; Gestik; Sprachmelodie; Prosodie; Gestensprache; Rechte Gehirnhälfte; Johannes Dichgans
10. May 2001
Typ: video, Dauer: 01:02:53




Reichweite und Grenzen eines naturwissenschaftlichen Verständnisses von Geist und Bewußtsein

Gierer, Alfred
Studium Generale Vorlesung im SoSe 2001; Donnerstag, 17. Mai 2001
Studium Generale; Biomedizin; Anthropologie; Neurimaging; Neurobiologie; Neuronen; Bewußtsein; PET; Entwicklungsgenetik; Alfred Gierer
17. May 2001
Typ: video, Dauer: 01:19:40




Der Einfluß der Aufmerksamkeit auf die visuelle Wahrnehmung

Treue, Stefan
Studium Generale Vorlesung im SS 2001; Donnerstag, 31. Mai 2001
Studium Generale; Gehirn; Biomedizin; Anthropologie; visuelle Wahrnehmung; Aufmerksamkeit; Stefan Treue; Modulation
31. May 2001
Typ: video, Dauer: 01:22:21




Warum geht Hirnforschung uns alle an?

Spitzer, Manfred
Studium Generale Vorlesung im SS 2001; Donnerstag, 21. Juni 2001
Studium Generale; Gehirn; Biomedizin; Anthropologie; Psychpathologie; Neuroplastizität; Hippocampus; Gedächtnis; Platzzellen; Hippocampus; Manfred Spitzer
21. Jun 2001
Typ: video, Dauer: 01:30:29




Plastizität des Gehirns - Plastizität des Verhaltens

Birbaumer, Niels
Studium Generale Vorlesung im SS 2001; Donnerstag, 28. Juni 2001
Studium Generale; Gehirn; Biomedizin; Anthropologie; Medizinische Psychologie; Neuroplastizität; Langzeitgedächtnis; Assoziation; Kurzzeitgedächtnis; Gedächtnis; Niels Birbaumer
28. Jun 2001
Typ: video, Dauer: 01:28:21




Neurobiologische Grundlagen sozialer Interaktion

Thier, Hans-Peter
Studium Generale Vorlesung im SS 2001; Donnerstag, 05. Juli 2001
Studium Generale; Gehirn; Biomedizin; Anthropologie; Neurobiologie; Soziale Interaktion; Williams-Syndrom; Soziales Verhalten; Autismus; Neuroanatomie; Hirnstammveränderungen; Amygdala; Hans-Peter Thier
05. Jul 2001
Typ: video, Dauer: 01:26:16




Vom Rätsel des bewußten Erlebens: Philosophische Deutungen des Verhältnisses von Gehirn und Geist

Goller, Hans
Studium Generale Vorlesung im SS 2001; Donnerstag, 12. Juli 2001
Studium Generale; Gehirn; Biomedizin; Anthropologie; Hirnforschung; Bewußtsein; Subjektivität; Identitätstherorie; Funktionalismus; Künstliche Intelligenz
12. Jul 2001
Typ: video, Dauer: 01:20:55



Grüße,
KTG
 
Hi Kvatar,

habe mich mit Interesse durch deinen Beitrag geackert.

Am besten gefallen haben mir natürlich die ZEN Geschichten. Die mit dem abgeschnittenen Finger habe ich noch nicht gekannt. Der Meister hat da wohl sehr effektvoll eine Habituation in eine Sensibilisierung verwandelt. Der nachfolgende Umschaltprozess im Gehirn begleitet von Erleuchtung, muss gewaltig gewesen sein.

sprachliche Namensgebung führt zur Illusion......
Verstehe ich das richtig so:
Natur wird nicht mehr als Natur, sondern als sprachlicher Begriff wahrgenommen. Sinngemäß so:
Ohne den Begriff Baum zu kennen, stehe ich vor einem Baum und nehme ihn in seiner Ganzheit wahr. Dann kommt da einer des Wegs entlang und sagt mir: Das ist ein Baum. Fortan glaube ich zu WISSEN was ich vor mir sehe und versuche nicht mehr zu VERSTEHEN.
Ich sehe einen Baum, erkenne den Begriff und wende mich gelangweilt ab.


 
Verflixt, ich habs noch immer nicht gelesen. Hab eigentlich gehofft, Eure Antworten wuerden mir bald einmal eine Zusammenfassung liefern:D

Oder ist Deine Antwort LilaLuna die Zusammenfassung? Vor laengerer Zeit wollten einem die Linguistiker noch weismachen, dass wir nichts erkennen, wenn wir es nicht benennen koennen. Frei nach der Bibel "Am Anfang war das Wort"
Dass erst mit der Namengebung erschaffen wird.

Vielleicht war das am Anfang auch so. Da war das Erspueren des Baumes Alltag. Erst als einmal ein Zweibeiner die Pflanze "Baum" nannte, war sie ploetzlich interessant und wurde mit neuen Augen angeschaut. Heute ist der Name Alltag, vielleicht muessten wir also derzeit wieder das Wort vergessen, um das Wesen mit neuem Interesse wahrzunehmen?

Oder ist es gar nicht anzustreben, dass wir nur einen Energieeintopf wahrnehmen? Sind wir nicht vielleicht auf der Erde, um Illusionen zu erschaffen? Auch wenn - oder gerade wenn der "Baum" langweilt, ist das vielleicht ein Erfolgszeugnis fuer gelungene fest verankerte Illusion. Das sollte vielleicht zuerst einmal gebuehrend applaudiert werden, bevor man sich davon loest und aufmacht zu neuen Ufern.
 
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@LilaLuna: recht gut getroffen ! :)

Ich verweise in diesem Zusammenhang auch nochmals auf den Tread "Erleuchtung" von Isis (Klick!)

@Luna: Du solltest es vielleicht doch mal lesen. Wäre dem Gesprächsverlauf sehr dienlich - ich verstehe Dein Posting nämlich nicht .. ?! :confused: ;)


Grüße,
KTG
 
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