Zwischen Wut und Klischee
Sexuell missbrauchte Jungen finden in Berlin keine Anlaufstelle
KINDERSCHÄNDER SIND dunkle Gestalten, die ahnungslosen Abc-Schürzen auf dem Schulweg auflauern, mit Bonbons ködern, um sie dann ins nächste Gebüsch zu zerren. Die Täter, so scheint es wenigstens in der medienwirksamen Darstellung einiger weniger spektakulärer Fälle, sind fremde Personen und vor allem eines: männlich.
Dieser Vorstellung widersprechen die Erfahrungen des Vereins Tauwetter, Anlaufstelle für Männer, die als Jungen sexuell missbraucht wurden. ,,In den ungefähr 350 Gesprächen, die wir seit unserem Bestehen geführt haben, berichtete rund ein Viertel der Männer von sexuellem Missbrauch durch Frauen", zieht Thomas Schlingmann nach fünfjähriger Arbeit Bilanz . ,,Meistens geschah er im engen sozialen Umfeld der Opfer." Der Umgang mir dieser Problematik war allerdings auch für die MitarbeiterInnen der Beratungsstellen anfangs schwierig.
Die Opfer waren männlich, die Täter weiblich - ein heikler Sachverhalt, wurde doch in frauenbewegten Kreisen die Kritik am Patriarchat lange Zeit gleich gesetzt mit der Unterdrückung von Frauen durch Männer.
Die Wissenschaftlerin Barbara Kavemann begleitet seit Jahrzehnten Projekte zum sexuellen Missbrauch und war eine der ersten, die sich mit der Untersuchung von Täterinnen beschäftigte. ,,Nach empirischen Untersuchungen liegt der Anteil der Frauen, die Kinder missbrauchen, bei zehn bis 15 Prozent. Allerdings ist die Dunkelziffer sehr hoch", so die Forscherin. Sind Frauen Täterinnen, werde häufig unterstellt, dass der Missbrauch weniger gewalttätig, gar zärtlich sei: ,,Da gibt es dann das Klischee der attraktiven Mutter, die ihren heranwachsenden Sohn in die Welt der Sexualität einführt." Oftmals werde nicht unterschieden zwischen Bemutterung und emotionaler Ausbeutung beziehungsweise sexueller Gewalt. Körperkontakt zwischen Frauen und Kindern gelte als natürlich, der Verdacht des sexuellen Missbrauchs werde oft als unsinnig verworfen.
Nach den Erfahrungen von Tauwetter ist der Missbrauch durch weibliche Personen für die Opfer keinesfalls weniger traumatisierend, im Gegenteil: ,,Ich habe bei Männern, die Opfer von Frauen waren, eine viel direktere Wut erlebt", sagt Thomas Reinke.
In der öffentlichen Diskussion wird die Problematik immer noch vernachlässigt. Da wundert es nicht, dass es in Berlin keine einzige Anlaufstelle gibt, die sich gezielt an sexuell missbrauchte Jungs wendet. ,,Arbeit mit Jugendlichen können wir nicht leisten, dafür braucht es andere Qualifikationen", sagt Thomas Schlingmann. ,,In Gesprächen mit Männern stellt sich aber oft heraus, dass ein solches Angebot fehlt." Die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport sieht diesen Bedarf nicht.
Man habe keinerlei Informationen darüber, dass ein großer Teil der Betroffenen männlich sei, war aus der Pressestelle zu vernehmen.
Die Männer, die sich mit ihren Missbrauchserfahrungen an Tauwetter wenden, lassen meist 15 bis 20 Jahre verstreichen. Dass die Erlebnisse erst nach so langer Zeit in Gesprächen, Selbsthilfegruppen oder Therapien aufgearbeitet werden, ist in zweierlei Hinsicht fatal:
Erstens ist die Traumatisierung der Opfer durch die lange Verdrängungszeit um so größer, zweitens steigt die Gefahr, dass sie erneut sexuelle Gewalt erfahren müssen:
,,Kinder, die eine solche Erfahrung gemacht haben, haben nie gelernt Grenzen zu ziehen, ,,nein" zu sagen', erklären Schlingmann und Reinke. "Potenzielle Täterinnen" merken das sehr schnell und wählen ihre Opfer gezielt aus."
DENISE DISMER
Zitty 13/2000