Die Hebamme als Weise Frau
Die unterschiedliche Bezeichnungen für den Beruf der Geburtshelferin zeigen, welche
hohe Stellung und welche tiefe Bedeutung die Hebammen in dem jeweiligen Volk haben.
So heißt die Hebamme in Frankreich noch heute „sage femme“ und in den Niederlanden
„vroedvrouw“, was beides „Weise Frau“ bedeutet. Auch das englische
midwife kommt von mid = weise. Im Talmud, dem jüdischen Kommentar zu den biblischen
Büchern, heißt die Hebamme „chockma“, das bedeutet „die Weisheit“.
Es sind drei Ebenen, auf denen von Weisheit gesprochen werden kann:
• religiös als weibliche oder mütterliche Seite Gottes und Mit-Schöpferin
• wissenschaftlich als Erkenntnisweg zur Ordnung der Natur
• ethisch als Orientierung zum Handeln und als Ratgeberin
Die Verehrung der Weisheit ist eine im Alten Israel und seiner Umgebung weit verbreitete
religiöse Bewegung, die sich im Hiobbuch, in den Sprüchen und in Erzählungen
niedergeschlagen hat, wie z.B. der von Schifra und Pua, 2. Mose 1, 11-22.
Die zweite Ebene der Weisheit ist die wissenschaftliche Erkenntnisweise. Sie steht imGegensatz zum kausalen, rein verstandesmäßigen Denken. Weisheitliches Denken ist
vernetzendes Denken. Es spürt der Ordnung der Natur und ihren Gesetzen nach.
Weisheitliches Denken anerkennt die Begrenzung menschlichen Könnens.
Die dritte Ebene ist die ethische. Es geht darum, das Leben gut zu gestalten, auch
nach der Ordnung der Natur, die Folgen des Tuns zu bedenken, die Balance zwischen den Gegensätzen im Leben zu suchen. Die Erzählung von den beiden Hebammen
Schifra und Pua zeigt vorbildlich solches Handeln: die Hebammen gehorchen nichtden Zehn Geboten (die noch nicht verkündet waren), sondern sie engagieren sich für
das Leben, weil ihr Gott ein Gott des Lebens war. Und dieses Tun verteidigten sie mit
einer List gegenüber dem Pharao.
Die Weise Frau und die Hebamme arbeiten mit Intuition und Einfühlungsvermögen