Die Deutsche Einheit wurde seit 1987 intensiv vorbereitet. Einen anderen, romantischeren Schluß, den man ja mithilfe der durch Westdeutsche übernommenen Medien seit 1989 versucht ins öffentliche Bewußtsein einzuhämmern, was seinen Höhepunkt darin findet, daß einer der systemtreuen Beschwichtiger, der Pastor Gauck, sich ohne rot zu werden im Wendeherbst plötzlich als Vorkämpfer der Freiheit stilisieren läßt, kann man nach Lage der historischen Fakten nicht ernsthaft ziehen.
„Echte“ Bürgerrechtler wie Eberhard Richter, der mich seinerzeit auch in Bonn besuchte, können sich nur kopfschütteld abwenden angesichts Gauck’s Geschichtsklitterung in eigener Sache. An seine privaten Reisen in den Westen, teilweise sogar gemeinsam mit Familie, möchte er nicht erinnert werden, weil sich daraus ja Fragen nach Systemnähe ergeben könnten. Auch der inzwischen immer reaktionärer auftretende DDR Bürgerrechtsbewegte Werner Schulz, läßt an Gauck in der Frage kein gutes Haar.
Aber auch andere Figuren, wie Manfred Schnur, Ibrahim Böhme, und sogar Lothar de Maizière wurden im Laufe der Einheit als STASI-IM enttarnt. Die Frage, warum im Herbst 1989 so dubiosen Gestalten es ermöglicht wurde, sich vom Saulus zum Paulus zu wenden und auf den fahrenden Zug aufzuspringen läßt sich beantworten, wenn man sich etwas tiefergehend mit der Frage beschäftigt, welche Strukturen die Bürgerrechtsbewegung lange vor dem Herbst 1989 unterwandert haben und welche staatsparteilichen Stellen mitunter den Verrat des eigenen Systemes mit vorangetrieben haben.
Als Journalisten sind wir zwar „Zeitzeugen“, aber als solche auch subjektive Betrachter. Manchmal überschreiten wir dabei Grenzen und greifen in den Handlungsablauf ein, in der Regel unbewußt, aber so selten es zu sein vermag, so weitreichend mögen die Folgen sein.
Seit 1983 habe ich westdeutsche Spitzenpolitiker, darunter Helmut Schmidt, Petra Karin Kelly, Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker und ab 1987 auch ausländische Präsidenten interviewt. Im Juni 1987 war ich als einer der Journalisten mit an Bord der „Airforce One“ auf dem Flug zurück von Venedig, wo der G7 Gipfel stattgefunden hatte. Wir landeten zunächst in Westberlin, wo Präsident Reagan sich vor dem Brandenburger Tor an Präsident Gorbatschow wandte:
„Mr. Gorbachev, open this gate, tear down this wall.„
Bundeskanzler Kohl hatte feuchte Augen. Wir filmten es brav, dann flogen wir weiter nach Köln-Bonn, wo auf dem Rollfeld noch eine kurze Zeremonie mit militärischen Ehren abgehalten wurde, damit es nicht heißen würde, der US-Präsident sei zwar auf deutschem Boden, nicht aber in der BRD gewesen. Auf dem Flug von Berlin nach Köln-Bonn war Präsident Reagan nach unten zu uns Journalisten gekommen und gewährte uns ein kurzes Briefing mit Interaction, also mit anderen Worten, er suchte nach Bestätigung der Art
„nicht wahr, die Rede war auf den Punkt genau?“.
James Markham, ein befreundeter Kollege und für die New York Times in Bonn, rief in Richtung Präsident „ja, und es wird Lysakus gefallen haben“. Reagan grinste nur breit, machte noch eine lässige Handbewegung und verschwand in seinen Teil der Airforce One.
Ich erkundigte mich bei meinem älteren Kollegen, was er mit
‚Lysakus‚ gemeint hatte und James klärte mich auf dem Rest des Fluges darüber auf, daß es eine National Security Decision Directive (NSDD 54 vom 02. September 1982) gäbe, wonach „US – Behörden“, mit anderen Worten, Geheimdienste, diejenigen Strukturen in Osteuropa, die Glasnost und Perestrojka verinnerlicht haben beim Unterwandern der alten „stalinistischen“ Warschauer Pakt-Herrschaft, unterstützen würden. In der DDR gäbe es auch inzwischen eine solche Truppe von Kollaborateuren.
„Lysakus“, wie die Struktur wohl vom Amerikanischen Geheimdienst, der es ja immer mit kitschigen Code-Namen hat, bezeichnet wurde, war eine ca. 2400 SED – Funktionäre umfassende mittlere Leitungsebene, die sich als eine Art innerparteiliche Oppositionsstruktur seit 1983, als Andropow erste Anzeichen für Glasnost und Perestroika erkennen ließ, organisiert hatte, erklärte mir James Markham. Er habe direkten Kontakt. Unter anderem Schabowski und andere jüngere SED Funktionäre seien mit von der Partie. Manchmal trafen sich einige
„Lysakus“-Mitglieder in den Räumen unter dem Hauptbahnhof und manchmal in der Akademie der Wissenschaften, um mögliche Reformvorhaben zu besprechen.
Wie ich erst nach der Wende erfuhr, als ich mit meinem SPIEGEL – Kollegen Steffen Uhlmann die Sache recherchierte, ahnte Mielke davon nichts. Erst im Mai 1989 als die gezielte Aufdeckung der manipulierten Kommunalwahlergebnisse verabredet wurde, gelang es der STASI mitzuhören, wie sich einige „Lysakus“-Mitglieder auf sowjetischen Militärfrequenzen verabredeten. Mielke, so sagt es ein ehemaliger enger Mitarbeiter in seinem Büro, soll wie ein Stier gebrüllt haben und durch das Büro gestampft sein.
So glaubhaft, wie es mir erschien, was mein Kollege mir im Anflug auf den Köln-Bonner-Flughafen erzählt hatte, insbesondere die Reaktion von Präsident Reagan auf die kaum verklausulierte Anspielung, so erstaunter war ich, als ich dann in Vorbereitung des Honecker-Besuches im September 1987 auf fast schon naiv wirkende DDR – Diplomaten traf. Selbst beim Abendessen, welches nach Bad Godesberger – Ortsgebrauch Schinkenbrote und Schnaps im zu Recht „Zwitscherstube“ genannten Kellerlokal an der Rheinallee beinhaltete, lockerer und menschlicher wurde zwischen westlichen und östlichen Diplomaten und Journalisten, verfingen keine Anspielungen auf
„Lysakus“.
Ich hatte mir fest vorgenommen, etwas darüber herauszufinden und verwickelte einen Top-Honecker – Mann, Gunter Rettner, Abteilungsleiter im ZK der SED für innerdeutsche Beziehungen, in ein längeres Gespräch. Wir trafen uns noch einmal unter vier Augen im Steigenberger Hotel gegenüber vom Bundeskanzleramt, wurden aber von Friedhelm Ost, dem westdeutschen Regierungssprecher, unterbrochen. Ich konnte nur so viel in Erfahrung bringen, daß Gunter Rettner wohl wußte, wer
„Lysakus“ ist, aber diesem Verband nicht angehörte. Wir vereinbarten weitere Treffen, jedoch in Westberlin, wo man mir in Aussicht stellte, „Hintergrundinformationen über gegen die DDR gerichtete Strategien“ zu erhalten.
Gunter Rettner traf ich ab September 1987 regelmäßig alle zwei bis drei Monate in einem Haus in Zehlendorf in der Nähe der Argentinischen Allee. Mit anwesend war ein gewisser Jürgen Fels, angeblich Westberliner, der sich mir gegenüber brüstete, die erste Bowlingbahn, die im Palast der Republik eingebaut wurde, der DDR beschafft zu haben, Kreditkarten für Politbüromitglieder einschließlich Honecker und diverse andere Handreichungen, die den kurzen Dienstweg benötigten. Ich traf in dieser Villa in Zehlendorf, die ausweislich des Türschildes von einer Familie Pracht bewohnt wurde, die aber immer gerade in Urlaub gefahren waren sein müssen, neben Rettner und Fels auch einen Wolfgang Arlt, der wohl für Alexander Schalk-Golodkowski’s
„Kommerzielle Koordinierung (KoKo)“ arbeitete und sich bestens in westlichen Hauptstädten auskannte.
Natürlich wäre es naiv von mir gewesen anzunehmen, daß mir die freundlichen Herren nur Informationen über den planmäßigen Zerfall ihres politischen Systemes geben wollten. Da war natürlich noch etwas anderes. Fels und Arlt machten mir klar, daß sie von
„Lysakus“ den Ausverkauf der DDR erwarteten und diesem entgegenwirken wollten. KGB-Strukuturen würden von Moskau aus
„Lysakus“ nicht nur gewähren lassen, sondern diese sogar steuern. Rettner, Krenz und einige andere von der Honecker-Linie, müssten sich darauf gefasst machen, im Falle des Rückzuges von der UdSSR aus den Warschauer Pakt Staaten, „Plan Saigon“ umzusetzen, das heißt, versuchen die Kontrolle über Betriebe zu erhalten und diese durch die Eigentümerschaft vor Übernahmen zu schützen. Die Herren trugen mir an, als westlicher Partner ihnen beim
„Schutz des sozialistischen Eigentumes“ behilflich zu sein.
Rettner und Hartmut König, später stellvertretender Kulturminister der DDR, waren meine Kontakte, die leiblichen Zugang zu Honecker hatten. König hatte zum Beispiel die Sache mit Udo Lindenberg gemanagt, da Honecker das fast vermasselt hätte, weil er keinen Humor gehabt hätte. Daß es tatsächlich schon bald eine Notwendigkeit dafür geben könnte, „Plan Saigon“ umzusetzen, ahnte ich nicht.
Nach dem 9. Oktober 1989, an dem wohl alle gemerkt hatten, daß das System ins Rutschen kommt, war es eine Frage der Zeit, bis man auf eine weitere Zuspitzung zusteuerte. Der 9. November nahte. Morgends hatte Egon Krenz noch mitgeteilt, daß die Tschechoslowakei sich bitter beklage, daß die Flüchtlingsströme nicht abrissen. Er habe daher einigen Beamten die Anweisung gegeben, ein Reisegesetz auszuarbeiten. Nachmittags war dies fertig und wurde im Umlaufverfahren als Entwurf des Ministerrrates verabschiedet, hat dadurch aber noch keinerlei Rechtskraft erlangt. Zudem ließ Krenz eine Erklärung für den 10. November vorbereiten.
Die Bestrebungen der SED – Führung unter Egon Krenz waren, die Grenzöffnung nicht auf dieses Datum, den 9. November, fallen zu lassen, ganz bewußt auch wegen der historischen Relevanz. Noch vormittags hatte Krenz gesagt, daß die neue Reiseregelung frühestens am 10. November bekanntgegeben werden solle. Die Pressemitteilung für ADN trug auch die Sperrfrist 4 Uhr Früh, 10.11.1989.
Gegen 18 Uhr traf ich dann im Internationalen Presse Zentrum in der Mohrenstrasse 38 ein. Es war erst die zweite Pressekonferenz, die das ZK der SED abhalten ließ und Günter Schabowski war als ehemaliger Chefredakteur des Neuen Deutschland sicherlich qualifiziert, sah sich aber auch sogleich von DDR – Journalisten mit der Kritik, wieder einen Personenkult zu inszenieren, konfrontiert. Egon Krenz spielte in der öffentlichen Wahrnehmung jener Tage jedenfalls eine kleinere Rolle, als Schabowski.
Ebenfalls auf dem Podium neben Schabowski waren die Mitglieder des ZK der SED, die Gewerkschaftsfunktionärin Helga Labs, Außenhandelsminister Gerhard Beil, mit dem ich ebenfalls bereits über Gegenmaßnahmen zu „Lysakus“ gesprochen hatte und der vom „Plan Saigon“ wußte. Auch Manfred Banaschak, Chefredakteur einer Parteizeitung, war anwesend. Die insgesamt unprofessionell abgehaltene Pressekonferenz plätscherte so dahin, ohne irgendwelchen besonders interessanten Aspekten.
Lustig war höchstens, wie Peter Brinkmann, BILD-Korrespondent, Schabowski reizte „die Pressefreieheit für die DDR zu verkünden“, was mit Gelächter quittiert wurde, als Schabowski auf die doch völlig von der SED unabhängige DDR – Presse verwies. Dann, kurz vor Ende der einstündigen Live-Übertragung übergeht Schabowski den BBC-Kollegen Daniel Johnson und nimmt einfach Riccardo Ehrman von der italienischen ANSA ‚dran.