Dezentrierung, Perspektivenübernahme, Meditation und spirituelle Entwicklung

Energeia

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Hallo,

Der von Jean Piaget geprägte Begriff der Dezentrierung beschreibt in der Entwicklungspsychologie die Fähigkeit des Kindes seine Aufmerksamkeit auf mehrere Merkmale/Dimensionen eines Objektes oder Ereignisses zu richten und diese Merkmale/Dimensionen in Beziehung zueinander zu setzen. Diese Beziehungen der Merkmale untereinander werden nicht nur erkannt, sondern auch vom Kind verstanden. Das Kind begreift die Mehrdimensionalität von Objekten.

Zentrierungen auf ein oder wenige Merkmale können zur Folge haben, dass wichtige Aspekte übersehen werden. Wird z.B. beim Umschütten der Flüssigkeit nur auf die Höhe des schmaleren Gefässes, nicht aber auf dessen Durchmesser geachtet, gelangt man zu einem Fehlurteil. Wenn ein Kind die zweite Dimension ins Auge fasst (Piaget spricht dann von einer Dezentrierung oder Umzentrierung), verliert es oft die erste wieder aus dem Sinn (sog. eindimensionales Denken).

( http://www.psychologie.unizh.ch/genpsy/lehre/ws99_00/skript/Piaget.html siehe hier auch: 1.6.4.1 Drei-Berge-Versuch)

(Eine Übersicht über die Entwicklungsstufen: http://www.deutsch4u.de/lexikon/Jean_Piaget )

Der Begriff der sozialen Perspektivenübernahme umfasst nicht nur die Art, in der soziales oder psychologisches Wissen einer Person vom Standpunkt einer anderen gesehen wird, wie dies der Begriff der Rollenübernahme impliziert, sondern umfasst zentral das sich entwickelnde Verständnis dafür, wie verschiedene Blickwinkel zueinander in Beziehung stehen und miteinander koordiniert werden können .
"Perspektivenübernahme" ist nun insofern eine spezifische Dezentrierung, als es hier nicht um Relationen von Dimensionen/Eigenschaften von Objekten, sondern um das Verständnis der Relationen von Perspektiven.
Es geht darum, den egozentrischen Standpunkt zu „de-zentrieren“, andere Perspektiven einzunehmen, von einer anderen Perspektive aus die eigene Perspektive zu betrachten und die andere(n) Perspektive(n) zu der eigenen Perspektive als in einer Relation stehend zu verstehen.

( http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/SozialkognitivEntwicklung.shtml )

Das kann man sich zunächst zwischen zwei Personen vorstellen, die miteinander in der Ich-Du-Perspektive sprechen. Ich spreche mit dem Gegenüber als einem Du, also teilnehmend, und gehe auf das ein, wie er es meint. Er sagt: "Ich will das nicht, weil mich das wütend macht". Und ich verstehe ihn einfühlend, weil ich seine Ich-Perspektive einnehme.

Ich kann den anderen aber auch aus der Beobachterperspektive (Er/Sie/Es) betrachten, indem ich ihn analysiere, als ob er mein Analyse-Objekt wäre. Er sagt: "Ich will das nicht, weil mich das wütend macht." Ich öffne mich hierbei nicht für seine Ich-Perspektive, sondern ich blicke mit einem Analyse-Schema auf ihn und denke: "Aha, er schreit. Wahrscheinlich, weil seine Freundin heute nicht nett zu ihm war."
(Natürlich kann auch beides zugleich ablaufen, aber das führt meist dazu, dass die Teilnehmerperspektive zumindest in face-to-face-Interaktionen nicht authentisch, zumindest etwas distanziert wirkt. In leidenschaftlich-intimen Situation ist die Beobachter-Perspektive freilich manchmal hinderlich ;))
Vorstellen kann man sich das auch ganz gut, wenn man an intime Situationen denkt, in denen man sich innerlich anhand der Beobachterperspektive vom anderen distanziert: der andere sagt etwas Beleidigendes und man bezieht das nicht auf sich über die Du-Ich-Perspektive, sondern man objektiviert den anderen und fragt sich, warum er (der andere) das jetzt wohl sagt und gewinnt damit Abstand zur Situation, um sie zu verstehen und eventuell sein Handeln zu entschuldigen.

Wenn man nun diese beiden Perspektiven (Beobachterperspektive und Teilnehmerperspektive) noch einmal von außen betrachten kann (dezentriert), dann ist man fähg, die Beobachterperspektive und die Teilnehmerperspektive zu "koordinieren", insofern beide Personen dazu in der Lage sind.

Wenn man all dies auf Gruppen bezieht, dann kann man auch nach dem "Wir" aus der Wir-Perspektive fragen und nach dem "Ihr "aus der Ihr-Perspektive: die Perspektive einer Gruppe auf die Perspektive einer anderen Gruppe (z.B. die Frage: wie betrachten die Mahayana-Buddhisten die Theravada-Buddhisten)

Und schließlich gibt es noch die Frage der Evolution, die Sie-Perspektive: wie verhält sich all das vom Standpunkt des Außerirdischen/Gottes.

Es ist offensichtlich, dass die weiter dezentrierten Perspektiven eine Hinterfragung von gesellschaftlichen Normen ermöglicht und eine Relationierung des eigenen Selbst innerhalb sozialer Strukturen.


Ken Wilber schreibt:

"Meditation ist einfach die natürliche Fortsetzung eines Evolutionsprozesses, in dem jede Wendung nach innen auch eine Überschreitung zu einem weiteren Umfang ist."

"dass man mit fortschreitender Entwicklung immer besser in der Lage ist, den eigenen isolierten und subjektiven Standpunkt zu transzendieren und dadurch zu höheren und weiteren Perspektiven und Identitäten gelangt."

"Wenn wir all das zusammennehmen, kommen wir zu folgendem:
fortschreitende Entwicklung=zunehmende Verinnerlichung=zunehmende Autonomie=abnehmender Narzißmus/Egozentrik=Dezentrierung"

"Je mehr man also nach innen gehen kann, je introspektiver und selbstreflexiver man wird, desto mehr vermag man sich vom Ich zu lösen und über dessen begrenzten Horizont zu erheben und desto weniger narzißtisch oder egozentrisch - desto dezentrierter - wird man. Deshalb hören wir Piaget so häufig Dinge sagen, die paradox klingen, zum Beispiel: "Wenn das Kind sich schließlich seiner Subjektivität bewusst wird, entledigt es sich seiner Egozentrik."

Was denkt ihr über dieses Thema ?

Liebe Grüße :liebe1:
Energeia
 
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Das Thema ist extrem spannend. Ich kenne allerdings nur Wilber's Position und ein wenig Spiral Dynamics, durch Piaget habe ich mich bisher nicht gelesen. Als sehr bereichernd empfand ich Wilber's Synthese aus Piaget und Aurobindo (resp. den anderen esoterischen Entwicklungsmodellen). Es ist einerseits schade, aber gleichzeitig auch nicht allzu verwunderlich, dass die heutige Psychologie im grossen und ganzen die transpersonalen Bereiche gar nicht richtig kennt. Ich konnte anhand dieser Beschreibung recht gut kontrollieren, bis zu welchem Grad ich die von Wilber beschriebenen Stufen mehr oder weniger durchlaufen hatte, und exakt dort, wo mein intuitives Verständnis der Sache aufhört, genau dort stehe ich momentan. (Natürlich darf man das nicht allzu eng sehen, Wilber hat ja auch sein eindimensionales Stufenmodell, das er immerhin im Alter von ca. 25 entwickelt hatte, in ein mehrdimensionales, sehr komplexes Entwicklungsmodell ausgeweitet.)

Man sollte sich aber in meinen Augen vor einer einseitigen Verintellektualisierung hüten. Intellektuell nachzuvollziehen reicht nicht. Das, was hier beschrieben ist, ist etwas, das tief in der Persönlichkeit verankert sein muss, um seine Wirkung zu entfalten. So erkenne ich an mir beispielsweise, wie ich intellektuell mehrheitlich ziemlich gute Resultate erziele, andererseits aber emotional und vor allem wenn's um Beziehungen geht höchstens knapp mal ein durchschnittlich erreiche. Lernen in diesem Bereich geschieht eben nicht einfach dadurch, dass man ein Buch liest. Es ist notwendig, dass man sich in die entsprechenden Lebenssituationen hineinbegibt, dass man es durchlebt, auch wenn's mal so richtig ungemütlich und schmerzhaft sein kann. Anders ist Wachstum halt nun mal nicht möglich. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Beschreibung, halt eben eine Landkarte, aber die Karte ersetzt das Gehen und Erleben nicht. Mir sind schon "Wilberianer" untergekommen, die zwar durchaus mitreden konnten, aber über die intellektuelle Beschäftigung hinaus ging das nicht. Ich will darum auch in Diskussionen erkennen, wie sehr die Leute davon betroffen sind, wovon sie reden. Ist keine Betroffenheit erkennbar, so ist die Chance sehr gross, dass es sich um nichts als leeres Blabla handelt.

Betrachtet man darüberhinaus, welche Resultate langfristige Meditation erzielt, so könnte man es fast schon als kategorischen Imperativ bezeichnen, sie zu betreiben. Die Problem dieser Welt werden nicht gelöst, indem man "das System ändert" oder andere Politiker wählt. Personen wie George W. Bush richten unheimlich viel Schaden an. Umso wichtiger ist es, ein Instrument anzubieten - und Meditation IST ein solches Instrument - mit dem die Leute gefahrlos und problemlos die eigene Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben können.
 
Wenn das Kind sich schließlich seiner Subjektivität bewusst wird, entledigt es sich seiner Egozentrik.

Soviel ich weiß meinte Piaget mit frühkindlicher Egozentrik oder -m Narzismus die Tatsache, dass kleine Kinder noch nicht zwischen Ich-Umwelt unterscheiden können und für sie alles eins ist. Er meinte also nicht Egozentrismus im herkömmlichen Sinn.

Jean Piaget beschreibt die kognitive und emotionale Entwicklung des Menschen und ich fasse sie für mich folgendermaßen zusammen:

Ein Baby kommt mit einer gewissen Ausstattung an Reflexen (z.B. Saugen) auf die Welt. Es kommt zu Interkaktionen mit der Umwelt, das Baby variiert dabei seine Reflexe (z.B. Saugen an der Hand, in der Luft, an der Mutterbrust). So entsteht nach und nach ein Verhaltensrepertoire, das sich beliebig miteinander kombinieren lässt und immer komplexer wird. Wir erlernen kognitive Fähigkeiten, Emotionen und Verhaltensmuster. Der Vorgang ist nie abgeschlossen.


Meine Schlussfolgerungen daraus:
Das Ich-Du wird gelernt und verlernt. Am Anfang unterscheidet der Mensch nicht zwichen Ich und Umwelt, alles ist eins für ihn. Nur in der Dualität kann aber Entwicklung stattfinden, nur so kann sich Bewusstsein manifestieren.

Zuerst fand ich Piagets Forschung erschreckend, da ich in ihr den Menschen als Reflexmaschine reduziert sah. Aber zum einen passt sie sehr gut auf mein spirituelles Weltbild (Ego ist im letzten Ende Illusion) und außerdem lässt sie innere Vorgänge größtenteils außen vor.

Übrigens gab es neulich einen Streit in meiner Familie. Als nachher jeder erklärte, wie er sich jeweils gefühlt hatte, wurde deutlich, dass es zu einer Situation drei verschiedene subjektive Eindrücke gab.

Mehr eine Ergänzung als eine Antwort auf deine Frage, aber über Piaget wollte ich hier schon länger mal was schreiben. Mal gespannt, was sich hier ergibt, ein spannendes Thema! Danke dafür!

LG von Sansara
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Ergänzung: Meditation ist imho ein Mittel, dieser Einheitserfahrung wieder näherzukommen, was sehr heilsam (imho nicht vernichtend) für das Ego ist.

Nochwas interessantes: In der kindlichen Entwicklung spiegeln sich in vielen Bereichen die gesamtmenschlichen Entwicklungsschritte wieder. Evolution im Kleinen wie im Großen - das Kleine als (Unter-)Einheit des Großen?
 
Hallo,


@ fckw und andere :)

In dem mittleren Abschnitt deines Beitrages verdeutlichst Du die Notwendigkeit der Praxis und Beleuchtest den rein intellektuellen Zugang.
Dazu sind mir zwei Gedanken gekommen.

Es gibt eine – zumindest meiner Ansicht nach - exemplarische Stelle in Eros-Kosmos-Logos zu diesem Thema:

„So ist es auch bei den höheren oder transpersonalen Entwicklungsschritten. Man erklärt sie jemandem, der noch ganz auf der rationalen Stufe ist, und wird damit allenfalls ein alarmiertes Heben der Augenbrauen auslösen oder vielleicht die mitfühlende Frage, ob man denn heute schon sein Valium genommen habe.
Dies also ist die erste Feststellung, auf dich besonderen Wert lege: Was die transpersonale Entwicklung angeht, dürfen wir nur die Aussagen derer gelten lassen, die sich selbst schon so weit entwickelt haben und an denen deutliche Zeichen dieser Entwicklung zu erkennen sind. Diese höheren Stufen selbst sind zwar rational rekonstruierbar, aber nicht auf rationalem Weg erfahrbar. Sie sind nur aufgrund einer transrationalen kontemplativen Entwicklung zu erfahren, die genauso abläuft wie jede andere Entwicklungsphase und deren Erfahrungen genauso real sind.
Aber man muss reif sein für diese Erfahrung, sonst beliebt sie ein unsichtbares Jenseits. Wenn die Yogis oder Weisen beispielsweise sagen: „Die ganze Welt ist eine Manifestation des einen Selbst“, dann ist das keine lediglich rationale Aussage, über die wir nachzudenken haben, um zu sehen, ob sie uns logisch einleuchtet. Wir haben es hier vielmehr mit häufig poetischen Beschreibungen einer direkten Einsicht oder unmittelbaren Erfahrung zu tun, die wir selbst prüfen müssen, aber nicht durch philosophisches Brüten, sondern indem wir uns der experimentellen kontemplativen Methode bedienen und die erforderlichen kognitiven Instrumente entwickeln, um uns dann selbst auf unmittelbare Weise vergewissern zu können.“

Mir scheint es sinnvoll, an dieser Stelle das Modell „I, Me und Self“ – in Anlehnung an George Herbert Mead - vorzustellen.
Mead geht davon aus, dass das Kind in einer Frühphase lernt, zwischen I und Me zu unterscheiden.
„I“ kann man sich als Unmittelbarkeit, Authentizität, Spontanentität vorstellen. Und „Me“ ist die reflexive Wendung auf mein Ich, beispielsweise: „Achso, er meint mich“. Dieses „Mich=Me“ dient einerseits der „synchronen Identität“, "mich=Me" als mein "Ich=I" im Spiegelbild zu erkennen. Und andererseits ermöglicht es die bewusste Ich-Du Perspektive, da ""Ich" dadurch „verstehen“ kann, dass "Du" „mich“ meinst, wenn ...".
Das "Self" ist fähig, auf das „I“ und „Me“ zu blicken, es dezentriert beide Standpunkte. Es ist daher auch die Aufgabe des Self, Konflikte zwischen „I“ und „Me“ zu lösen. Ein typischer I-Me-Konflikt, der durch die Perspektive des Self gelöst wird, ist beispielsweise:

I: „Dieser Idiot, er hat mir weh getan. Ich bin so wütend !
Me: Ach, er hat es bestimmt nicht so gemeint. Er ist doch immer so lieb.
Self: Ok, einerseits ist er oft sehr lieb, aber wir können nicht immer alles entschuldigen. Wir müssen ihm jetzt nicht unsere Wut zeigen, aber wir können jetzt auch nicht einfach so spielen, als wäre nichts passiert, nur weil er sich das vielleicht wünscht.

Es findet hier also vom I über das Me zum Self ein Dezentrierungsprozess statt, wodurch auch Perspektivenübernahme ermöglicht wird.
Das „I“ entspricht der Ich-Perspektive, das „Me“ der Du-Perspektive und das Self ermöglicht die Beobachterperspektiven.
Es gibt hier auch eine Parallele zum „Dialog mit dem inneren Kind“: Das „I“ entspricht dem innere Kind (unmittelbare, authentische Bedürfnisse) das „Me“ dem erwachsene Kind (über die Reflexion anderen gefallen und Bedürfnisse tauschen) und das Self der Erwachsenen-Perspektive und eventuell das höhere Selbst.
Und auch eine Parallele zu den Chakren: 1., 2. Chakra = I, 3.4. Chakra = Me, 5,6, (7) Chakra =Self.

Und jetzt die Verbindung zum Text von Wilber:

Wilber ( er unterscheidet: proximate Self= I, distal Self = Me, transcendental Self = Self ) schreibt in Integral Psychology:
„For it is the proximate Self, that is the navigator through the basic waves in the Great Nest of Beeing.”

Er betont noch einmal, dass wir mit unserem Self zwar eventuell so weit dezentrieren, dass wir uns selbst als ein Element in einer Evolution vorstellen und viel Abstand zu uns selbst gewinnen können, dass wir eventuell über die Me-Perspektive vollkommen die Perspektive des Gegenübers einnehmen und hierdurch selbst-los handeln, dass jedoch letztlich die Entwicklung und die Erfahrungen des „I“ entscheidend ist.
Wenn die Erfahrungen nicht wirklich den Ich-Kern berühren, wenn das innere Kind abgeschnitten ist, die unteren Chakren nicht offen sind, wenn Dezentrierung nur intellektuell vollzogen wird, aber das „I“ sich nicht spirituelle entwickelt, dann gibt es auch insgesamt keine spirituelle Entwicklung.

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@ Sansara,

Sansara schrieb:
Zuerst fand ich Piagets Forschung erschreckend, da ich in ihr den Menschen als Reflexmaschine reduziert sah. Aber zum einen passt sie sehr gut auf mein spirituelles Weltbild (Ego ist im letzten Ende Illusion) und außerdem lässt sie innere Vorgänge größtenteils außen vor.

Also mein Eindruck ist, dass man die Theorie Piagets einfach nur als eine Theorie der „kognitiven“ Entwicklung betrachten kann und sollte – nicht mehr und nicht weniger. Es fehlt z.B. eine Entwicklung des Selbst, eine Entwicklung der Emotionen, etc. . Wenn man dann die Entwicklungstheorien des Selbst und der Emotionen genauer betrachtet, dann wird man sehen, dass es hier Entwicklungs-Koinzidenzen gibt: Mit der kognitiven Fähigkeit der synchronen Identität, geht die Spiegelerkenntnis und somit die „kognitive“ Erfassung des Ich einher, parallel entwickelt sich hierdurch Empathie, zuvor war nur Gefühlsansteckung möglich, aber keine Empathie, die ein Mitgefühl von einem Ich auf ein Du bezieht.
Der Mensch ist nicht nur Kognition, sondern sehr viel mehr, aber doch konstituiert und ermöglicht das Niveau der Kognitionen das „Weltbild“: eine kognitive Landkarte der Wirklichkeit. Und dabei – Weltbild - ist es dann entscheidend, in welchem kognitiven Ausmaß (Entwicklungsstufe) der Mensch sich selbst in Relation zu Relationen begreifen kann.

Sansara schrieb:
Soviel ich weiß meinte Piaget mit frühkindlicher Egozentrik oder -m Narzismus die Tatsache, dass kleine Kinder noch nicht zwischen Ich-Umwelt unterscheiden können und für sie alles eins ist. Er meinte also nicht Egozentrismus im herkömmlichen Sinn.

Ja, aber genau darauf verweist der (Fach-)Begriff „Egozentrismus“:

Egozentrismus (oder Egozentrizität) ist ein entwicklungspsychologischer Begriff und geht vor allem auf Piaget zurück. Der Egozentrismus ist eine v.a. kindlich-kognitive Geisteshaltung, die davon ausgeht, dass der eigenen, subjektiven Sicht ein objektiver Status zukommt. Dies ist nicht mit einer reflektierten Selbstverliebtheit (Egoismus) und nur bedingt mit Freuds Narzissmus zu verwechseln.
Egozentrimus zeigt sich am klarsten beim Säugling, der nicht einmal die eigenen Hände und Füße als Teile seines Körpers empfindet. Gegenstände existieren nicht, wenn sie außerhalb des Gesichtsfeldes sind (Aus den Augen - aus dem Sinn). Egozentrisches Denken besteht
während der gesamten Kindheit.

http://de.wikipedia.org/wiki/Egozentrismus

Im Gegensatz zu Egozentrismus wird hier noch Egoismus unterscheiden, der sich gerade durch die selbstverliebte Reflexion auf das Selbst unterscheidet, zu dem der reine Egozentrismus gar nicht fähig ist, weil hier nicht auf das Selbst reflektiert werden kann.

Davon kann man noch einmal „Egozentrik“ unterscheiden.

Egozentrik (von lat. ego Ich und centrum Mittelpunkt) bezeichnet die Eigenschaft des menschlichen Charakters, sich selbst im Mittelpunkt zu sehen und, damit meist einhergehend, eine übertriebene Selbstbezogenheit (Egoismus, mit dem man sie auf keinen Fall verwechseln sollte), und die Eigenschaft, andere Menschen beständig an sich selbst zu messen.
Ein Egozentriker kann Probleme mit dem Aufbau von engen Beziehungen zu anderen Menschen, wie auch in der Selbstbeobachtung/Selbstreflexion, bekommen. Egozentriker sind oftmals beleidigt, wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen; es missfällt ihnen, wenn andere an ihrer statt gerade die Aufmerksamkeit ihrer Umwelt haben.
http://de.wikipedia.org/wiki/Egozentrik

Egozentrismus und Egoismus unterscheiden sich folglich recht deutlich - während Egozentrik eine Kombination beider (und mehr) darstellt.

Meiner Meinung nach verwendet Wilber den Begriff "Eogzentrik" als Gegenbegriff zu "Dezentrierung", also vor allem im Sinne von Piaget, jedoch nur der „Funktion“ nach, denn er überträgt diese Funktion auf das Verhältnis aller Stufen.
Für Wilber besteht daher zwischen zwei Entwicklungs-Stufen, egal auf welchen Stufen, immer das Verhältnis von relativem Egozentrismus und relativer Dezentrierung. Auch die letzten Entwicklungsschritte von subtiler Ebene zur kausalen zur nondualen Ebene sind daher durch dieses Verhältnis ausgezeichnet.

Liebe Grüße :liebe1:
Energeia
 
Dieses alles hier mit Interesse gelesen habend, fiel mir wieder ein, was uns Sylvia Wetzel bei ihrem Meditations-Wochenende in Wien gesagt hatte. Sie wies uns darauf hin, daß wir in der Meditation die Aufmerksamkeit langsam und sanft von dem, was beobachtet werden kann, zu dem lenken sollen, was BEOBACHTET.

Heute während der Atemmeditation wurde mir schlagartig im Zusammenhang damit etwas klar: Man macht in der Meditation genau das, was gemeint ist mit dezentrieren und zentrieren. Es relativiert sich der ewig nur vom ICH ausgehende Blickwinkel allein durch den Vorgang, sorgfältig den Atem zu beobachten. Dabei entdeckt man nämlich zwei scheinbare Pole, zwischen denen man wechseln kann. Man kann den Vorgang des Atems beobachten, und man kann nachzufühlen beginnen, was oder wer denn da eigentlich den Atem beobachtet.

Es ist jetzt nicht ganz einfach für mich, klar auszudrücken, was ich meine - ich hoffe, es ist verständlich. Meditation ist genau das, was die Brücke schlägt zwischen dem, was man als Kleinkind unbewußt richtig gemacht hat - und dem, was man nun als Erwachsener, nach all den kognitiven Auseinandersetzungen mit all den Sachverhalten, wieder richtig zu machen lernt - aber diesmal bewußt, und das ist der Punkt.
 
Hallo Kinnaree,

ja, das würde ich auch genau so ausdrücken, wie Du das geschrieben hast. Es ist ein bewusstes Sein des Wechsels, der Vereinigung und dem Zusammenspiel von Zentrierung und Dezentrierung, dem Beobachteten und dem Beobachtenden.


:liebe1: :liebe1:
 
Kinnaree schrieb:
Dieses alles hier mit Interesse gelesen habend, fiel mir wieder ein, was uns Sylvia Wetzel bei ihrem Meditations-Wochenende in Wien gesagt hatte. Sie wies uns darauf hin, daß wir in der Meditation die Aufmerksamkeit langsam und sanft von dem, was beobachtet werden kann, zu dem lenken sollen, was BEOBACHTET.

Heute während der Atemmeditation wurde mir schlagartig im Zusammenhang damit etwas klar: Man macht in der Meditation genau das, was gemeint ist mit dezentrieren und zentrieren. Es relativiert sich der ewig nur vom ICH ausgehende Blickwinkel allein durch den Vorgang, sorgfältig den Atem zu beobachten. Dabei entdeckt man nämlich zwei scheinbare Pole, zwischen denen man wechseln kann. Man kann den Vorgang des Atems beobachten, und man kann nachzufühlen beginnen, was oder wer denn da eigentlich den Atem beobachtet.

Es ist jetzt nicht ganz einfach für mich, klar auszudrücken, was ich meine - ich hoffe, es ist verständlich. Meditation ist genau das, was die Brücke schlägt zwischen dem, was man als Kleinkind unbewußt richtig gemacht hat - und dem, was man nun als Erwachsener, nach all den kognitiven Auseinandersetzungen mit all den Sachverhalten, wieder richtig zu machen lernt - aber diesmal bewußt, und das ist der Punkt.
Exakt! Und eben deshalb funktioniert Meditation. Sie löst langfristig unzählige Identifikationen auf. "Ich" halte mich für dies und das. In der Meditation erfahre ich unzählige Male, dass ich nichts von alldem bin. Das, was am Ende übrig bleibt, ist kaum in Worte zu fassen, es ist eine grosse, weite Leere ohne konkreten Inhalt. Übrig bleibt einfach nur noch die Gewissheit: Ich bin, und selbst das ist noch zuviel an Worten. Alles andere, und seien es noch so verrückte Meditationserlebnisse, stellen einen Inhalt dar, eine Form, und das bin ich nicht!
Man darf nicht glauben, die Meditation würde einen irgendwohin tragen, und irgendwann würde einen die Erleuchtung erwischen - nein, in der Meditation wird die Erleuchtung unmittelbar nachgeahmt. Die dort erfahrenen Zustände der Stille und Ruhe entsprechen der Geistesstille des tief Erleuchteten. Während sie beim Meditierenden allerdings nur während der Dauer der Meditation bleiben und diese Dauer nach und nach durch die Übung ausgedehnt wird, sind sie für den Erleuchteten mehr oder minder dauerhaft vorhanden. Erleuchtung ist in diesem Sinne subjektiv graduell messbar, nämlich in dem Masse der Dauerhaftigkeit und Tiefe der inneren Stille.

Aber das sind Zusammenhänge, die ich erst nach einigen Jahren Meditation verstanden habe.
 
Die Stille wird nicht durch die Übung ausgedehnt. Stille kann man nicht kultivieren. Die Stille wird durch das "in-ordnung-bringen-der-realität" ausgedehnt....und das heisst nichts anderes als die realität als das anzusehen, was sie ist.
 
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ElaMiNaTo schrieb:
Die Stille wird nicht durch die Übung ausgedehnt. Stille kann man nicht kultivieren. Die Stille wird durch das "in-ordnung-bringen-der-realität" ausgedehnt....und das heisst nichts anderes als die realität als das anzusehen, was sie ist.
Agree. Im Grunde genommen wird nichts neues entdeckt. Durch das Beseitigen der Hindernisse wird der Blick freigeräumt auf das, was schon vorher und schon immer da gewesen ist.
 
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