Energeia
Sehr aktives Mitglied
Hallo,
Der von Jean Piaget geprägte Begriff der Dezentrierung beschreibt in der Entwicklungspsychologie die Fähigkeit des Kindes seine Aufmerksamkeit auf mehrere Merkmale/Dimensionen eines Objektes oder Ereignisses zu richten und diese Merkmale/Dimensionen in Beziehung zueinander zu setzen. Diese Beziehungen der Merkmale untereinander werden nicht nur erkannt, sondern auch vom Kind verstanden. Das Kind begreift die Mehrdimensionalität von Objekten.
Zentrierungen auf ein oder wenige Merkmale können zur Folge haben, dass wichtige Aspekte übersehen werden. Wird z.B. beim Umschütten der Flüssigkeit nur auf die Höhe des schmaleren Gefässes, nicht aber auf dessen Durchmesser geachtet, gelangt man zu einem Fehlurteil. Wenn ein Kind die zweite Dimension ins Auge fasst (Piaget spricht dann von einer Dezentrierung oder Umzentrierung), verliert es oft die erste wieder aus dem Sinn (sog. eindimensionales Denken).
( http://www.psychologie.unizh.ch/genpsy/lehre/ws99_00/skript/Piaget.html siehe hier auch: 1.6.4.1 Drei-Berge-Versuch)
(Eine Übersicht über die Entwicklungsstufen: http://www.deutsch4u.de/lexikon/Jean_Piaget )
Der Begriff der sozialen Perspektivenübernahme umfasst nicht nur die Art, in der soziales oder psychologisches Wissen einer Person vom Standpunkt einer anderen gesehen wird, wie dies der Begriff der Rollenübernahme impliziert, sondern umfasst zentral das sich entwickelnde Verständnis dafür, wie verschiedene Blickwinkel zueinander in Beziehung stehen und miteinander koordiniert werden können .
"Perspektivenübernahme" ist nun insofern eine spezifische Dezentrierung, als es hier nicht um Relationen von Dimensionen/Eigenschaften von Objekten, sondern um das Verständnis der Relationen von Perspektiven.
Es geht darum, den egozentrischen Standpunkt zu „de-zentrieren“, andere Perspektiven einzunehmen, von einer anderen Perspektive aus die eigene Perspektive zu betrachten und die andere Perspektive zu der eigenen Perspektive als in einer Relation stehend zu verstehen.
( http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/SozialkognitivEntwicklung.shtml )
Das kann man sich zunächst zwischen zwei Personen vorstellen, die miteinander in der Ich-Du-Perspektive sprechen. Ich spreche mit dem Gegenüber als einem Du, also teilnehmend, und gehe auf das ein, wie er es meint. Er sagt: "Ich will das nicht, weil mich das wütend macht". Und ich verstehe ihn einfühlend, weil ich seine Ich-Perspektive einnehme.
Ich kann den anderen aber auch aus der Beobachterperspektive (Er/Sie/Es) betrachten, indem ich ihn analysiere, als ob er mein Analyse-Objekt wäre. Er sagt: "Ich will das nicht, weil mich das wütend macht." Ich öffne mich hierbei nicht für seine Ich-Perspektive, sondern ich blicke mit einem Analyse-Schema auf ihn und denke: "Aha, er schreit. Wahrscheinlich, weil seine Freundin heute nicht nett zu ihm war."
(Natürlich kann auch beides zugleich ablaufen, aber das führt meist dazu, dass die Teilnehmerperspektive zumindest in face-to-face-Interaktionen nicht authentisch, zumindest etwas distanziert wirkt. In leidenschaftlich-intimen Situation ist die Beobachter-Perspektive freilich manchmal hinderlich )
Vorstellen kann man sich das auch ganz gut, wenn man an intime Situationen denkt, in denen man sich innerlich anhand der Beobachterperspektive vom anderen distanziert: der andere sagt etwas Beleidigendes und man bezieht das nicht auf sich über die Du-Ich-Perspektive, sondern man objektiviert den anderen und fragt sich, warum er (der andere) das jetzt wohl sagt und gewinnt damit Abstand zur Situation, um sie zu verstehen und eventuell sein Handeln zu entschuldigen.
Wenn man nun diese beiden Perspektiven (Beobachterperspektive und Teilnehmerperspektive) noch einmal von außen betrachten kann (dezentriert), dann ist man fähg, die Beobachterperspektive und die Teilnehmerperspektive zu "koordinieren", insofern beide Personen dazu in der Lage sind.
Wenn man all dies auf Gruppen bezieht, dann kann man auch nach dem "Wir" aus der Wir-Perspektive fragen und nach dem "Ihr "aus der Ihr-Perspektive: die Perspektive einer Gruppe auf die Perspektive einer anderen Gruppe (z.B. die Frage: wie betrachten die Mahayana-Buddhisten die Theravada-Buddhisten)
Und schließlich gibt es noch die Frage der Evolution, die Sie-Perspektive: wie verhält sich all das vom Standpunkt des Außerirdischen/Gottes.
Es ist offensichtlich, dass die weiter dezentrierten Perspektiven eine Hinterfragung von gesellschaftlichen Normen ermöglicht und eine Relationierung des eigenen Selbst innerhalb sozialer Strukturen.
Ken Wilber schreibt:
"Meditation ist einfach die natürliche Fortsetzung eines Evolutionsprozesses, in dem jede Wendung nach innen auch eine Überschreitung zu einem weiteren Umfang ist."
"dass man mit fortschreitender Entwicklung immer besser in der Lage ist, den eigenen isolierten und subjektiven Standpunkt zu transzendieren und dadurch zu höheren und weiteren Perspektiven und Identitäten gelangt."
"Wenn wir all das zusammennehmen, kommen wir zu folgendem:
fortschreitende Entwicklung=zunehmende Verinnerlichung=zunehmende Autonomie=abnehmender Narzißmus/Egozentrik=Dezentrierung"
"Je mehr man also nach innen gehen kann, je introspektiver und selbstreflexiver man wird, desto mehr vermag man sich vom Ich zu lösen und über dessen begrenzten Horizont zu erheben und desto weniger narzißtisch oder egozentrisch - desto dezentrierter - wird man. Deshalb hören wir Piaget so häufig Dinge sagen, die paradox klingen, zum Beispiel: "Wenn das Kind sich schließlich seiner Subjektivität bewusst wird, entledigt es sich seiner Egozentrik."
Was denkt ihr über dieses Thema ?
Liebe Grüße
Energeia
Der von Jean Piaget geprägte Begriff der Dezentrierung beschreibt in der Entwicklungspsychologie die Fähigkeit des Kindes seine Aufmerksamkeit auf mehrere Merkmale/Dimensionen eines Objektes oder Ereignisses zu richten und diese Merkmale/Dimensionen in Beziehung zueinander zu setzen. Diese Beziehungen der Merkmale untereinander werden nicht nur erkannt, sondern auch vom Kind verstanden. Das Kind begreift die Mehrdimensionalität von Objekten.
Zentrierungen auf ein oder wenige Merkmale können zur Folge haben, dass wichtige Aspekte übersehen werden. Wird z.B. beim Umschütten der Flüssigkeit nur auf die Höhe des schmaleren Gefässes, nicht aber auf dessen Durchmesser geachtet, gelangt man zu einem Fehlurteil. Wenn ein Kind die zweite Dimension ins Auge fasst (Piaget spricht dann von einer Dezentrierung oder Umzentrierung), verliert es oft die erste wieder aus dem Sinn (sog. eindimensionales Denken).
( http://www.psychologie.unizh.ch/genpsy/lehre/ws99_00/skript/Piaget.html siehe hier auch: 1.6.4.1 Drei-Berge-Versuch)
(Eine Übersicht über die Entwicklungsstufen: http://www.deutsch4u.de/lexikon/Jean_Piaget )
Der Begriff der sozialen Perspektivenübernahme umfasst nicht nur die Art, in der soziales oder psychologisches Wissen einer Person vom Standpunkt einer anderen gesehen wird, wie dies der Begriff der Rollenübernahme impliziert, sondern umfasst zentral das sich entwickelnde Verständnis dafür, wie verschiedene Blickwinkel zueinander in Beziehung stehen und miteinander koordiniert werden können .
"Perspektivenübernahme" ist nun insofern eine spezifische Dezentrierung, als es hier nicht um Relationen von Dimensionen/Eigenschaften von Objekten, sondern um das Verständnis der Relationen von Perspektiven.
Es geht darum, den egozentrischen Standpunkt zu „de-zentrieren“, andere Perspektiven einzunehmen, von einer anderen Perspektive aus die eigene Perspektive zu betrachten und die andere Perspektive zu der eigenen Perspektive als in einer Relation stehend zu verstehen.
( http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MORALISCHEENTWICKLUNG/SozialkognitivEntwicklung.shtml )
Das kann man sich zunächst zwischen zwei Personen vorstellen, die miteinander in der Ich-Du-Perspektive sprechen. Ich spreche mit dem Gegenüber als einem Du, also teilnehmend, und gehe auf das ein, wie er es meint. Er sagt: "Ich will das nicht, weil mich das wütend macht". Und ich verstehe ihn einfühlend, weil ich seine Ich-Perspektive einnehme.
Ich kann den anderen aber auch aus der Beobachterperspektive (Er/Sie/Es) betrachten, indem ich ihn analysiere, als ob er mein Analyse-Objekt wäre. Er sagt: "Ich will das nicht, weil mich das wütend macht." Ich öffne mich hierbei nicht für seine Ich-Perspektive, sondern ich blicke mit einem Analyse-Schema auf ihn und denke: "Aha, er schreit. Wahrscheinlich, weil seine Freundin heute nicht nett zu ihm war."
(Natürlich kann auch beides zugleich ablaufen, aber das führt meist dazu, dass die Teilnehmerperspektive zumindest in face-to-face-Interaktionen nicht authentisch, zumindest etwas distanziert wirkt. In leidenschaftlich-intimen Situation ist die Beobachter-Perspektive freilich manchmal hinderlich )
Vorstellen kann man sich das auch ganz gut, wenn man an intime Situationen denkt, in denen man sich innerlich anhand der Beobachterperspektive vom anderen distanziert: der andere sagt etwas Beleidigendes und man bezieht das nicht auf sich über die Du-Ich-Perspektive, sondern man objektiviert den anderen und fragt sich, warum er (der andere) das jetzt wohl sagt und gewinnt damit Abstand zur Situation, um sie zu verstehen und eventuell sein Handeln zu entschuldigen.
Wenn man nun diese beiden Perspektiven (Beobachterperspektive und Teilnehmerperspektive) noch einmal von außen betrachten kann (dezentriert), dann ist man fähg, die Beobachterperspektive und die Teilnehmerperspektive zu "koordinieren", insofern beide Personen dazu in der Lage sind.
Wenn man all dies auf Gruppen bezieht, dann kann man auch nach dem "Wir" aus der Wir-Perspektive fragen und nach dem "Ihr "aus der Ihr-Perspektive: die Perspektive einer Gruppe auf die Perspektive einer anderen Gruppe (z.B. die Frage: wie betrachten die Mahayana-Buddhisten die Theravada-Buddhisten)
Und schließlich gibt es noch die Frage der Evolution, die Sie-Perspektive: wie verhält sich all das vom Standpunkt des Außerirdischen/Gottes.
Es ist offensichtlich, dass die weiter dezentrierten Perspektiven eine Hinterfragung von gesellschaftlichen Normen ermöglicht und eine Relationierung des eigenen Selbst innerhalb sozialer Strukturen.
Ken Wilber schreibt:
"Meditation ist einfach die natürliche Fortsetzung eines Evolutionsprozesses, in dem jede Wendung nach innen auch eine Überschreitung zu einem weiteren Umfang ist."
"dass man mit fortschreitender Entwicklung immer besser in der Lage ist, den eigenen isolierten und subjektiven Standpunkt zu transzendieren und dadurch zu höheren und weiteren Perspektiven und Identitäten gelangt."
"Wenn wir all das zusammennehmen, kommen wir zu folgendem:
fortschreitende Entwicklung=zunehmende Verinnerlichung=zunehmende Autonomie=abnehmender Narzißmus/Egozentrik=Dezentrierung"
"Je mehr man also nach innen gehen kann, je introspektiver und selbstreflexiver man wird, desto mehr vermag man sich vom Ich zu lösen und über dessen begrenzten Horizont zu erheben und desto weniger narzißtisch oder egozentrisch - desto dezentrierter - wird man. Deshalb hören wir Piaget so häufig Dinge sagen, die paradox klingen, zum Beispiel: "Wenn das Kind sich schließlich seiner Subjektivität bewusst wird, entledigt es sich seiner Egozentrik."
Was denkt ihr über dieses Thema ?
Liebe Grüße
Energeia