ZEIT: Viele behaupten, mit dem Monotheismus sei eine neue Form von Gewalt in die Welt gekommen. Zum Beispiel im Alten Testament, das den blutigen Aufstand der Makkabäer schildert.
Girard: Es mag sein, dass es sich dabei um eine Form von Gewalt handelt, die intensiver ist als andere Gewalt. Aber die Behauptung, im Alten Testament gebe es eine absolut neue Form von Gewalt, scheint mir doch ausgesprochen fraglich zu sein. Dass ganze Kulturen, Bevölkerungen und Rassen sich gegenseitig zerstören, könnte durchaus in die Neandertal- und Cromagnon-Zeit zurückreichen. Das Besondere an der Bibel ist allerdings, dass sie diese Gewalt offen und ehrlich beschreibt. Sie schildert, wie feindliche Städte zerstört und ganze Bevölkerungen ausgelöscht werden. Als Text ist die Bibel viel gewalttätiger als die antike Mythologie. Ich sage das nicht gegen die Bibel, im Gegenteil.
ZEIT : Und worin unterscheiden sich dann die Gewaltdarstellungen?
Girard: Die antike Mythologie durchschaut ihre eigene Gewalt nicht, das ist der entscheidende Unterschied. Sie zeigt uns immer wieder schuldige Menschen, die schuldig sind. Das heißt: Diejenigen, die in mythologischen Erzählungen Gewalt ausüben, begreifen ihre eigene Gewalt nicht, an keiner Stelle. Sie behaupten sogar, sie würden Gerechtigkeit üben. Erst die Bibel, und das bewundere ich an ihr, durchschaut die archaische Gewalt und unseren Anteil daran.
ZEIT : Trotzdem gibt es durchaus prominente Stimmen, die behaupten, erst das Juden- und das Christentum hätten uns aus dem Paradies der Antike vertrieben. Bis zur Erfindung des Monotheismus hätten die Menschen friedlich unter der Sonne Griechenlands oder Ägyptens gelebt.
Girard: Wenn Sie griechische Tragödien lesen, dann war die Antike nicht unbedingt ein Vergnügen. Es war eine Welt, die nur in einer Hinsicht besser war also unsere: Die Menschen besaßen lediglich Schwerter, aber keine Atombomben. Wenn man damals die Atombombe gehabt hätte, dann wäre die antike Welt genauso gewesen wie unsere: Eine Welt voller Gewalt, in der sich niemand freiwillig ergeben will.
ZEIT : War das Heidentum nicht toleranter und friedfertiger als die biblischen Religionen?
Girard: Ich kenne diese Argumente. Das Lob des Heidentums zeigt eigentlich nur, dass sich die Menschen dem Evangelium nicht aussetzen wollen oder ihm nicht gewachsen sind. Denn in gewisser Weise ist das Christentum eine extrem komplexe Religion. Auf den ersten Blick scheint es sich gar nicht so sehr von dem zu unterscheiden, was vorher war. Das Christentum kann als Opferreligion gelesen werden, und das war im Mittelalter durchaus der Fall. Inzwischen lesen wir das Christentum aber anders. Wir verstehen immer besser, dass es vor allem eines fordert – nämlich Frieden.
ZEIT : Warum wird der Monotheismus trotzdem für die moderne Gewalt verantwortlich gemacht?
Girard: Weil er uns nicht erlaubt, Gewalt als Heilmittel gegen Gewalt einzusetzen. Die christliche Religion scheint uns nicht in derselben Weise zu schützen wie die archaischen Religionen mit ihren Blutopfern dies tun. Und deshalb wird sie beschuldigt, Gewalt zu erzeugen.
ZEIT : Die monotheistische Religion ist unser Sündenbock?
Girard: Durchaus. Derjenige, der uns die eigene Gewalt vor Augen führt und enthüllt, sitzt plötzlich auf der Anklagebank. Unsere eigene Gewalt wehrt sich heftig gegen eine Religion, die es uns verbietet, Gewalt einzusetzen. Deshalb ist das Christentum der perfekte Sündenbock, und es hat sich ja selbst so bezeichnet. Auch Jesus war ein freiwilliger Sündenbock. Er hat uns eine Religion hinterlassen, die den Gewalt- und Opfermechanismus in unserem Zusammenleben bloßgelegt hat. Deshalb provoziert er die Menschen, die christliche Religion auf alle mögliche Art und Weise zu leugnen und zu Grabe zu tragen. Doch damit ruft man den Gott der Gewalt ein zweites Mal an, und das wäre dann wirklich der Weg in ein neues Heidentum. Aber vielleicht liegt darin auch eine tiefe Ironie. Denn wenn sich alle Welt gegen die Religion verbündet, dann wird die Menschheit vielleicht friedlich. Das wäre sozusagen der Gipfel der Humanität. Wir erfüllen die Botschaft des Christentums, indem wir es nach Kräften verleugnen.
ZEIT : Und warum gehört unter Intellektuellen die Kritik am Monotheismus dennoch zum guten Ton?
Girard: Ja, das ist wirklich komisch. Mir scheint, wir sind heute dabei, alle Übel dieser Welt den biblischen Religionen aufzubürden, und das tun wir ziemlich gut. Anstatt das Faktum anzuerkennen, dass Religion in erster Linie von der menschlichen Gewalt handelt, machen wir sie zum Sündenbock. So entlasten wir uns selbst. Wir vermeiden damit, der Wahrheit ins Auge blicken zu müssen – nämlich unserem eigenen Verhältnis zur Gewalt. Wenn das Christentum an allem schuld ist, dann müssen wir uns unsere heimliche Komplizenschaft mit der Gewalt nicht mehr eingestehen.
ZEIT : Wenn wir heute über den Monotheismus streiten, dann streiten wir in Wirklichkeit über unsere eigene Gewalttätigkeit?
Girard: So sehe ich es. Und diese Diskussion ist wahrscheinlich die interessanteste, die die Menschen je über ihre eigene Gewalttätigkeit geführt haben. Allmählich erkennen wir, dass die Gewalt nicht mehr kathartisch ist, sondern zerstörerisch. Zwischen uns existiert ein mimetischer Mechanismus, der die Gewalt immer weiter steigert. Noch einen Schritt weiter, und wir sind am Ende. Krieg und Gewalt erreichen einen Punkt, wo sie alles zerstören. Dennoch reicht die extreme Gewalt, zu der wir heute fähig sind, offensichtlich nicht aus, um uns zu zwingen, dieser Gewalt abzuschwören. So gesehen, leben wir in einer sehr aufklärerischen Situation. Sie zeigt uns alle möglichen Formen von Gewalt. Es ist unsere eigene.
ZEIT : Wie lässt sich der Zirkel von Gewalt und Gegengewalt unterbrechen?
Girard: Das weiß ich nicht. Ich sehe nur die Möglichkeit, gute Interpretationen des Christentums zu liefern. Wir müssen erkennen, was das Christentum von uns fordert und was es uns in gewisser Weise auch angetan hat: Es hat unsere Freiheit vergrößert. Die Freiheit, uns zu zerstören oder uns zu retten. Im Augenblick scheint mir, dass wir es vorziehen, uns zu zerstören. Aber den Monotheismus für unsere jetzige Lage verantwortlich zu machen – das ist ein Witz.
Quelle:
http://www.zeit.de/2005/13/Interview_Girard?page=7