Beispiel: Eine 40-jährige alleinerziehende
Mutter von zwei Kindern kommt in die Praxis und lässt sich, nachdem alle
anderen Therapien nicht das gewünschte Ergebnis brachten, ein Mittel spritzen,
welches eine Immunantwort hervorruft. Da die Patientin Asthmatikerin ist, hat
sie aufgrund ihrer Vorerkrankung ein stark erhöhtes Allergie-Risiko in Bezug
auf alle injizierten Mittel. Unmittelbar nach Injektion des Mittels verstirbt
die Patientin in der Praxis. Auch der eilig herbeigerufene Notarzt kann nicht
mehr helfen. Da die Todesursache als „ungeklärt” definiert wird, ermittelt die
Kriminalpolizei. Die Leiche der Frau wird auf die Gerichtsmedizin der Uniklinik
Aachen (diese ist inzwischen leider seit längerer Zeit aus Kostengründen
geschlossen) gebracht und hier untersucht.
Der Behandler redete an diesem Tag sehr ruhig
und besonnen zu mir, und befreite mich gönnerhaft von einer Aussage bei der
kriminalpolizeilichen Untersuchung: „Sie haben damit ja nichts zu tun. Sie
können in Ruhe weiterarbeiten.” Was sich tags drauf in der Praxis abspielte,
erinnerte an klassisch-griechische Dramaturgie.
Die
Leiche ist nicht freigegeben!
Diese kurze und prägnante Feststellung wurde,
an mich gerichtet, von der Ehefrau des Praxisinhabers in lauten, weinerlichen
Tönen konstatiert. Gleichzeitig entblößte sich Frau S. den Arm und flehte mich
laut an: „Spritzen Sie mir was!” Damit war gemeint, ich solle ihr ein
Beruhigungsmittel injizieren, weil ihr Ehemann ebendies verweigerte. Ich kam
dieser Aufforderung nicht nach und lehnte jegliches Eingreifen ab. Dieses Spiel
wiederholte sich am nächsten Morgen, am übernächsten Morgen, am
über-übernächsten Morgen – eine Woche dasselbe Spiel mit großem dramatischen
Gestus: „Spritzen Sie mir endlich was!!”
Nach einer Woche kam unerwartet die Wende. Die
Leiche war endlich freigegeben. Es gab einen Grund zum Feiern.
Ich habe Frau S. nie fröhlicher und
ausgelassener erlebt, als an dem Tag, an dem die Leiche freigegeben wurde.
Frau S. verlor kein Wort über die
übrigbleibenden Kinder. Sie verlor kein Wort von Reue. Sie verlor auch kein
Wort von Schuld. Frau S. zog ihren Pelzmantel an, stieg in ihren braunen Jaguar
und wünschte mir und dem gesamten Team einen schönen Tag. Wir sollten teilhaben
an der Freude und entspannt weiterarbeiten.
Mit Abscheu quittierte ich wenig später die
Arbeit in dieser Praxis.