Ich bitte darum, diesen Beitrag GANZ zu lesen, bevor drauf reagiert wird. In einer der beiden Hälften gibt es glaube ich für jeden etwas zum Kritisieren
Über Religion gibt es ein paar Zitate, die mir - als starken Agnostiker - gut gefallen (man verzeihe mir bitte, wenn diese Zitate nicht wörtlich sind; ich bin gerade zu faul, den wörtlichen Wortlaut zu suchen).
"Jede Vorstellung über Gott sagt wahrscheinlich mehr über den Menschen aus, der diese Vorstellung hat." (Prof. Harald Lesch)
"Ein paar der besten Menschen sind/waren religiös. Allerdings auch ein paar der schlechtesten Menschen." (Richard Dawkins)
"Ohne Religion sind es böse Menschen, die böses tun und gute Menschen, die gutes Tun. Nur Religion bringt gute Menschen dazu, böses zu tun." (Richard Dawkins)
Religionen haben in der Menschheitsgeschichte zu diversen Grausamkeiten geführt und tun es (zumindest teilweise) immernoch. Menschenopfer, Kriege, Verfolgungen, Diskriminierungen, Morde... die Liste der Untaten, die im Namen von der einen oder anderen Religion (organisierten ) begangen wurden und werden, ist lang.
In Anbetracht der Grausamkeiten, die beispielsweise die Kirche im Mittelalter an den Tag gelegt hat (Hexenverfolgung, Inquisition) kann es einen von außen betrachtet schon wundern, was heute noch Menschen an der Kirche hält.
Nun kommt das große
ABER:
Ich bin sehr christlich aufgewachsen und erzogen worden. Meine Kindheit verlief im Dunstkreis einer christlichen Gemeinschaft - wenn ich böse drauf bin, nenne ich es auch mal Sekte. Die Pastoren-Dichte in meiner Verwandschaft ist sehr hoch. Mein Großvater mütterlicherseits war Pastor (und im übrigen Nazi-Gegner, worauf ich zugegebenermaßen ein wenig Stolz bin), und zwei meiner Onkel übten ebenfalls diesen beruf aus.
Ich habe fast alle Fassetten dieser Religion selbst sehr dicht kennen gelernt... und mit der Zeit distanzierte ich mich immer mehr vom Glauben an Gott und wurde zum Agnostiker, der ich heute bin (mit einer zwischenzeitlichen kurzen Wendung).
In der Freikirche sah ich so einige negative Fassetten: Kreationisten (wenn auch bei weitem nicht alle), ein stiller "Wettbewerb" darüber, wer denn nun spirituelleer und "geistig höher" ist als der andere, ein inflationärer und vor allem irrationaler Gebrauch des Wortes "Sünde" ... gab es alles. Ihr sei aber zu gute gehalten, dass auf Aussteiger (wie z.B. meine Mutter) keinerlei psychischer Druck ausgeübt wird, weswegen der Begriff "Sekte" eigentlich nicht angebracht ist.
In der "normalen" evangelischen Kirche, zu der ich auch Berührungen hatte und immernoch habe, sehe ich allerdings derzeit fast nur schöne Fassetten. Ich kenne viele Pastorinnen (Gleichberechtigung der Frau). Es wird NICHT mit der Hölle gedroht, das Wort Sünde taucht herzlich wenig auf. Homosexualität wird in den Gemeinden, die ich direkt kenne, definitiv nicht verdammt oder als Sünde angesehen.
Ich weiß allerdings auch, dass das alles nicht für die ganze evangelische Kirche gilt, und ich mit den gemeinden, die ich kenne, viel Glück habe.
Als eine gute Freundin von mir und kurz danach mein Vater starben, bot mir das dieser Glaube aus meiner Kindheit Hoffnung und Trost. Die Trauergottesdienste und die Gespräche mit der Pastorin haben mir sehr geholfen.
Meinem Vater hat sein sehr tiefer Glaube geholfen, den Tod mit einer gewissen Gelassenheit zu begegnen. Natürlich wollte er nicht sterben, und natürlich hatte er Angst; er sah es aber "gelassener", als wenn er diesen Glauben nicht gehabt hätte.
Und immernoch finde ich: Im neuen Testament der Bibel stehen einige Weisheiten (unabhängig davon, ob Jesus Christus nun Gottes Sohn war oder "nur" ein einfacher Preediger, die es damals zu Hauf gab, oder gar nur eine fiktive Figur). Und bei allem nicht-Glauben an Gott habe ich allerdings die leise Hoffnung mich zu irren (wobei der Gott bzw. die Vorstellung des göttlichen, auf das ich gerne hoffen würde, eine andere ist, als das Gottesbild im Christentum). Diese Hoffnung ist rational nicht begründet, und ich werde mich hüten, sie irgendwie zu rationalisieren oder zu rechtfertigen.
Insofern mein persönliches Fazit: Ich bin zwiegespalten. Auf der einen Seite kritisiere ich Religion und irrationale Glaubensvorstellungen und bezeichne mich selbst als "starken Agnostiker", wenn nicht gar auch als Atheisten. Auf der anderen Seite habe ich zwar schlechte Fassetten der Religion kennengelernt, aber auch so einige sehr schöne, die - zusammen mit meiner familiären "Geschichte" - dazu führen, dass ich mich Teilen des Christentums (nicht des ganzen) "nahe" fühle.
Auf die Frage, ob die Menschen Religion brauchen:
Kein Mensch denkt 100% rational. Kein Mensch kann von sich behaupten, dass er alle Fakten rational und gleicchwertig betrachtet und sich daraus automatisch das richtige Urteil bildet. Kein Mensch fällt seine Urteile und handelt ausschließlich aufgrund bewiesener Fakten. Jeder Mensch glaubt zu einem Großteil... an was auch immer.
Viele Grüße
Joey