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AphroditeTerra
Guest
So weit das Auge reichte, erstreckten sich im Tal von Lahsa die hohen, schneebedeckten Berge. Und vor diesem Hintergrund stand das Kloster Gaden mit seinen weiß gekalkten Mauern, den Tempeln und golden schimmernden Dächern.
Stella saß neben Lama Mipam. Er hatte sich gefreut, als sie kam und schenkte ihr ein gütiges Lächeln. Dann erzählte er weiter über Tibet, das alte Land Bod.
Schwerelos wie eine Vision des Himmels befreiten sich die mächtigen Gebäude des Klosters aus dem Frühdunst. Das Kloster Gaden, benannt nach dem Paradies, in dem Maytreya, der Buddha der kommenden Zeiten, auf seine Stunde wartet, um zu den Menschen zu kommen.
Der große Tsongkhapa ließ das Kloster 1409 errichten und gründete die Gelupga Gelbmützen, zu der unser heutiger XIV Dalai Lama Tensing Gyatso gehört.
Wie gebannt lauschte Stella. Der alte Lama verweilte in ruhiger Haltung, aber was er erzählte, klang spannend wie ein historischer Abenteuerroman. Stella sah geradezu die weiten Hochebenen Tibets vor sich, die blau durchsichtige Landschaft, die ihr letzte Nacht im Traum begegnet war.
Zu dieser Zeit wurde in einem der entlegensten Hochtälern im westlichen Tibet ein Kind geboren, fuhr der Lama fort. Wie alte Aufzeichnungen berichten, überfielen Räuber in einer kalten Winternacht das Dorf. Die verschreckte Mutter versteckte das Kind hinter Steinen und floh mit den übrigen Dorfbewohnern. Als die Gefahr vorüber war und alle zurückkehrten, fanden sie den Knaben, der lächelnd spielte, bewacht von einem Raben.
Lama Mipam Rinpochet hielt kurz inne und sagte dann lebhaft: Der Rabe ist ein bedeutsames Zeichen. Auch bei unserem heutigen Dalai Lama gab es ein Rabenpärchen in seiner Kindheit, dass sich auf den Dachvorsprung seines Elternhauses niederließ. Und so wusste man, dass Gedrun Truppa kein gewöhnliches Kind war. In der Tat trat er mit sieben Jahren in den Dienst eines Mönchs im nahen Kloster ein und begann, philosophische Abhandlungen zu verfassen, schrieb auch religiöse Texte. Mit zwanzig begegnete er dem großen Tsongkhapa, der ihn in die Geheimnisse des Tantra einweihte. Nach einem langen Leben verkündete der nunmehr zweiundachtzigjährige Gedrun Truppa auf seinem Sterbebett, er werde wiederkommen und seine Arbeit fortsetzen. Die Geschichtsschreiber vermerkten in ihren Büchern, dass seine sterbliche Hülle zu leuchten begann, als sein Geist den Körper verließ.
Der alte Lama stand auf.
Ich muss mich entschuldigen, Stella, aber ich habe heute noch zu tun. Morgen Vormittag habe ich ein wenig Zeit und komme wieder.
Er grüßte und entfernte sich mit raschen Schritten in Richtung der Haupttreppe.
Stella war immer noch im Bann seiner Geschichte und kehrte erst langsam in die Gegenwart zurück. Zwei Wirklichkeiten überlagerten sich darin. Sie beobachtete auf der einen Seite eine Nonne, die Ringelblüten in kleine Schälchen gab und sie auf die Simsvorsprünge rund um den Tempel stellte, auf der anderen Seite einen Mönch, der das alte Wachs von den Simsen entfernte und neue Kerzen aufstellte.
Da dachte Stella an Vasco da Gama. Er lebte um die gleiche Zeit wie Tsongkhapa und segelte von der anderen Seite des Erdballs aus nach Indien, um dort ein Weltreich aufzubauen. Aber die Vergänglichkeit holt alles wieder und schafft Platz für das Neue, Kommende.
Die Mauren bauten ihr Reich bei uns auf der Iberischen Halbinsel auf. Sie kamen zur gleichen Zeit, als Padhma Sambhava nach Tibet wanderte, und blieben siebenhundert Jahre lang. Dort, wo ich seit mehr als zehn Jahren lebe. Al-Gharb, das bedeutet, ganz im Westen. Von dort komme ich, aus dem Land der Sehnsucht. Ich sitze hier, um mein Herz zu heilen und dringe dabei in den Zeittunnel der Geschichte ein. Und ich frage mich, warum wohl?
Irgendwann, in fünfhundert Jahren vielleicht, könnte jemand am gleichem Platz sitzen. Unter den Bäumen des Tempelgartens, jenem heiligen Ort, den es seit zweitausendfünfhundert Jahren gibt. Er könnte wie ich zurückschauen in die Jahrtausende, und würde erfahren, dass im XX Jahrhundert Mahatma Gandhi gelebt hat. Gandhi brach von Indien aus nach Europa auf, studierte in London Rechtswissenschaften und widmete später sein ganzes Leben der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit für sein Volk.
Namasté! Shalom! Bist du schon lange in Bodh Gaya? Eine helle Frauenstimme holte Stella aus ihrem Gedankentunnel zurück.
Stella drehte sich um und blickte in das ausdrucksvolle Gesicht einer jungen Frau. Durch ihren kahlgeschorenen Schädel wirkte es umso zierlicher. Sie hatte dunkle Augen, die sie lebhaft anschauten, und trug einen khakifarbenen Overall, Stella schätzte sie auf Anfang dreißig.
Ich bin erst vier Tage hier, antwortete Stella. Aber es kommt mir schon wie eine Ewigkeit vor. Und du?
Ich kam gestern Abend. Vorher war ich in einem Ashram. Von wo kommst du?
Aus Portugal, bin aber Deutsche.
Ich komme aus Israel und heiße Esther.
Ich bin Stella. Wie schön, dass wir uns begegnen und so die Chance haben, die unbewältigte Vergangenheit unserer Völker mit Liebe zu heilen.
Ja, du hast so Recht, Stella.
Ali
