Teil 8:
Und doch mag auch diese Selbstlosigkeit an gewisse Grenzen stoßen, an Hürden, an denen sie scheitert, die sie nicht zu überwinden vermag, oder nur sehr schwer.
Ein Beispiel dazu: Lässt man jemanden aus selbstloser Liebe ins offene Messer laufen, weil derjenige das unbedingt will? Oder versucht man aus selbstloser Liebe, gerade weil einem jemand etwas bedeutet, ihn davor zu bewahren? Macht man sich also aus Liebe sozusagen an den Folgen für den Anderen mitschuldig, ist mitverantwortlich, oder handelt man aus Liebe scheinbar lieblos, indem man den Anderen sozusagen vor sich selbst, vor eigenen Irrtümern zu bewahren, zu retten versucht?
Jede Entscheidung kann unter bestimmten Voraussetzungen richtig oder falsch sein, allerdings ist sie auch nicht umkehrbar, nicht rückgängig machbar. Damit, der eigenen Entscheidung, den Reaktionen auf sie und mit den Resultaten muss man danach leben (können). So oder so.
Was tut Liebe, hält Liebe also früher oder später diverse Schmerzen, Enttäuschungen, Leiden, Vertrauensbrüchen auch aus, die unvermeidlich auch irgendwann ein Thema werden, unter welchen Voraussetzungen doch, unter welchen nicht? Wie geht Liebe mit Leiden, Schmerzen um? Denn die werden früher oder später auch zum Thema werden. Liebe ist nicht nur Heile-Welt in rosarot, kann sie mitunter sein, aber auch das Gegenteil, konfrontiert einen mit Schwierigkeiten, Hürden, Problemen, die gelöst werden wollen, oder die Liebe und/oder man selbst scheitert an ihnen.
Was tut Liebe, wenn es tatsächlich um Leben oder Tod geht? Ist jemand bereit, aus Liebe, für seine Liebe zu sterben, steigt man dann doch lieber aus, beendet die Liebe, oder übersteht sie unter bestimmten Voraussetzungen vielleicht doch sogar den Tod unbeschadet? Bleibt Liebe über den Tod hinaus? Wie, wie nicht?
Liebe hat eine Menge Funktionen, dient neben anderen auch dazu, bestimmte Dinge zu lernen, oder eigentlich eher zu aktivieren oder zu reaktivieren, was aber alleine gar nicht geht, völlig unmöglich ist, weil eben der Katalysator in Form des geeigneten Gegenübers fehlt, somit diese Prozesse gar nicht erst in Gang kommen können, zudem würde sich jemand alleine da auch nie drübertrauen.
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Dann gibt es aber noch eine ganz andere Manifestation von selbstloser Liebe: Nehmen wir an, jemand, der einem etwas bedeutet, tut - aus welchen Gründen auch immer - etwas für einen selbst völlig Unfassbares, Unbegreifliches, ziemlich Schlimmes, das in Folge nicht nur für ihn sondern auch für einen selbst äußerst folgenreich ist. Etwas, das womöglich alles davor infrage stellt, etwas, das einem selbst den Boden unter den Füßen wegzieht, einen in eine Art Schockzustand versetzt, einen zutiefst verletzt, ob nun physisch oder emotional oder auch beides. Etwas, das die eigene Realität völlig verändert, die davor war anders, die danach wird nicht mehr dieselbe sein. Etwas, das man nicht begreifen, verstehen kann, dessen ganz reale Folgen aber - aufgrund der Entscheidungen, des Tuns eines Anderen - auch nicht mehr veränderbar, korrigierbar sind.
Man befindet sich also selbst in einer Art - durch diese Erfahrung, Aktion erzeugten - hochgradigen, extremen Ausnahmezustand. Man weiß, man kann nichts mehr daran ändern, nichts mehr tun, ist in einer Situation, die man so selbst nicht wollte, aber zugleich ist diese jetzt Realität, ob es einem gefällt oder nicht.
Der Andere aber auch, ist sich womöglich der Konsequenzen des eigenen Agierens daher auch nicht wirklich bewusst, agiert selbst in einer Art Notsituation, aus einer Überforderung heraus, handelt womöglich - aus seiner Sicht - in bester Absicht, aber leider dennoch mit fatalen Folgen.
Und doch ist man eigenartigerweise immer noch viel mehr um das Wohl des Anderen besorgt, als um das eigene. An der Realität, den Folgen und unvermeidlichen Konsequenzen des Tuns des Anderen kann man nichts mehr ändern, weder für ihn noch für sich selbst, das Tun mag entweder ganz reale, irdische Konsequenzen nach sich ziehen, oder eventuell auch gewisse nicht irdische, aber trotzdem möchte man eben nicht, dass diese Folgen, Konsequenzen für den Anderen all zu schlimm, all zu hart ausfallen, und das, obwohl man dennoch auf den Anderen stinksauer und wütend ist, enttäuscht, verletzt, eigentlich in Sinn einer Art ausgleichender Gerechtigkeit zurückschlagen, sich wehren, rächen, was auch immer tun will, weil's eben verdammt weh tut.
Zugleich ist einem bewusst, dass man nichts mehr ändern, bewirken kann, der Zug ist abgefahren, die Realität hat sich verändert, ein für alle Mal, unwiderruflich.
Was bleibt, wenn man selbst in einer ohnmächtigen, hilflosen Situation, Position ist, in der man eigentlich nur noch mehr zur Eskalation beitragen kann, in der alles, was man noch tun könnte, tun kann, falsch ist, alles nur noch schlimmer macht?
Was würde in einer derartigen, konkreten Situation selbstlose Liebe tun? Vermag sie dann, trotz allem, das wehtut, der eigenen Eitelkeit, dem eigenen verletzten Ego zum Trotz, authentisch, aus tiefstem Herzen, ohne wenn und aber, also nicht als Masche, Show, sondern tatsächlich den Anderen zu verzeihen? Trotz allem, trotzdem?
Was zugleich aber auch bedeuten würde, in gewisser Weise das Kreuz des Anderen, das er sich mit seinem Tun selbst aufgeladen hat, zumindest ein wenig mitzutragen, dessen Entscheidung und ihre Folgen, obwohl sie den eigenen Wünschen und Vorstellungen völlig zuwiderläuft, als solche zu akzeptieren, samt ihren Konsequenzen, und die eigenen, womöglich völlig konträren Vorstellungen endgültig und unveränderlich ad acta zu legen.
Auch das, gerade das wäre auch selbstlose Liebe! Würde ich meinen.
Keine ausgleichende Gerechtigkeit, keine Rache, sondern sogar, wenn der Andere absolute Scheiße baut, Mist gebaut hat, ist sein Wohl jemandem anderen immer noch wichtiger als das eigene. Trotz allem.
Einfach, weil einem das Gegenüber dermaßen wichtig ist, etwas bedeutet, die Liebe größer ist als eine, oder ein paar Fehlentscheidungen. Selbst wenn ihre Folgen dennoch gravierend sein mögen.
Zugleich wäre diese Manifestation selbstloser Liebe aber auf andere Art und Weise durchaus auch eine egoistische, oder sagen wir, auch für denjenigen selbst ein Geschenk. Ist derjenige nämlich tatsächlich, nicht nur scheinbar imstande, zu verzeihen, so nimmt er sich damit aus dem ansonsten wirkenden, greifenden Kreislauf von Recht, Unrecht, Gerechtigkeit, Strafe, Rache, Vergeltung raus, sich selbst ebenso wie den Anderen, befreit ihn zumindest von dieser Art von emotionaler, wenn man so will, karmischen Last, einer sozusagen negativen gegenseitigen Bindung, Verbindung, die sonst in Folge dazu führen würde, müsste, dass irgendwann einmal - vielleicht gar nicht mehr in diesem Leben - eine andere, genau umgekehrte Situation das Gleichgewicht womöglich wiederherstellen, ausgleichen müsste.
So wurde es bereits - unabhängig von realen Tun - wiederhergestellt, zumindest, diese zwei Menschen, Wesen betreffend. Es kann also unter bestimmen Voraussetzungen, allerdings auch nicht vollautomatisch ein ansonsten unvermeidliches Drama, eventuell eine Tragödie zumindest in einiger Hinsicht entschärfen, auch wenn gewisse bereits entstandene reale Folgen damit dennoch nicht mehr behebbar oder korrigierbar sein werden.
Funktioniert aber auf diese Art und Weise auch nur, wenn es tatsächlich ernst gemeint ist, authentisch ist. In einer konkreten, individuellen Situation.
Als Pauschales allen anderen alles automatisch und beliebig Verzeihen funktioniert das allerdings überhaupt nicht, im Gegenteil, es wird Schäden sogar noch verstärken oder sogar fördern. Das wird eine oberflächliche Farce bleiben.
Nicht zu unterschätzen an derartigen Aktion ist, dass sie eigentlich trotz eventuellen positiven Aspekten auch eine Art "Gott spielen" sind, somit durchaus nicht ungefährlich. Man maßt sich eine Kompetenz an, die über menschliches Maß hinausgeht, man pfuscht sozusagen der Wirklichkeit ins Handwerk. Was wiederum weniger schöne Folgen und Resultate erschaffen kann. Zudem mag die Wirklichkeit einem für diese Art von Übergriff in Folge etwas anderes quasi in Rechnung stellen. Alles hat seinen Preis!
E kann also durchaus sein, dass sich jemand mit einer derartigen, gut gemeinten Aktion erst recht selbst in die Nesseln setzt, ihn dafür die Folgen zusätzlich um die Ohren fliegen können, oder er hat trotz aller eigenen Bedenken vielleicht damit doch das Richtige getan. Im voraus mag das, besonders in einer schmerzvollen Ausnahmesituation, kaum abschätzbar sein. Danach, aber auch nicht gleich danach, sondern im weiteren Verlauf diverser Entwicklungen mag sich herausstellen, ob man die richtige Wahl getroffen hat oder ob nicht. Ein wenig wie in Märchen. Man gerät in eine Situation, in der man eine Entscheidung treffen kann, auf die man eigentlich gar nicht vorbereitet ist. Und mit den Folgen muss man dann klarkommen, egal, wie sie ausfallen. Die sind dann ebenso unkorrigierbar.
Daher mag eine derartige Aktion als Art absolute Notlösung zur Entschärfung einer völlig vertrackten, verfahrenen Situation, Konstellation angebracht sein, wenn wirklich alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, alle anderen Versuche gescheitert sind. Und wenn trotz allem dieses Agieren tatsächlich aus tiefster, reinster Liebe geschieht.
Denn sie mag eine ansonsten negative Bindung, Verbindung zwar ein wenig verhindern, entschärfen können, sie in eine andere Art von Bindung transformieren, aber sie bindet trotzdem dadurch erst recht zwei Menschen, zwei Wesen aneinander. Mehr als vielleicht bereits davor. Möglicherweise nicht nur in dieser Realität.
Forsetzung folgt...