Selaya
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Die Wahrheit
Wie könnte man die Wahrheit beschreiben?
Ich glaube nicht, dass es mit Worten geht ....
.... hier ein Versuch
Es gibt eine schöne Analogie, in der drei blinde Brüder versuchen, einen Elefanten zu verstehen. Der erste ertastet einen Fuss, der zweite ein Ohr und der dritte den Rüssel des Elefanten. Hinterher vergleichen sie ihre Erfahrungen. "Ein Elefant ist rund, dick, schwer und massiv wie ein Baumstamm", sagt der erste von ihnen. "Im Gegenteil, er ist sehr dünn und flattert beim Anfassen hin und her", entgegnet der zweite. "Unsinn, ein Elefant ist ein bewegliches Rohr wie eine Schlange", meint der dritte. Alle drei wissen, dass sie die Wahrheit sagen, da sie sie selbst erfahren haben, halten also ihre Brüder für Lügner und beginnen sich zu streiten.
Da kommt ihr Vater vorbei. Er kann den ganzen Elefanten sehen und daher ihren Streit schlichten: Jeder seiner Söhne sagt die Wahrheit, hat aber nur einen kleinen Teil davon erkannt. Die Unterschiede in ihren Wahrnehmungen kommen nur zustande, weil sie sich auf verschiedene Teile des Elefanten beziehen.
Der Elefant ist alles, was sie erkannt haben, und trotzdem noch viel mehr als nur die Summe ihrer Erkenntnisse.
Alle haben recht
Genau wie jeder der drei Brüder recht hat in seiner Teilerkenntnis der Wahrheit, so haben auch alle religiösen und philosophischen Ansichten über die Wirklichkeit in ihrem Teilbereich, auf ihrer Ebene recht. Auch wenn sich die Meinungen einander widersprechen, weil sie sich auf unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit beziehen. Die erkannte Wahrheit ist relativ und abhängig vom eigenen Standpunkt. Daher ist es weise, andere Sichtweisen der Wirklichkeit als ergänzend zur eigenen zu betrachten, anstatt sie als unrichtig abzutun.
Gegensätze als Einheit
Im taoistischen Symbol der Wirklichkeit ist schön zu erkennen, wie die Gegensätze Yin und Yang sich einander ergänzen. Yin steht für das Weibliche, Yang für das Männliche, und jeder Teil hat seinen Gegenpart in seinem eigenen Zentrum. So sind Yin und Yang trotz ihrer Gegensätzlichkeit nicht wie Krieger, die sich bekämpfen, sondern eher wie Liebende, die sich balgen und dadurch das Leben in Bewegung halten.
Wirklichkeit als Hochhaus
Ein anderes Bild: Denk Dir mal die Wirklichkeit als ein fensterloses Hochhaus. Du wohnst mit vielen anderen Bewohnern darin im Erdgeschoss, kennst nichts anderes und hältst es für die ganze Welt. Dann entdeckst Du einen verborgenen Durchgang und dahinter eine neue Welt: die erste Etage. Dein Bewusstsein erweitert sich und Du erkennst, dass beides wahr ist: Die Wirklichkeit ist sowohl das, was Du bisher dafür hieltest, als auch das, was Du jetzt vorgefunden hast, auch wenn in der ersten Etage alles ganz anders ist und nach anderen Gesetzmässigkeiten als im Erdgeschoss abläuft. Beide Etagen sind absolut real, was Du ohne jeden Zweifel weisst, wenn Du in ihnen bist.
Wenn Du Dich jetzt mit einem anderen Bewohner des Erdgeschosses unterhältst, der eben nur dieses kennt, und ihm von Deiner Entdeckung erzählst, wird er entweder strikt die Existenz eines anderen Stockwerks als Spinnerei abtun ( "ich kenne es nicht, also gibt es das auch nicht" ), oder er hält es zumindest für möglich, dass diese andere Realitätsebene existieren könnte. Im ersten Fall wird dieser Bewohner in seiner aufs Erdgeschoss beschränkten Weltsicht bleiben. Sich so zu entscheiden, ist sein gutes Recht. Missioniere ihn nicht! Solange er noch nicht bereit ist für neue Erkenntnisse, lass ihn bei seinen alten bleiben. Vielleicht hat er ja auf seiner vertrauten Ebene noch genug zu lernen. Wenn er sich jedoch öffnet, kannst Du ihm den Zugang zur ersten Etage zeigen, und dann kann auch er sein Weltbild erweitern, indem er sich von der gösseren Wahrheit selbst überzeugt.
Die höheren Ebenen
Irgendwann wirst Du dann die zweite Etage entdecken, die dritte Etage und so weiter. Auch wenn Du die Etagen nacheinander entdeckst, ist das vollständige Gebäude die ganze Zeit über vorhanden. Die Wirklichkeit existiert komplett zu jeder Zeit, unabhängig davon, ob und wann ihre jeweiligen Ebenen entdeckt werden. Sie ist zeitlos, denn Zeit ist nur eine gemeinschaftliche Betrachtungsweise der Bewohner des Gebäudes.
Wenn Du erst einmal das Prinzip erkannt hat, dass es mehrere Etagen gibt, wirst Du schnell Fortschritte in der Entdeckung des Gebäudes machen. Irgendwann nach dem Erkunden des obersten Stockwerks findest Du die Dachterrasse namens "Erleuchtung".
Sie ist buchstäblich ein Raum ohne Grenzen! Im Gebäude gab es immer Raum ( innerhalb der Aussenwände ) und Zeit ( die Sicht der Abläufe innerhalb der Räume ), mit der die Wirklichkeit definiert wurde. Nun erkennst Du zum ersten Mal, dass es auch ein Aussen gibt, eine unendlich weite Wirklichkeit jenseits der gewohnten Bereiche von Raum und Zeit, und dass Deine Weltsicht auf jeder Etage bisher durch die Grenzen des Gebäudes begrenzt war! Zeit und Raum entpuppen sich als Konstruktionen, die lediglich geschaffen wurden, um den Bewohnern des Hauses einen Rahmen zu geben, innerhalb dessen sie reifen und sich entfalten können.
Möglicherweise gibt es anders konstruierte Häuser, deren Bewohner in einem ganz anderes beschaffenen Raum leben ( z.B. ein Antimaterie-Universum ) und ihre internen Lebensabläufe völlig anders organisieren und wahrnehmen ( z.B. die Zeit in Gewicht messen )...?
Erleuchtung
Was Erleuchtung genau ist, kann nur derjenige verstehen, der sie selbst erfährt. Diese Erfahrung ist so derartig anders als alle bisherigen Erkenntnisse, dass sie den Bewohnern des Gebäudes nicht mit Worten zu vermitteln ist. Wie sollen sie sich wohl die Sonne vorstellen können, wenn sie nur die Neonlichter ihrer Etage kennen? Wie willst Du sie Ihnen beschreiben? Kann sich ein Brunnenfrosch den Ozean vorstellen?
Ein Zen-Meister antwortete einst auf die Frage nach der Natur der Wirklichkeit:
"OFFENE WEITE, NICHTS VON HEILIG"
Das scheint mir eine Beschreibung der Aussicht von der Dachterrasse zu sein. Eine offene Weite jenseits von allem, was man sich innerhalb von Raum und Zeit vorstellen kann. Nichts von heilig: Jenseits aller religiöser und philosophischer Vorstellungen, die bestenfalls nur den Weg bereiten konnten über die eigene Erfahrung.
Übrigens sind die höheren Etagen weitaus grösser, weiter und schöner als die unteren. Und auf allen Ebenen wirst Du Helfer finden, die den Weg vor Dir gegangen sind und Dir weiterhelfen werden, wenn Du offen für sie bist und reif für den nächsten Schritt. Das ist das Prinzip der so genannten Jakobsleiter: Eine unendlich lange Leiter der Bewusstseinsentwicklung. Egal auf welcher Stufe Du stehst, Du wirst immer jemanden auf der Sprosse über Dir haben, der Dir weiterhelfen kann, und jemanden auf der Sprosse unter Dir, dem Du helfen kannst, zu Deiner Stufe aufzusteigen. Je mehr Du anderen hilfst, um so mehr wird Dir geholfen werden.
Alles Liebe
Selaya