Mit den Augen eines Kindes!

K

Koenigskind

Guest
Ein ganz normaler Tag im August

Wenn ich heute so zurück schaue, fallen mir nur noch wenige ungewöhnliche Dinge auf. Dieser spezielle Tag begann wie jeder andere. Es war ein lauer Sommertag, an dem ich den gleichen langen Schulweg vor mir hatte wie sonst auch. Ich ahnte ja nicht, was Morgen schon geschehen würde und lebte diesen Tag wie jeden anderen zuvor.
Mutter deckte den Frühstückstisch, meine kleine Schwester geriet wie jeden Morgen in Panik, ob sie denn nicht schon zu spät dran sei. Manchmal stand sie sogar am Sonntag auf und weckte alle, weil sie davon überzeugt war, sie müsste zur Schule. Ob das Baby noch schlief? Ich erinnere mich nicht. Wir vier grösseren Kinder, also unser ältester Bruder und wir drei Mädchen, wir gingen alle auf die gleiche Grundschule. Aus heutiger Sicht ein Unikat, ich habe diese Schule sehr geliebt. Sie lag etwas abgelegen, mitten im Grünen, am Höfchensweg in Aachen. Über ein paar Schleichwege quer durch Wiesen und Felder und das legendäre Schustergässchen, gelangte man irgendwann zumindest schon mal in die Nähe, das restliche Stück des Weges war ein für Kinderbeine viel zu steiler Berg, den man am frühen Morgen schon hinauf schnaubte. Eingesäumt von Bäumen und Sträuchern und dem Hausmeisterhaus unten am Berg links. Den Hausmeister kannten wir alle gut, er verkaufte in den Pausen Milch und Kakao in einem kleinen Raum der Schule, direkt am Schulhof und dort schien er auch seine Bilder zu malen. Ich erinnere mich genau, dass auf einer Staffelei oft grosse Ölbilder trockneten, mich faszinierte schon als Kind, wie naturgetreu er die regennasse Strasse auf einem Bild dargestellt hatte. Man mochte gar nicht drauf fassen, aus Angst, es ist wirklich nass! Und doch, ich hätte es nur zu gerne mal getestet. Meistens hatte er eine dicke Zigarre im Mundwinkel, die er verkniffen mit den Lippen hielt und das Aroma und den starken Duft hinterlies er überall.

Im Schulgebaude roch es seltsam aber gut, mich erinnerte der Geruch an frisch gespitzte Buntstifte. Eine dickes gedrechseltes Treppengeländer, dass förmlich zum hinunter rutschen aufforderte, war der Blickfang. Da es aber über mehrere Etagen führte und man im Ernstfall auf die alten Steinstufen aufgeschlagen wäre, war das natürlich strengstens verboten. Um das Gebäude herum lag der Schulhof, einen Halbkreis vor dem Haus, dicht bei den Eßkastanien-bäumen. Diese waren schuld daran, dass es hier nie richtig hell wurde. Auf der linken Seite führte ein steiler Weg mit improvisierten Stufen hinauf zum Ronheider Berg. Für die Kinder, die von dort aus zur Schule mussten, da die ansonsten einen Umweg machen mußten. Auf der Rückseite, also die Seite, die wir, wenn wir in der Früh den Berg hoch kamen, zuerst sahen, fiel einem das überdachte Gewölbe auf, wo Fahrräder abgestellt werden konnten und sich ausserdem die Toiletten befanden.
Hier befand sich ebenfalls ein Schulhof, der, auf dem wir Nachlaufen spielten und von dem aus wir in den Schulpark gelangten. Hier standen auch die Autos der Lehrer geparkt und wir wussten genau, welches Auto zu welchem Lehrer gehörte!
Ja, und dann gab es da noch die Baracke! Jetz fragt sich jeder, was mag denn das gewesen sein? In Ermangelung einer Turnhalle, stand seitlich von dem Hauptgebäude ein Flachbau aus Holz. Von aussen schwarz gestrichen und mit Fenstern versehen, durch die Kinder in dem Alter nicht schauen können! Zu hoch!
Es war ein Erlebnis und ich freute mich auf jede Turnstunde, für eine Stunde fühlte ich mich in eine andere Zeit versetzt. Mich haben schon immer die Gerüche und Eindrücke fasziniert und tief in mein Bewusstsein gebrannt. Noch Jahre später erkenne ich einen Duft oder ein Aroma und der Moment des ersten Eindruckes ist damit abgespeichert und jederzeit aufrufbar. Nun gabe es damals noch keine Zentralheizungen und um nicht zu frieren, war der Hausmeister dafür zuständig, dass bereits längere Zeit vor Turnbeginn, der grosse Feuerkessel angezündet wurde. Er erinnerte mich eher an die Waschkessel, die bei uns im Keller standen, wo Mutter und die anderen Frauen die Wäsche kochten.
Seine kupferrote Farbe gefiel mir und er war immer blank poliert.
Im Winter beschlugen die Scheiben im Nu und liessen keinerlei Einblicke mehr zu.

Die Taschen voll gestopft mit den stacheligen Esskastanien, die wir nach Schulschluss schnell einsammelten, liefen wir den ganzen Weg fast ohne Unterbrechung nach Hause.

Im Sommer, also so wie jetzt, war es heiss, der asphaltierte Weg dampfte in der Sonne und machte die müden Kinderbeine noch schwerer. Dazu der Ranzen auf dem Rücken und Durst hatte man auch. Also war der Gedanke, schnell nach Hause, schnell die Hausaufgaben machen und dann noch viel schneller in den grossen Garten, wo die anderen Kinder aus dem Haus sein würden. Dort, wo Mutter an solchen Tagen eine alte Zinkwanne auf die Wiese stellte und bereits am Morgen mit kalten Wasser füllte, damit es im Laufe des Tages von der Sonne aufgewärmt würde. Kann man glauben, dass die Wanne manchmal so heiß war, dass wir die Griffe nicht anfassen durften? Wie oft habe ich mir die Beine verbrannt, wenn ich beim Einsteigen den Wannenrand streifte.
Die Wiese war gross und nach dem Baden in diesem Behelfspool, breiteten wir grosse Badetücher aus und legten uns in die heisse Sonne. Hier dauerte es nur wenige Minuten, da trockneten die Badesachen am Leib und alles war in Ordnung.

Manchmal, wenn wir auf dem Rücken liegend in den stahlblauen Himmel sahen und so vor uns hin träumten, fiel irgend einem der dicke grosse Zeppelin auf, der regelmäßig an solchen Tagen über unserem Viertel seine Runden zog. Wie eine dicke Zigarre schwebte er weit oben über unsere Köpfe und zog ein Banner hinter sich her, darauf stand Werbung von einem Textilgeschäft oder Ähnliches. Und es schien, als kreiste er absichtlich genau über unserem Kastanienbaum. Das war schon ein Erlebnis! Wir Kinder waren begeistert. Damals glaubte ich ja noch, der ganze Zeppelinbauch sei voll Menschen, wie enttäuscht ich war, als ich mal erfuhr, dass gerade mal 4-5 Leute in dem kleinen Korb unter dem Bauch sitzen.

Am Nachmittag kam Vater von der Arbeit. Viele Väter kamen da nach Hause, es öffnete sich ein Badezimmerfenster nach dem anderen und hier und dort legte sich jemand bequem mit den Armen aufs Fensterbrett und sah uns beim Spielen zu. Frauen trugen Kittelschürzen und die Männer oftmals nur ein Unterhemd, wenn überhaupt. Und noch ein bisschen später, klimperte Besteck und Porzellan und man wusste, gleich gibt’s Abendessen. Dann kehrt Ruhe ein, der Fernseher würde eingeschaltet, die Fenster geschlossen und zuende geht ein Tag.

Ein Tag, an dem Mutter am Bügelbrett stand und neben ihr, einen voller Korb mit Wäsche. Tausend Taschentücher aus Stoff, meistens durfte ich die bügeln, wenn es nicht zu spät war.
Vater schaute die Nachrichten und wir saßen frisch gebadet im Hintergrund am Esstisch an der Wand und sahen still zu. Es musste still sein, sonst würde Vater schimpfen. Er hat uns auch schon ohne Essen ins Bett geschickt, wenn wir nicht gehorschten. Mutter schaute oft zu uns rüber und achtete darauf, dass unsere Bruder nicht alle Schnittchen alleine aß. Noch bevor das Abendprogramm begann sagte Vater meistens demonstrativ: „Gute Nacht, Kinder!“ Das war unsere Aufforderung zu verschwinden. Es gab keinen Spielraum für Diskussionen, zu der Zeit funktionierte Kindererziehung so! Es kam allerdings vor, dass wir uns beim ihm verabschiedeten, mit einem Gutenachtkuss versehen hinters Mutter Bügelwäsche auf dem Bauch lagen und heimlich weiter schauten. Wenn sie alle das Maul hielten, hätte es geklpappt, aber dann stuppste einer den anderen auf die Seite. Ein anderer musste lachen, einer nießen und schnell flog die ganze Sache auf.
Vater sagte dann:“Hatte ich nicht gesagt, Gute Nacht!“
Dann schaute er – ein Blick von ihm reichte und wir verschwanden in die Betten. Und Mami stand da und schaute uns kopfschüttelnd zu, als wollte sie sagen, selber schuld, ihr müsstet nur einmal die Klappe halten!!

Ja, so ging dieser Abend zuende, ich schlief längst, als mich hektisches Treiben in der Wohnung aufweckte.
Vater rannte auf Socken hin und her. Auf den blanken Böden, stampfte es förmlich, wenn er seine Versen aufsetzte. Plötzlich schlug die Türe zu und es ward still. Ich stand auf und ging heimlich aus dem Zimmer. Was ich sah, wollte ich nicht sehen und lief schnell wieder ins Bett zurück. Es war überall Blut! Eine Spur wie in einem bösen Film und ich wusste nicht, was das bedeutet.
Vater und Mutter waren fort und wir alleine, im Dunkeln.

Ich schlief wieder ein und es kam mir gar nicht so lange vor, da tippte mir jemand auf die Schulter und ich hörte Vaters Stimme:“Komm, steh mal auf, Du musst mir helfen!“
Ich war nicht mal 12 Jahre alt und die Älteste von uns Kindern und ab Morgen würde ich die Mutterrolle übernehmen müssen.
Ich habe Mutter am nächsten Morgen im Krankenhaus noch einmal gesehen, aber nur ganz kurz. Sie fasste den Stoff meines Jäckchens im Bereich der Schulter mit zwei Fingern und zog mich zu sich ans Bett heran. Mit leiser Stimmer flüsterte sie:“Pass` auf den Kleinen auf, hörst Du?“

Wir waren noch nicht ganz wieder zu Hause, da klingelte bei der Nachbarin das Telefon und ein Arzt aus dem Krankenhaus sagte Vater, Mutter sei soeben gestorben. Wir standen alle im Kreis um Vater herum und konnten diese Nachricht gar nicht verstehen. Was heisst denn das? Gestorben? Sie ist tot! Sie kommt nie mehr wieder, aber warum denn nicht? Tausend Fragen in 4 Kinderköpfen, die auch mein Vater nicht beantworten konnte oder wollte. Es hätte alles noch gut werden können, aber von diesem Tag an begann eine Zeit – die ich keinem wünsche!
 
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