Der Missbrauch kam heraus: In der Psychoanalyse, Traumanalyse in einer Hypnosetherapie und in einer Rückführung. Alles haben Profis gemacht, ich bin bewusst auf seriöse Fachleute zugegangen. Das einzige wo ein anderes Ergebnis herauskam war die Familienaufstellung. Wobei die Aufstellungsleitung schon zu Beginn gesagt hat, dass sie eh schon weiss wie es ausgeht...
Da stellt sich mir die gleiche Frage wie Ursula: Was ist das für ein Profi, der von vornherein weiß, wie's ausgeht? Und wieso eine Therapie nach der anderen? Oder gleichzeitig mehrere? Und inwiefern führt eine Therapie zu einem "Ergebnis"? Offenbar doch nur dann, wenn jemand Therapien dazu benutzt, um scheinbare Tatsachenfeststellungen zu erlangen und abzusichern, die das Selbstbild erhärten. An sich münden Therapien ja nicht in Ergebnisse, sondern in Prozesse, in Wege, das Leben mit mehr Beziehung zu sich selbst, mit mehr Eigenliebe zu leben, mit dem Mut, aus unproduktiven Kreisläufen auszubrechen... wobei sich mir auch noch andere Fragen stellen: Eine Psychoanalyse (wenn es eine im klassischen Sinn ist) dauert Minimum zig Sitzungen... hast Du absolviert? Eine Rückführung hat nach meinem Verständnis vorgeburtliche Phänomene zum Thema (aber da mag ich mich irren, das ist ein Bereich, dem ich weniger zugetan bin). Traumanalysen sind immer Traumdeutungen, bringen also keine Fakten, sondern Interpretationen zum Vorschein.
Ich kann mir aber gut vorstellen, dass jemand unter dem Druck eines Missbrauchsthemas nach jedem Strohhalm greift, um dieses Thema dingfest zu machen. Professionelle Berater können sich da sehr bemühen, müssen letzten Endes aber auch passen, wenn ein/e Klient/in sich nicht von ihrer tiefen Verstrickung (ich nehme mal die systemische Ausdrucksweise) lösen kann. Vielleicht einzuschränken: jetzt nicht lösen kann. Es mag einfach günstigere Zeiten dafür geben.
Mir scheint, für so ziemlich alle hier steht außer Debatte, dass eine Missbrauchsthematik ein Leben mit tiefen, hartnäckigen Spuren zeichnen kann. Mir scheint, für so ziemlich alle hier ist es ebenso auf der Hand liegend, dass ein Lösungsweg darin liegen kann, sich aus der destruktiven Bindung an die Missbrauchsverstrickung zu lösen und aus Eigenem zu leben. Schnell formuliert und postuliert, schwer genug zu realisieren. Darum schreibe ich auch vom Lösungsweg und nicht von "der Lösung". Vermutlich wird es oft ein langer Weg in kleinen Schritten sein.
Die Bezichtigung eines Schuldigen mag für manche ein notwendiger Schritt auf diesem Weg sein. Dadurch entsteht in der Regel ein neues, zusätzliches Problemfeld, aber wann führen Wege schon einmal geradeaus!? Zur inneren Lösung aus der Verstrickung trägt solche Bezichtigung allerdings nichts bei, im Gegenteil. Ich sehe das eher wie ein Tal, durch das gegangen wird, um auf der anderen Seite dann Höhe zu gewinnen... oder aber auch den Aufstieg zu verweigern und weiter einfach dem Tal zu folgen, sprich: sich der Verstrickung zu ergeben.
Tinamaria, bei Dir geht schon jetzt die Verstrickung weiter. So wie Du es schilderst, nimmst Du bereits Deinen Sohn in Geiselhaft gegenüber Deinem Vater, um ihm "nachzuweisen", dass er nach wie vor ein notorisch zum Missbrauch Neigender wäre. Wenn Du einen Blick auf Deinen Sohn bereits als "notgeil" interpretierst und die Flucht ergreifst, dann betrifft das nicht mehr Dich allein und Deinen Vater, sondern da ist dann Dein Sohn bereits tief involviert und wird von Dir - ich betone: nicht absichtlich, aber auch nicht in aller Unschuld - missbraucht für Deine eigenen Ziele. Da beginnt nun auch Deine eigene Verantwortung zu greifen.
Ich sähe mich nicht in der Lage, den vielleicht liebevoll bewundernden Blick eines Opas vom "notgeilen" Stieren eines Lustgreises zu unterscheiden, es sei denn, ich hätte schon die Brille aufgesetzt, die von vornherein eine ganz bestimmte Interpretation nahelegt. Und die Schilderung dieser Begebenheit empfinde ich auch weniger als "Beweis" dafür, wie es um Deinen Vater steht, sondern eher um eine weitere Selbst-Festschreibung Deiner Situation. Wenn Du in dieser Weise Deinen Sohn dafür benutzt, dann ist er schon jetzt in der systemischen Kette ein weiterer Betroffener. Es ist aber wohl auch gar nicht anders möglich, solange Du Dich nicht selbst aus dieser Fixierung löst. Und vielleicht mag ja Dein Sohn eine Motivation sein, letztlich doch auf eine Lösungsorientierung umzuschalten.
Mir stellt sich der Umgang mit Deiner Missbrauchsthematik so dar, als würde sich darin eine sehr tiefe und zutiefst verletzte Bindungsliebe ausdrücken, die Du in ziemlich destruktiver Weise (er)lebst. Du hast Dich auf Gedeih und Verderb Deinem Vater ausgeliefert und bist völlig davon abhängig, wie er sich verhält. Das zu spüren löst freilich sehr viel Wut und Abwehr aus, vor allem dann, wenn es mit dem Empfinden von Ohnmacht gekoppelt ist. Und wie die Geschichte mit Deinem Sohn zeigt, seid Ihr ja auch nach wie vor in offenbar recht intimem Kontakt, der bis an den Badewannenrand reicht (was mich angesichts Deiner Vorwürfe gegen Deinen Vater dann doch einigermaßen verwundert).
Ich bin zugleich wirklich ratlos, was Dich dabei unterstützen könnte, eine neue Perspektive zu erlangen - wie die Geschichte Deiner vielen Therapien zeigt, ist das offenbar kein sinnvoller Weg, der zu Lösungen führt. Sieht so aus, als hättest Du ein zielsicheres Händchen, Dir genau jene "Profis" auszuwählen, die Dir bestätigen, was Du immer schon zu wissen glaubtest. Eine wirksame Therapie hingegen begänne dort, wo Deine scheinbaren Gewissheiten gewandelt und Deine Ressourcen fruchtbar gemacht werden.
Ich wünsche Dir alles Gute und die Kraft, in einer guten Phase gute Schritte zu unternehmen.
Alles Liebe,
Jake