Interview -- Warum sind wir bösartig?
Willy Pasini, Psychiater.
Von Franziska Wanner-Müller
Professor Pasini, was zeichnet die Bösartigkeit aus?
Sie wird bewusst, aus Eigennutz und mit Freude ausgeführt. Das Spektrum der Bösartigkeiten ist breit, es reicht von der beiläufigen Kränkung über die Verhöhnung bis zu provoziertem Mord und Totschlag. Die authentische Bösartigkeit bleibt nicht selten unbestraft, weil sie sich zwischen den definierten Werten abspielt.
Zum Beispiel?
Da gab es den Fall eines Mannes, der bei minus 10 Grad vor einem Haus eingeschlafen war. Mitten in der Nacht wachte er auf, weil die Hausmeisterin einen Eimer Wasser über ihn ausschüttete. Sie hielt den Mann für einen Clochard, musste also annehmen, dass er keine Kleidung zum Wechseln hatte und um diese Zeit auch keinen Unterschlupf finden würde. Somit war der klatschnasse Mann vom Erfrierungstod bedroht. Das war ein Mordversuch - aber er blieb natürlich unbestraft. Es gibt auch die institutionalisierte Bösartigkeit: Krieg, die Todesstrafe, Gefangenschaft.
Welche Synonyme gibt es für die Bösartigkeit?
Gemeinheit, Intriganz, Perfidie, Sadismus. Als Gefühlssynonyme wären da Wut, Hass, Eifersucht, Machtgier und Neid, aber eben auch positive Gefühle - etwa die Erleichterung, die sich einstellen kann, nachdem man eine Bösartigkeit begangen hat.
Beschreiben Sie die gängigsten Formen von Bösartigkeit.
Ich unterscheide zwischen der authentischen, der okkasionellen und der konjunkturellen Bösartigkeit. Die erste geschieht stets aus sadistischen Beweggründen. Sie ist strukturell aufgebaut und nimmt ihren gut geplanten Lauf, ohne dass sich der Malfaiteur zu erkennen geben muss. Bei der zweiten, nur gelegentlich angewandten und auch weniger aggressiven Form sind Rachegedanken und verletzter Stolz die Ursachen. Es wird offensichtlicher agiert, also spontaner und weniger perfid als im ersten Fall. Existentielle Ängste, Frustration und Eifersucht bestimmen die dritte und häufigste Kategorie: hier wird nicht selten aufgebaut, um später besser zerstören zu können.
Auf welchem Nährboden gedeiht das Böse am besten?
Auf der sozialen Ebene lösen empfundene Ungerechtigkeit, Auswegslosigkeit und Wertvorstellungskonflikte boshafte Reaktionen aus. Der italienische Philosoph Umberto Galimberti hat die Behauptung aufgestellt, dass die heute weitverbreitete Bösartigkeit ihre Gründe darin hat, dass der Mensch fast nur noch über seine Leistung definiert wird,was schlechte Gefühle erzeuge und entsprechendes Verhalten provoziere.
Und auf der psychologischen Ebene?
Hatte jemand einen bösen Vater, so kann die Bösartigkeit ihren Grund in der frühkindlichen Identifikation mit dem Vater haben. Man übt auf andere aus, wovor man selbst Angst gehabt hat oder vielleicht noch hat. Unterdrückte Rachegefühle können die Lust erzeugen, andere zu demütigen, zu unterdrücken, zu zerstören, zu dominieren. Aggressivität kann sich in übersteigerter Form gegen Drittpersonen richten, wenn die Auseinandersetzung mit der eigentlichen Schlüsselfigur nicht stattgefunden hat. Sogenannt böse Menschen haben aber auch oft Minderwertigkeitsgefühle. In diesem Kontext sind auch jene Menschen zu sehen, die sich nur noch über cholerische Ausbrüche und Bösartigkeiten auszudrücken vermögen.
In welchen Domänen regiert das Böse besonders oft?
Heute, da die Menschen nicht mehr aufs Schlachtfeld müssen und es auch den Wilden Westen nicht mehr gibt, sind Orte wie das Büro, Spitäler, das Auto und die eigenen vier Wände zu Kampfplätzen avanciert. Was dem Ritter früher die Rüstung war, ist dem Autofahrer heute seine Blechkarrosserie. Der bösartige Lenker fährt mit Vollgas auf den Fussgängerstreifen zu, der boshafte in die grössten Wasserlöcher, um Passanten vollzuspritzen. Er verständigt sich mit den übrigen Verkehrsteilnehmern in obszöner Zeichensprache. Im Büro sind sexuelle Belästigungen und «Mobbing» häufig. Beide zielen daraufhin, Personen zu schwächen. Das eine geschieht mehr oder weniger versteckt, das andere im gruppendynamischen Prozess. In den Spitälern kann die Überlegenheit eines Arztes unbeabsichtigte Bösartigkeit gegenüber hilflosen Patienten sein. Die Unterlegenheit des Patienten, denen es an Boshaftigkeit oft auch nicht fehlt, führt vor allem in psychiatrischen Kliniken zu Machtmissbräuchen - zu Bestrafung und unnötigen Zwängen. In den eigenen vier Wänden regiert die Bösartigkeit meist in Form von Unterdrückung und Desinteresse, manchmal auch von Gewalt.
Sind wir boshaft geboren, oder macht uns erst das Leben schlecht?
Wir sind alle Schwestern und Brüder Kains. Ich vertrete den psychoanalytischen Ansatz, dass wir mit sämtlichen schlechten Veranlagungen - also auch mit einem Aggressivitätspotential - geboren werden und gegen diese Gegebenheiten ein Leben lang ankämpfen müssen.
Gibt es nicht auch legitime Bösartigkeit?
Für das Zielobjekt ist sie es sicherlich nie. Für Verursacher und Aussenstehende kann Bösartigkeit hingegen relativ sein. Wenn man sich mit Gewalt gegen eine Form der Tyrannei zur Wehr setzt, kann das als legitim empfunden werden. Künstlerische Boshaftigkeit ist ebenso notwendig wie jugendliche Bösartigkeit, die der Identifizierung mit dem eigenen Ich dient und - mit Mass - wünschenswerter ist als Anpassung und Friedfertigkeit. Auf der anderen Seite gibt es die «falschen Pazifisten», wie ich sie nenne: besonders liebe, friedfertige Menschen oder Leute mit besonders würdigem Auftreten, die nicht selten voller versteckter Aggressionen sind. Und abgesehen davon, dass das Schlechte eine eigene Faszination auf die unbeteiligten «Zuschauer» ausübt und oft als Stärke ausgelegt wird, gibt es Bösewichte, die Böses in der Meinung vollbringen, Gutes zu tun.
Man ist unbeabsichtigt boshaft?
Ja, wenn man ins sprichwörtliche Fettnäpfchen tritt, hatte man ja nicht die Absicht, zu verletzen. Oder die indifferenten Egozentriker, die anderen mit grosser Selbstverständlichkeit, aber eigentlich ohne böse Absicht, auf der Seele herumtrampeln. Ohne perfide Planung funktioniert auch die impulsive Bösartigkeit. Ausgeübt wird sie meist von Menschen ohne Macht, die keine andere Art beherrschen, sich gegen Attacken zu wehren.
Soziale Unterschiede also auch bei den Bösen?
Durchaus. Je höher der Stand, desto raffinierter und undurchsichtiger die Bösartigkeit. Oft wird in «feineren Fällen» einer Drittperson der aktive Part des Bösewichts zugeteilt. Bei Denunziationen ist das beispielsweise der Fall. So bleibt der eigentliche Bösewicht im Hintergrund und zieht von dort aus die Fäden.
Machiavellisten überall?
In der christlichen Ära hat Machiavelli als erster die Absenz von Skrupeln im politischen Verhandeln propagiert. In seiner Moral ist jedes Mittel gerechtfertigt, ans Ziel zu gelangen. Von der Lüge bis zur Intrige ist alles erlaubt. Diese kalte, kalkulierte Bösartigkeit wird heute gewiss nicht nur im politischen Leben gepflegt.
Welches ist die höchstenwickelte, feinste Form der Boshaftigkeit?
Die Ironie, der Sarkasmus.
Täusche ich mich, oder gelten die Bösen oft als die eigentlich Starken?
Es stimmt, die Netten, Anständigen geniessen heute wenig Ansehen. Sie gelten - etwas überzeichnet - als manipulierbare Schwächlinge und haben bedeutend weniger Chancen auf eine Karriere als ihre aggressive Konkurrenz. Bösartigkeit hat aber in Wirklichkeit nichts mit Stärke zu tun. Durch ihre Ränkeschmiedereien offenbaren die Bösen innere Unsicherheit, der meist seelische Defekte zugrunde liegen.
Machen soziale Missstände und starker Konkurrenzkampf boshaftes Agieren heute fast unumgänglich?
Existentielle Ängste können vermehrt Bösartigkeiten provozieren. Als Mittel im Wettbewerb sollte aber die Kampflust ausreichen; das Überleben hat ja schon immer Dynamik, Energie und Durchsetzungsvermögen erfordert. Bösartigkeiten wären grundsätzlich nicht nötig; sie wurden in den vergangenen Jahren aber tatsächlich gesellschaftlich legitimiert. Amerikanische Forscher haben mit der Behauptung, das Aggressionspotential sei genetisch bedingt, eine heisse Diskussion entfacht.
Dass chromosomale Voraussetzungen verantwortlich für die kriminellen Energien in verschiedenen sozialen Schichten sein sollen, ist eine Hypothese, die ich nicht teile. Warum ist man vom Bösen fasziniert?
Kain verkörpert eben nicht nur das Böse, sondern, oberflächlich gesehen, auch die Macht. Das hat die Menschheit von jeher fasziniert. Das Interesse der Menschen für den uralten Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe und Hass, Glück und Unglück, Leben und Tod machen sich Filmproduzenten, Buchautoren und Medien heute zunutze wie noch nie. Die Verhältnisse haben sich in den vergangenen Jahren etwas verschoben: anstatt mit dem guten Helden soll sich das Publikum heute mit dem Bösewicht identifizieren.
Der schlechte Held animiert zur Überschreitung der eigenen Limiten, auch wenn dies nur in der Phantasie geschieht. Hat sich der Archetyp des Bösen ebenfalls verändert?
Universelle Symbole prägten ihn lange Zeit. Plattgedrückte Warzennase, finsterer Blick, Arm- und Beinprothesen gehörten dazu. Ein Mix zwischen Pirat und Schneewittchens böser Stiefmutter. Heute sieht das Böse aus wie Sharon Stone in «Basic Instinct», und zu den klassischen Gewaltfarben Rot/Schwarz hat sich ein leuchtendes Stahlblau gesellt.
Wie bekämpfe ich das Böse in mir?
Indem ich es anerkenne. Indem ich Leute eruiere, denen erste Aggressionen gegolten haben, und mit ihnen und den Umständen ins Reine komme.
Und wie schütze ich mich vor bösartigen Übergriffen?
Indem ich die Gefahren einzuschätzen lerne und dem Angreifer gleichzeitig zu verstehen gebe, was er riskiert. Wenn man Zeit hat, sollte man versuchen, den Bösartigen in seinen guten Seiten zu bestätigen. Denn die Bestätigung fehlt ihm ja. Nachher beruhigt er sich und wird ganz zahm.
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