Ich schätze die Lage der modernen Neurowissenschaft ungefähr so ein wie die der Physik zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Wo man sich so ungefähr gesagt hat "
Passt, wir ham so mal den Großteil erklärt, jetzt machen wir noch eben den Rest" und dann ist man draufgekommen, dass die ganzen Erklärungen, die wir bis jetzt haben nur begrenzt funktionieren, wenn man genauer hinsieht, und plötzlich gabs Quanteneffekte und den ganzen Schlonz und man merkte, wie
wenig man vorher eigentlich wusste.
Wobei - das ist nicht der Zustand der heutigen Neurowissenschaft, sondern der, den die Neurowissenschaft in 10-20 Jahren haben wird. Wir wissen noch vergleichsweise wenig konkretes über das Hirn. Selbst so simple Funktionen wie Neurotransmitterausschüttungen und Prinzipien der Signalübertragung sind erst mal "grob" geklärt, sobald man da etwas genauer hinguckt, merkt man erst, wieviele blinde Flecken es noch gibt (Beispiel: Wie wird ein Vesikel aus dem Neuron befördert?). Aber selbst, wenn man diese groben Sachen großteils geklärt
hätte, bleibt noch ein riesiger Pool an Wissen unerschlossen - nämlich die Feinheiten der Neurokybernetik. Es geht darum, zu verstehen, wie das Gehirn Informationen verarbeitet und warum es das so gut kann. Es wird viele Jahrzehnte dauern, bis diese Geheimnisse auch nur grob erklärt werden können - und dann werden wir auch (hoffentlich) besser verstehen können, wie das Gehirn Bewusstsein, Erfahrungen, Gefühle, kurz
Qualia erzeugt.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg - es gibt noch viel zu machen bevor wir uns solchen Fragen sinnvoll zuwenden können. Zuerst bräuchte es mal akkurate Messmethoden, mit denen man vor allem schwache neuronale Aktivitätsmuster ohne die Gefahr von Fehlinterpretation durch Rauschen o.ä. erklären kann. Das wäre schon ein unheimlicher Fortschritt, weil ich glaube dass sich im Hirn viel abspielt, was mit unseren heutigen Messmethoden nur unzureichend nachvollzogen werden kann.
Leute, die
jetzt schon eine Erklärung für psychologische Effekte rein auf Basis von Neurophysiologie fordern sind ungefähr so ernstzunehmend wie Leute, die von Newton eine detaillierte Erklärung der Unschärferelation gefordert hätten. Wissenschaft muss sich entwickeln, um sinnvoll zu sein. Eine (praktikable) neurophysiologische Erklärung komplizierter psychologischer Funktionen ist heute - wo wir gerade mal in der Lage sind, einfache psychologische Effekte durch Neurophysiologie kohärent zu erklären - nicht sinnvoll zu fordern. Wird aber noch kommen.
Dass gewisse Hirnareale für irgendwelche "
esoterischen Funktionen" zuständig sein sollen, halte ich übrigens für völligen Unsinn, der einer Unwissenheit bzgl. der modernen Neurowissenschaften (bzw. wissenschaftlicher Methode als solche) entspringt.
Wenn der Threadsteller sagt, dass Wissenschaftler nicht "
mit Beweisen rausrücken" liegt das nicht daran, dass sie alle an einem antiesoterischen Komplott beteiligt sind, sondern daran, dass es solche Beweise einfach nicht produzierbar sind. Das veranschauliche ich immer gern mit optischen Täuschungen. Dieses Bild hier:
Die mit A und B markierten Felder haben
die gleiche Farbe. Jeder Mensch mit funktionierendem Gehirn nimmt aber A als dunkler wahr als B. Wir wissen aber, dass sich unser Hirn gern von solchen Effekten täuschen lässt, weil wir andere Beispiele kennen. Würde man die beiden Felder mit Photoshop untersuchen, würde man sofort präsentiert kriegen, dass sie die gleiche Farbe haben.
Zu sagen: "
die Wissenschaftler rücken nicht mit Beweisen raus! Denn ich hab mit meinen Freunden den Beweis erbracht, dass Telepathie funktioniert!" ist in etwa so, wie zu sagen: "
das blöde Photoshop gibt mir die falschen Farben an! Denn ich kann doch sehen, dass die Felder verschiedene Farben haben!"
Kurzum: Beweise kann man reproduzieren. Wenn es einen Beweis gibt, geht zu Wissenschaftlern und zeigt es ihnen, unter neutralen Bedingungen. Wenn dann plötzlich was anderes rauskommt als zuvor, dann seid ihr vielleicht einer Täuschung erlegen, so wie bei dem Bild oben.