Meine Schwester sagt mir oft, dass sie ohne mich nicht mehr leben will. - Was für eine Belastung für mich. Sie lebt eine Symbiose zu mir, als wär ich ihr Zwilling. Ich leide darunter. Ich möchte, dass sie lernt, sich selbst zu sein, ohne mich.
Der Grund, warum ich versuche, Dir hier so ausführlich zu antworten, ist genau dieser Absatz. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, sowohl das Verhalten Deiner Schwester, als auch Deine Probleme damit.
Mir ist auch klar, warum bei Dir anscheinend der Eindruck entstehen musste, dass die Verbindung zwischen Britta und mir in gewisser Weise ähnlich "ungesund" war.
War sie nicht, sonst wären die Resultate jetzt andere. Dann wäre ich jetzt tatsächlich ins Bodenlose gefallen.
Ich weiß ja nicht so viel über Dich, Deine Situation, nur das was Du hier geschrieben hast.
Britta hatte auch so ihre Probleme damit, dass ich ohne sie nicht mehr leben wollte. Auch wenn das einen anderen Hintergrund hatte.
Für mich war das, was ich mit Britta hatte, das in jeder Hinsicht Beste, das mir jemals passiert ist. Wenn man so will, nicht nur in diesem Leben. Was soll danach noch kommen? Wenn ich ehrlich bin, auch wenn sich das inzwischen gelegt hat, war eine der mitspielenden Komponenten auch eine ziemliche Verlustangst. Was sollte ich da alleine, ohne sie?
Ich kam mit anderen Menschen nie so gut klar, bin einfach in vielem zu anders, und noch einmal so jemandem wie ihr werde ich mit Sicherheit nicht noch einmal in diesem Leben begegnen.
Also war für mich meine Entscheidung, mit ihr sterben zu wollen, sonnenklar. Für mich wäre das etwas Schönes gewesen, vielleicht gar nicht so einfach, aber - wenn man so will - eben der krönende, letzte, gemeinsame Abschluss unserer Liebe. Alles erledigt, das möglich war, also können wir auch gemeinsam gehen.
Britta gefiel das gar nicht so gut. Aber sie sagte dazu auch zu wenig, als dazu noch die Zeit war, es hebelte sie sogar etwas aus. Also war ihr zu mir auf Abstand gehen umgekehrt wohl zumindest auch der Versuch, genau das zu verhindern.
Sie tat das aus Liebe, wollte mich, wenn man so will, vor mir selbst schützen, ich wollte etwas anderes aus Liebe tun. Leider passte das auf die Art so gar nicht zusammen.
Es gibt immer wieder ältere Ehepaare, die, weil der eine Teil schwerstkrank ist, beschließen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Finde ich sehr schön. Auch wenn die Motivation in einigen Fälle auch eine Art Hilflosigkeit, Ohnmacht sein kann, oder die Frage, was mache ich denn dann ohne den Anderen.
Und dann kann es auch passieren, dass das einer doch überlebt, und dann auch noch wegen Beihilfe zum Selbstmord angeklagt wird und tatsächlich ins Gefängnis kommt. Mit über 80 Jahren.
Ok, so alt waren wir noch nicht, aber so in etwa stellte ich mir das vor.
Nicht ohne den Anderen leben zu wollen, ist eine Sache, nicht ohne den Anderen leben zu können, eine andere. Das Ganze als Art Druckmittel zu verwenden, nochmal etwas Anderes. Also ein sehr komplexes Thema.
So wie ich das mitbekomme, scheinst Du für Deine Schwester eine Art Elternersatz geworden zu sein, also ist sie irgendwie anscheinend nie wirklich erwachsen geworden, oder hat gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, oder etwas hat sie dermaßen ausgehebelt, dass sie sozusagen in ein früheres Programm, Muster zurückgefallen ist.
Das mag für Deine Schwester ja durchaus angenehm sein, für Dich scheint das aber eher eine ziemlich problematische Sache zu sein, was ja nachvollziehbar ist, weil das natürlich sowohl von der Rolle als auch der Belastung weit über eine Geschwisterbeziehung hinausgeht.
In dem Fall wäre eine Art Abnabelung, auch in Deinem eigenen Interesse, durchaus nötig, denke ich. Da Du in der Konstellation, wenn ich das richtig verstehe, ja auch zu kurz kommst, also die Gebende bist, umgekehrt das aber für Dich nicht dieselbe Bedeutung hat wie für Deine Schwester. Ungesunde Sache auf Dauer.
Vor allem aber hilft es Deiner Schwester ja auch nicht wirklich, sondern es lässt sie selbst auf der Stelle treten, so lange die Konstellation so bleibt, gibt es für sie ja gar keinen Grund, daran selbst etwas zu verändern, oder auf eigenen Füßen zu stehen.
Jede wirkliche Verbindung zu jemandem ist in gewisser Weise auch eine Art Abhängigkeit, was eben positive und negative Seiten haben kann. Das Wichtigste ist aus meiner Sicht die Balance. Ist die gegeben, so wird es die geringsten Probleme geben, ist sie es nicht, wird das Ganze einseitig, sind die Probleme unvermeidlich. Aber leider lösen sich die dann nicht mehr von alleine in Luft auf.
Programme, Muster haben sich gebildet, und die geben nicht einfach so auf, oder lassen Veränderungen gerne zu.
Deine Schwester wird daran von sich aus nichts ändern, also kannst nur Du ihr - auf welche Art auch immer - Grenzen setzten, Stops verordnen, was vermutlich nicht so einfach sein dürfte.
Ich hatte einmal eine Art Beziehung mit jemanden, die ich gar nicht wollte, aber ich wurde die Frau nicht mehr los, die klammerte an mich, und egal was ich tat, es nützte nichts, ich stand völlig selbst an, ihr war alles egal. Das ging in den schlimmsten Zeiten sogar bis zu Stalking - scheint es mitunter auch von Frauen zu geben - und anderen Übergriffen. Sie akzeptierte kein nein von mir. Dass sie dazu auch noch Schweralkoholikerin war, machte eine Menge auch nicht einfacher.
Manchmal muss man wohl auch riskieren, der "Böse" zu sein, oder ein Arschloch jemandem gegenüber, besondern, wenn derjenige ohnehin nach ganz anderen Spielregeln als man selbst agiert. Und manchmal zerschlägt man dabei auch einiges Porzellan.
Aber man kann auch nichts geben, wenn man nichts mehr hat, selbst am Limit ist, oder ausgebrannt, etwas die eigenen Kräfte überfordert. Geben kann man nur aus der Fülle, und vor allem, freiwillig, wenn möglich.
Falls Du magst, würde ich gerne noch ein wenig über diese Symbiose mit Deiner Schwester erfahren, muss aber auch nicht hier sein. Für mich ist das eine ziemliche, einseitige Abhängigkeit, auf Deine Kosten, also würde ich Dir nur empfehlen, in Deinem eigenen Interesse, versuche, daran was zu verändern.
Warum denkt sie, ohne diese Symbiose nicht mit mir verbunden zu sein? Warum denkst Du das bei Britta und Dir?
Deine Schwester braucht Dich mit Sicherheit tatsächlich. Oder glaubt das zumindest. Aber für Dich ist es anscheinend nicht gut.
Es wäre ok, wenn es für Euch beide so ok wäre. Kann man tun. Wenn es das aber für einen nicht ist, und der das eben aus einer Art von Verantwortungsgefühl heraus erträg, ist das aus meiner Sicht keine gute Basis dafür, daran festzuhalten.
Ich versuche Dir, den Unterschied zu Dir und Deiner Schwester und Britta und mir ein wenig verständlich zu machen.
War haben beide die Verbindung zwischen uns erlebt, alss von einer beziehung zwischen und noch gar keine Rede war. Die Verbindung, die Verbundenheit, der Draht zueinander, wenn man so will, auch die Liebe, waren trotzdem bereits da.
Die Realität hat das Ganze vertieft, um viele Facetten bereichert, aber in der Substanz war die Sache von Anfang an fertig.
Und die Grundbasis dafür waren vor allem neben der gegenseitigen Liebe die Achtung voreinander, der Respekt im Umgang miteinander, auch im Umgang mit der Andersartigkeit des Gegenübers, und vor allem der Austausch, die Interaktion auf Augenhöhe, gleichwertig, die Kommunikation. Wir besprachen alles, redeten Dinge aus, klärten Unstimmigkeiten, obwohl Kommunikation ja nicht nur auf Worte beschränkt ist. Aber alles war authentisch, wahrhaftig, echt.
Ich hätte nie etwas gemacht, das Britta nicht wollte, und sie umgekehrt auch nicht. Vor allem nicht gegeneinander.
Deshalb war dann heuer auch auf einmal einiges so schwer, weil es auf einmal anders lief, wenngleich in Summe der Großteil doch eher kommunikative als tatsächlich inhaltliche Missverständnisse waren.
Was wir aber beide in dieser Zeit - wenn gleich auf unterscheidlichen Wegen - wollten, war, unsere Liebe zu bewahren, über dieses Leben hinaus. Britta auf ihre Art, ich auf meine.
Am Ende ging es uns beiden kaum mehr um uns beide, eigentlich nur darum, überlebt diese Liebe Britta's Tod unbeschadet, oder nicht. Und das hat sie anscheinend. Sonst würde sich eine Menge ganz anders anfühlen.
Ich weiß nicht, wie, was Britta jetzt ist, aber was ich wahrnehme ist, dass der Draht, die Verbundenheit noch da ist, die ist nicht, wie sonst bei einem Todesfall, zerrissen. Also muss etwas von ihr sie als Mensch überlebt haben. Sonst würde meine Organismus das ganz anders registrieren, ganz anders darauf reagieren.
Es ist natürlich irgendwie befremdlich, auch ungewohnt, aber wenn ich ehrlich bin, auch das Beste das mir in der Situation hat passieren können. Etwas von ihr ist noch da, irgendwie in mir selbst, irgendwie außerhalb von mir. Aber ich kann dazu nichts tun. Wenn sie das so nicht mehr möchte, dann liegt es an ihr, daran etwas zu verändern. Und das dürfte ich dann wohl ziemlich schmerzhaft merken, erleben.
Die Verbindung ist, aus meiner Sicht, real, nach wie vor, aber Britta, oder was das inzwischen auch immer sein mag, weiß umgekehrt auch, dass sie, wenn sie das möchte, jederzeit gehen kann. Ich wüsste ja gar nicht, wie ich sie halten sollte, wenn es sich in die Richtung entwickelt.
Es ist auf eigenartige Weise eine Verbindung woandershin, die eine ähnliche Funktion zu erfüllen vermag, als die, die zwischen Britta und mir existierte. Inwieweit die aber mit ihr als realer Person noch etwas zu tun hat, oder ob da andere Kräfte mitspielen, kann ich von hier aus nicht wirklich abschätzen. Aber es hilft mir dabei, nicht zu fallen. Und es ist definitiv keine Einbildung.
Auch wenn Du Britta jetzt noch sehr deutlich spürst, wird es irgendwann nachlassen.
Das mag so sein, oder auch nicht. Ich glaube es inzwischen nicht einmal so sehr.
Dann wäre bisher einiges auch anders verlaufen.
Deshalb wäre es gut, wenn Du Dich rechtzeitig um einen Therapieplatz bemühen würdest, bevor Du womöglich nach dieser Phase (die jeder Trauernde ähnlich durchlebt) in ein depressives Tief kommst, wovor Du Dich fürchtest.
Ich denke, wenn ich dieses Jahr bisher überstanden habe, und damit auf meine Art klargekommen bin, kann mir kein Therapeut in irgendeiner Weise helfen.
Ich habe meine äußerst intensive Therapie-Phase bereits hinter mir. War in einigem interessant, in einigem hilfreich, in Summe hat es aber eine Menge Schaden auch angerichtet, vieles völlig auf den Kopf gestellt. Und danach habe ich elf Jahre gebraucht, um eine Menge auch nur halbwegs wieder auf die Reihe zu bekommen, und vor allem, um all das wieder aus mir herauszubekommen, was mir davor eintherapiert wurde, und das sich großteils als völliger Unsinn herausgestellt hatte.
Wäre ein großes Thema, Therapie, und die (nicht existente) Verantwortung der Therapeuten für etwaige Folgen. Aber auch das führt hier wohl zu weit.
Die Depression macht mir inzwischen keine Angst mehr.
Die beste Therapie ist ein funktionierender Austausch mit dem richtigen Gegenüber. Im Grunde genommen ist jede Therapie - wenn man einmal tatsächlichen psychischen Defekten ausklammert, die psychiatrisch behandelt gehören - zumindest oft eine Art Ersatz für eine nicht funktionierende Kommunikation, oder eine Fehlkommunikation mit den falschen Leuten. Was leider der Normalfall zu sein scheint.
Wir werden alle darauf gedrillt, mit allen anderen möglichst gut klarzukommen, mit so vielen anderen wie möglich möglichst kompatibel zu sein, angepasst, werden darauf trainiert, uns selbst zu verleugnen, für ein bisschen Applaus, für ein paar Likes, zu funktionieren, in einem System, das uns, je mehr wir da tun, selbst krank macht.
Am Ende wissen wir selbst nicht mehr, wer wir sind, noch weniger, was wir eigentlich bräuchten, was uns gut tut, was nicht. Noch weniger, welche Menschen uns gut tun, welche nicht, welche man wie nahe an sich heranlassen kann, darf, welche nicht.
Wir sind nicht beliebig kompatibel, und das ist auch gut so. Wir sind Individuen, jeder ein wenig anders, jeder mit anderen Stärken, Schwächen, jeder auf einer anderen Suche nach etwas, das ihm fehlt.
Aber jede Begegnung, jeder Interaktion hinterlässt Spuren, schöne ebenso wie weniger schöne, verändert jemanden selbst, etwas in einem. Vermag zu heilen, oder zu schaden.
Am Ende bleibt die Frage, bist Du dorthin gekommen, wohin Du kommen wolltest, welchen Preis hast Du dafür bezahlt, und war es das wirklich wert?
Ich hatte etwas, das alles andere wert war. Mir. Und das zugleich mit keinem Geld der Welt zu bekommen gewesen wäre.
Aber anscheinend hatte auch das seinen Preis. Davor, und jetzt danach.
Dann soll es so sein.
Bitte denke an Brittas Wunsch, dass Du Dich nicht aufgibst und nicht für sie stirbst. Sie möchte das nicht. Es ist kein Geschenk für sie. Das wäre es für mich auch nicht, wenn ein Angehöriger das tun würde. Es wäre für mich der absolute Alptraum, denn ich möchte, dass meine Lieben leben - glücklich - auch ohne mich.
Das hätte ohnehin nur gemeinsam funktioniert. Und schon gar nicht gegen Brittas Wunsch.
Trotzdem, das worum es mir ging, das was ich erleben wollte, habe ich erlebt. Es wird also nichts damit Vergleichbares, nichts ähnlich Bedeutsames mehr passieren.
Wird also anscheinend Zeit, mich mit etwas kleineren noch unerledigten Dingen zu befassen.