Mil. 2.3.6. Keine Seele im Innern (No soul inside)
Der König sprach: «Gibt es wohl, o Herr, einen Wahrnehmer (vedagu)?»
«Was verstehst du unter diesem Wahrnehmer, o König?»
«Dieses Seelenwesen im Innern, o Herr, das mit dem Auge die Formen erblickt, mit dem Ohre die Töne vernimmt, mit der Nase die Düfte riecht, mit der Zunge die Säfte schmeckt, mit dem Körper die Tastobjekte tastet und mit dem Geiste die Geistobjekte wahrnimmt. Gerade nämlich wie wir, die wir hier in diesem Palaste sitzen, je nach Belieben durch irgend eines der Fenster blicken können - sei's durchs östliche, westliche, nördliche oder südliche - ebenso, o Herr, schaut dieses im Innern befindliche Seelenwesen je nach Belieben durch dieses oder jenes der Sinnestore.»
Der Ordensältere aber sprach: «Die fünf Sinnentore will ich dir erklären, o König. So höre denn und sei recht aufmerksam! Wenn es im Innern ein Seelenwesen gäbe, das durch das Auge die Formen erblickt gerade wie wir hier durch irgend eines der Fenster die Gegenstände erblicken - so müßte dieses Seelenwesen ebenfalls durch Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist die Formen erblicken können. Und es müßte imstande sein, durch jedes einzelne der Sinnestore ebenfalls Töne zu vernehmen, Düfte zu riechen, Säfte zu schmecken, Tastobjekte zu tasten und Geistobjekte wahrzunehmen.»
«Das kann es freilich nicht, o Herr.»
«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren! Gerade wie wir, o König, die wir hier in diesem Palaste sitzen, wenn wir die Fenster öffnen, bei vollem Tageslichte die Gegenstände da draußen deutlicher erkennen: ebenso auch müßte dieses im Innern befindliche Seelenwesen, wenn die fünf Sinnentore herausgenommen würden, bei vollem Tageslichte besser die Gegenstände wahrnehmen können.»
«Das kann es freilich nicht, o Herr.»
«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren! Wenn da zum Beispiel dieser Dinna hinausgehen und sich (vor die offene Tür) in die Vorhalle stellen möchte, wüßtest du da wohl, o König, daß dem so ist?»
«Freilich wüßte ich das, o Herr.»
«Und wenn nun dieser selbe Dinna, o König, wieder hereinkommen und sich vor dich stellen möchte, wüßtest du da wohl ebenfalls, daß dem so ist?»
«Freilich, o Herr.»
«Wenn man nun, o König, einen geschmackbesitzenden Gegenstand auf die Zunge legen sollte, wüßte da wohl jenes im Innern befindliche Seelenwesen, ob derselbe sauer, salzig, bitter, scharf, herb oder süß ist?»
«Ja, o Herr, das wüßte es.»
«Wenn nun aber jener Gegenstand sich im Magen befinden möchte, könnte da wohl jenes Seelenwesen seinen Geschmack erkennen?»
(Der Geschmack, als rein subjektive Empfindung, ist bedingt durch Einwirkung einer stofflichen Lösung auf die Endorgane der Geschmacksnerven, ohne daß etwa bei diesem Vorgange irgend ein im Körper hausendes Ich-Wesen beteiligt wäre, das vermittelst des Schmeckorganes den Geschmack empfindet. Man sagt zwar «Ich schmecke», doch ist es in Wirklichkeit kein «Ich», welches schmeckt - ein «Ich» gibt es als etwas beständiges überhaupt nicht - sondern eben ein bloßes Schmecken findet statt. Bloße momentane Sinnesempfindungen und damit gleichzeitig entstehende und vergehende geistige Elemente, wie Gefühl, Wahrnehmung, Wille usw. sind anzutreffen aber keine Wesenheit, keine Person, kein Ich, das etwa der Besitzer derselben wäre, oder ihr Ausübender.)
«Das freilich nicht, o Herr.»
«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren. Nimm an, o König, ein Mann brächte hundert Töpfe voll Honig und füllte denselben in ein Faß. Darauf bände er einem anderen den Mund zu und steckte ihn in dieses Faß voll Honig. Könnte da wohl jener andere erkennen, ob diese Masse süß ist oder nicht?»
«Gewiß nicht, o Herr.»
«Und warum nicht?»
«Weil ja gar kein Honig in seinen Mund eingedrungen ist.»
«Ja, o König, du verbindest eben nicht das Erstere mit dem Letzteren und das Letztere mit dem Ersteren.»
«Ich bin außerstande, mit einem solchen Gegner wie dir zu diskutieren. So erkläre mir denn, bitte, die Sache!»
Und der Ordensältere unterwies den König Milinda in einer mit der höheren Lehre (abhidhamma) verbundenen Darstellung, indem er sprach: «Die Entstehung des Sehbewußtseins, o König, ist durch das Sehorgan und die Formen bedingt. Und die gleichzeitig damit entstehenden Erscheinungen, wie Sinneneindruck, Gefühl, Wahrnehmung, Wille, Sammlung, Lebenskraft und Aufmerksamkeit,( Dies sind, dem Abhidhamma zufolge, die sieben jedem Bewußtsein gemeinsamen Geistesfaktoren (cetasika)) entstehen in Abhängigkeit davon. Und genau so verhält es sich mit den übrigen Sinnen. Ein erkennendes Seelenwesen aber ist da nicht anzutreffen.»
«Klug bist du, ehrwürdiger Nágasena!»