Damit ist Unyils Geschichte nicht zu Ende. Denn die Orang-Utan-Frau, die während ihres Martyriums eine frappierende psychische Stabilität bewiesen hatte, offenbarte bei ihrer Rettung erstaunliche Klarsichtigkeit. Eine jahrelang gequälte Dogge hätte sich wohl auf Udin gestürzt und ihn zerfleischt; Unyil jedoch konnte Peiniger und Befreier sehr wohl unterscheiden, und Rache kam ihr ohnehin nicht in den Sinn. Nach den Worten der kanadischen Psychologin Anne Russon von der York-Universität in Toronto, die im BOS-Rehabilitationszentrum Wanariset forscht, rätselt die Wissenschaft, warum die roten Affen von Borneo und Sumatra trotz ungeheurer Körperkraft so "milde" sind und so wenig nachtragend. Die Professorin bescheinigt den größten baumlebenden Tieren der Erde "einen viel komplexeren Intellekt, als wir jemals erwartet hätten".
Auch Unyil erwies sich in der BOS-Obhut als ausgesprochen klug. In Wanariset wurde sie bei ihrer Aufnahme medizinisch gründlich durchgecheckt. Die Veterinäre diagnostizierten eine offene Lungentuberkulose und wiesen die Äffin in die Isolationsstation ein, wo sie Antibiotika erhielt. An den gekachelten Wänden der Quarantäneabteilung, für sechs Monate Unyils neue Heimat, stehen die Isolationskäfige beidseits eines drei Meter breiten Ganges. Morgens bekommen die Patienten ihre Blättermahlzeit gereicht. Um den Appetit der kranken Primaten anzukurbeln, legen die Pfleger Mangos, Äpfel und andere Früchte in die Mitte des Korridors - weit außer Reichweite der langarmigen Patienten. Wer seine Ration Grünfutter verzehrt, bekommt ein Leckerli.
Kaum war Unyil in der Isolierstation angekommen, begann das Naschwerk auf mysteriöse Weise zu verschwinden. Die Tierpfleger beschuldigten sich gegenseitig des Diebstahls, und es gab Streit. BOSGründer Willie Smits, ein aus Holland stammender Bodenkundler und Tropenwaldökologe, beauftragte Udin, den Chef der Tierpfleger, den Dieb dingfest zu machen. Doch Udin war bald am Ende seines Lateins; er kam dem Mundräuber nicht auf die Schliche. Die Mangos verschwanden, vom Täter gab es keine Spur.
Ratlos kletterte Udin frühmorgens aufs Dach der Isolierstation, um durch eine Ritze auszuspähen, was drinnen vor sich ging. Die Tierärzte machten ihre Visite, Medikamente wurden verteilt, die Käfige gesäubert, die Blättermahlzeit serviert und die Appetithappen ausgelegt. Alles war wie immer. Zu Udins Frust verließen sämtliche Mitarbeiter den Raum, ohne dass sich einer an den Mangos vergriff. Hatte der Dieb gemerkt, dass er ihm auflauerte?, fragte sich der Pflegerchef. Aber dann stand Unyil, die teilnahmslos in der Ecke ihres Käfigs gehockt hatte, auf und schaute munter umher. Sie rupfte ein paar ihrer überlangen Haarsträhnen aus, flocht daraus eine Schnur und band eine Bananenschale an deren Ende.
Sie steckte ihre Arme durch die Gitterstäbe, warf die Bananen-"Angel" hinter die am nächsten liegende Frucht und zog sie gefühlvoll ein paar Zentimeter näher. Rutschte die Bananenschale weg, versuchte sie es erneut. Sie fischte und zupfte so lange, bis sie einen der Appetithappen mit der Hand erreichen konnte. Nachdem sie ein paar Mangos verzehrt und deren Steine sorgfältig in ihrem Klo versteckt hatte, setzte sie sich wieder in die Käfigecke und erschien so lethargisch wie zuvor. So intelligent sind sie, die zottelhaarigen Menschenaffen aus dem Regenwald, die der englische Primatologe John MacKinnon "Vettern" und "Mitaffen" nennt. Unyil erfand nicht nur ein Werkzeug, fertigte es an, überlegte sich eine Benutzungsstrategie und setzte diese in die Tat um; sie dachte auch daran, die Mangokerne zu beseitigen, damit diese den Pflegern ihren Trick nicht verrieten. Die Kriminalgeschichte ist voller menschlicher Ganoven, die sich dümmer anstellten. Die Lösung verzwickter Aufgaben gehört für Psychologin Russon zusammen mit Werkzeuggebrauch und Lernfähigkeit zu den wichtigsten Intelligenzbeweisen. Im Kopf der roten Affen, da ist sie sich sicher, passiert eine Menge. "Orang-Utans sind sehr geduldig und nachdenklich", sagt sie. "Sie planen, grübeln und denken voraus. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen sie sich ihren Haltern als geistig überlegen erwiesen: Diebstähle aus dem Kühlschrank der Menschen, bei denen sie wohnten, wurden meist erst nach Tagen aufgeklärt. So lange dauerte es, bis die Halter verstanden, wie die Affen es angestellt hatten." Ein Affe fertigte aus einer Büroklammer einen Dietrich, mit dem er im Zoo sein Käfigschloss knackte. Da er den Nachschlüssel stets unter der Zunge versteckt hielt, kamen die Wärter ihm erst bei einem Zahnarzttermin auf die Schliche.
Unyils Geschichte hat neben Leidensfähigkeit, Erfindungsgabe und Intelligenz eine weitere Facette: Hoffnung. Denn die Affenfrau wurde nach ihrer Genesung und der nötigen Vorbereitung im BOS-Schutzgebiet Sungai Wain bei Balikpapan freigelassen. Sie hat sich in dem rund 10.000 Hektar großen Dschungelareal gut eingelebt und schon zwei kleinen Äffchen das Leben geschenkt.