Lieber Condemn,
ich möchte Dir von Herzen danken für diese so reichhaltige, geduldige Darlegung Deiner Gedanken, die Du auf eine Weise vorträgst, die mich genau da anspricht und abholt wo ich gefragt habe. Ich bin sehr erstaunt darüber, mit welchem Geschick und Verständnis für meinen "Horizont" Du in Kommunikation zu mir trittst und erlebe das Lesen Deiner Erklärungen als wahren Schatz!
Nichts zu danken! Ich freue mich immer, wenn jemand so präzise Fragen formuliert, die für mich ja ebenfalls nach wie vor eine Rolle spielen. Ist ja leider nicht so, dass ich wirklich weiß, sondern nur formulieren kann was ich wie woraus schließe... Gute Fragen helfen mir vielleicht selbst weiterzukommen. Insofern danke ich!
Zuerst sprichst Du die grundlegende "Hinterfragbarkeit" aller Gedanken an. Geht man ihnen beobachtend auf den Grund findet sich nirgends ein letzter oder anfänglicher Gedanke, der nicht weiter hinterfragbar wäre. So endet alles Hinterfragen im "Nicht-Wissen", an der Grenze des Verstands.
Ja und nein. Das es dort endet, scheint die Regel zu sein, auch für mich. Ich stehe regelmäßig vor einer Wand, an der es weder weitergeht, noch irgendeine Art der Erkenntnis daraus ableitbar wäre. Nur: Ich hatte auch Momente, in denen ich diese "Unwissenheits-Wand" ebenfalls als relativen Gedanken entlarven konnte. Darauf folgte dann schlagartig eine große Sicherheit, allerdings leider immer nur sehr kurz.
Doch sprechen die Buddhisten ja grade nicht davon, das dieses "Nicht-Wissen" das Ziel aller Bemühung wäre sondern im Gegenteil sprechen sie von "Unwissenheit" als der Ursache für alles Leiden. Unwissenheit nämlich in Bezug auf die "wahre Natur" der Dinge. Positiv ausgedrückt ist dann die direkte Einsicht, das direkte Wissen und Erfahren dieser Natur der Dinge - das Fehlen von Eigennatur - das Gegenmittel zur Unwissenheit.
Ich sehe auch "Unwissenheit" als die Quelle von Leiden. Wobei ich eher "Unsicherheit" dazu sage.
Meine Theorie dazu ist: Die absolute Wahrheit ist so absolut frei, so allumfassend, dass sie auch irgendwie ungreifbar und unbegreifbar ist. Anstatt dass der Verstand nun daraus schließt: Wow... nichts ist unmöglich, absolute Freiheit, alles Eins, keine Gefahr usw. reibt er sich im Versuch zu verstehen daran auf und zieht Rückschlüsse wie "Ich verstehe nicht, was potentiell gefährlich weil unberechenbar ist" ... Sobald da ein Gefühl von Unsicherheit entsteht, zieht er weitere Schlüsse und begründet das. Wir erfahren das täglich. In uns ist dieses Gefühl von Mangel und Unsicherheit und wir suchen nach Ursachen um damit umgehen zu können. Aber was ist, wenn die Suche nach Ursachen genau diese vermeintlichen Ursachen erst erzeugt? Wenn es nicht so läuft, das man Ursachen erkennt, sondern sein Leben damit verbringt ein grundsätzliches "Leid-Gefühl" in materielle Formen zu kleiden... Krankheit, materielle Mängel, alle möglichen Demütigungen, Beziehungsprobleme usw.usf. Dann führt man einen Schattenkampf. Man nimm sich diese konkreten Probleme vor und fahndet auch da nach Ursachen und würde in dem Fall gleich eine ganze Kette vermeintlicher Ursachen erzeugen... die die eigentliche Quelle vollkommen überdecken. Wenn man sich genau ein Problem vornimmt und sich rein subjektiv selbst fragt: Was halte ich für möglich wie es entstand? Nicht so sehr darauf schauen, inwiefern nun wahr ist was man glaubt, sondern vielmehr darauf achten, dass man sich einmal ALLES vor Augen führt, was man dazu glaubt... Man könnte es dieser Theorie gemäß wie "Programmbefehle" lesen. Beispiel "Armut":
"Ich bin arm, weil ich in der Schule ein Idiot war."
"....., weil ich zu faul bin"
"...., weil ich immer schon ungerecht behandelt wurde"
Das sind jetzt nur 3 mögliche (und eher allgemeine) Glaubenssätze zu dem Thema und aus jedem ergeben sich dann einige Konsquenzen:
1. "Ich bin ein Idiot, dumm, minder-intelligent"
2. "Ich könnte, aber ich bin sogar so ein Idiot, dass ich Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht wahrnehme ....ergo: Schuldig"
3. "Ich bin ein Opfer anderer"
Was wäre, wenn solche Gedanken weniger als "Rückschlüsse" gewertet werden sollten, sondern viel mehr als "Programm-Befehl = Schöpfung"? Diese drei Glaubenssätze decken im Grunde jede Menge Möglichkeiten zur Selbst-Beschränkung auch in ganz anderen Bereichen ab. Und wer sich die eigene Psyche mal klar anschaut, der findet jede Menge davon. Sollte meine Theorie stimmen, wir das Denken und Handeln auf der Basis solcher Überzeugungen zu Resultaten führen, die genau diese bestätigen... und das führt in vielen Bereichen in Leid. Vielleicht ist ja dass sogar der Sinn der Sache. Leid zu erfahren, hoffentlich mit dem Ziel dann auch die Auflösung all dieser selbstauferlegten Beschränkungen zu schaffen.
Ist das aber nicht auch nur ein Gedanke? Nämlich der Gedanke, die Dinge seien nicht wesenhaft, nicht solide, nicht so, wie wir sie wahrnehmen? Müsste man dann also folgerichtig nicht auch diese Einsicht über die wahre Natur der Dinge verwerfen? Also auch die zentrale buddhistische These von der Leere der Dinge müsste letztlich doch genauso verworfen werden, wie alle anderen Gedanken auch, um Nirvana zu erfahren. ODer mache ich da einen Denkfehler?
Letztlich wird wohl alles fallen. Diese Gedanken und Strategien, um den Verstand zu entlarven, sind ebenfalls vom Verstand gemacht und angewendet. Aber es gibt die (ich glaube sogar buddhistische) Metapher, dass man ein Boot baut um über einen Fluss zu kommen, man es dann aber nicht weiter mit sich herumschleppt. Damit ist ja gemeint: Es gibt durchaus hilfreiche Strategien des Verstandes, vielleicht gibt es die eine perfekte Strategie ("Nichts hat als wahr zu gelten, ich hinterfrage alles") die einen bis kurz vor das Ziel führt... und an dem Punkt selbst fallen muss, damit man über die Linie treten kann. Aber bis dahin ist sie hilfreich. Man kann es auch anders sagen: Man erzeugt eine Überzeugung, um destruktive Überzeugungen zu entlarven... letztlich diese eine selbst.
Dann zeigst Du auf den Aspekt der Bewertung und führst ein sehr schönes Beispiel an, wie Bewertung abhängt von persönlicher "Verstricktheit" mit dem jeweiligen Sujet. Je tiefer das Thema in meiner Persönlichkeitsstruktur eingewoben ist, so verstehe ich Dich, desto differenzierter und auch verborgener sind all die Bewertungen, die ich vorgenommen habe und desto schwieriger ist es, jede einzelne aufzudecken. Du schlägst dann das Verfahren des "Abstand nehmens" vor, "installierst" also eine Metaebene, die eine bewertungsfreie Ansicht zu den identifizierten Teilaspekten einnimmt, nimmst davon wieder Abstand, beobachtest dann von dieser Warte wiederum neutral usw. Das ist ja im Prinzip das Verfahren des Hinterfragens, was Du beschreibst.
Ja, hast Du sehr gut formuliert. Was ich bei mir festgestellt habe ist: Dieses "Sein" (was Du Metaebene nennst) nimmt die Persönlichkeit wahr, nimmt die Welt scheinbar durch die Person/den Körper wahr. Da sie selbst wertungsfrei ist, gibt es da keine Bevorzugung... da ist nicht das eine schlechter und das andere besser und da ist insofern dann auch kein Eingreifen, nur Beobachtung. Das Problem das ich bisher noch sehe ist: Manches, was da beobachtet wird, ist so intensiv, so "verengt", dass es als absolute Wahrheit erscheint, sich dieser Metaebene sozusagen aufdrängt. Wieder ein Beispiel: Zwei Kinder, von denen Du keines bevorzugst, erzählen Dir von einem Streit... der ist für Dich gleichzeitig auch noch eine Kleinigkeit. Du siehst das vollkommen nüchtern, hörst Dir die vielleicht komplett gegensätzlichen Statements der beiden an, aber wer da lüg oder die Wahrheit sagt, interessiert Dich gar nicht. Dein Interesse beschränkt sich darauf, dass es den beiden wieder gut geht, sie das einfach nur nicht fortsetzen..... Du beziehst keine Stellung, verlierst Dich nicht in wahren oder falschen Details, Du schaust auf das Wesentliche und beendest das für sie mit einigen Worten.
Gegenbeispiel: Ein befreundetes Paar ist fertig miteinander. Beide waren für Dich bisher Freunde, aber nun sagt sie: Er hat mich vergewaltigt. Er sagt: Die hat nen Vollschaden, ist nicht mehr zurechnungsfähig, will sich an mir rächen... Beide sind für sich glaubwürdig und haben eine ganze Geschichte um diese Aussagen. Klar ist: Die Freundschaft zu beiden wird sich verändern, Du wirst vielleicht nie wissen was wahr ist, ab jetzt Vorbehalte haben. Die Bedeutung dieser Krise ist also nicht auf die beiden beschränkt, sondern zieht sich bis zu Dir. Daher steigst Du denkerisch voll ein. Dein Verstand wird zum Privatdetektiv und klopft alles was beide sagten auf Glaubwürdigkeit ab usw. inklusive jeder Menge Erinnerungen wie "Er/Sie ist glaubwürdiger, er/sie war immer glauwürdig... ich war mit ihm/ihr schon als 15jähriger im Urlaub" usw.
Worauf ich hinaus will ist: Sobald da eine persönliche Bedeutung ins Spiel kommt, die nicht mal groß sein muss ("Wie soll ich die beiden jetzt behandeln wenn ich meine Geburtstagseinladungen verschicke?"), verengt sich der Fokus... mal auf diese "Wahrheit", dann vielleicht auf den gegensätzlichen Gedanken, vielleicht auch komplett darauf für eine Seite Stellung zu beziehen. Aber was erst geschieht, wenn eben keine Wahl mehr bleibt: Abstand nehmen. Diese Geschichte als nicht die eigene zu erkennen.
Der bisschen böse Witz dabei ist: Die eigenen Geschichten sind vielleicht genauso wenig die eigenen. Die Trennung von "Meine Freunde und ich" ist genauso wahr oder falsch wie "Mein überzogenes Konto und ich" oder "Ich (Trauma-Persönlichkeit) und I C H (Metaebene). Aber überall wo Bedeutung für "Persönlichkeit" ist, ist immer auch Leid... entweder schon da, oder potentiell durch Verlust und hoffentlich abzuwenden. Und überall da verengt sich der Fokus jeweils pro Moment auf einseitige Sichtweisen und drängt sich der Metaebene als absolut wahr auf. Das im nächsten Moment vielleicht der gegenteilige Gedanke aufkommt, ändert nichts am Prinzip: Jetzt ist DAS wahr, weil da keinerlei Abstand mehr besteht. Wenn Du im Kino sitzt, bist Du dort als Dir selbst bewusst, kannst auf Abstand bleiben. Wenn der Beobachter aber so endlos offen ist, so gar keine Stellung bezieht, können ihm vermeintliche Wahrheiten und Bewertungen aufgedrängt werden. Das kratzt diese Metaebene nicht, aber das was sie beobachtet kommt auf die Art nie zu einem Ende, setzt sich selbst immer weiter fort.
Nun würde ich aber hier einwenden, daß das Abstand nehmen ja grade Abspaltung fördert, anststatt sie aufzulösen. Denn wenn ich zu jedem gefundenen Aspekt einen neuen Abstand nehme so vergrößere ich ja insgesamt den Abstand zwischen mir und dem Beobachteten. Das Einnehmen der Metaebene vereinzelt mich ja doch letztlich in der Postion des von der Erahrung getrennten Beobachter-Ichs.
Nicht unbedingt. Nimm das Beispiel mit den Kindern. Das ist nicht unbedingt Abstand nehmen oder Grenzen setzen. Sich nicht in den unwesentlichen Kleinigkeiten zu verlieren hilft dann dabei, die Geschichte auf das Wesentliche zurückzubringen und die Trennung die die beiden Streithälse untereinander hergestellt haben, aufzulösen. Dazu reicht im Idealfall bei Kindern die Erinnerung daran, dass sie Freunde sind, und es lächerlich ist, das wegen einer Lappalie ins Kippen zu bringen. Wenn Du aber vor den Augen beider nach dem Lügner suchst... gehts in die Gegenrichtung.
Wie aber wende ich dasselbe Verfahren auf mich als Beobachter an? Wie nehme ich zu mir selbst Abstand?
Müsste am Ende dieses Beobachtens nicht eigentlich die Einsicht stehen, daß es ganz und gar unmöglich ist, mich selbst zu beobachten? Und wenn dem so ist, was ist daran "glücklich-machend"? Warum macht es glücklich, zu erkennen, daß es mich überhaupt nicht wirklich gibt?
Du wirst sicherlich nie den Beobachter finden. Er findet sich in dem was er beobachtet. Er schließt aus "Ich nehme wahr" auf seine Existenz. Wenn da nichts existiert, ist da auch kein Leid. Wenn da etwas existiert das beobachtet, das allerdings keinerlei Leid mehr wahrnimmt, macht das sicherlich glücklich.
Es gibt da diese vielzitierte Metapher vom Auge, dass sich selbst nicht sehen kann. Aber es kann sagen: Ich sehe, also gibt es mich. Oder es kann in den Spiegel schauen und zumindest sagen: Dieses runde Ding da sieht... letztlich kann man das weiterdenken auf Bewusstsein.
So... muss erst mal aufhören. Werde immer ein bisschen zu ausführlich bei dem Thema.
VG,
C.