Bert Hellinger, Adolf Hitler und der Nationalsozialismus
von Wilfried Nelles
Bei Berchtesgaden, auf dem Obersalzberg, hatte Adolf Hitler sein Ferienquartier. In dem Haus, das seiner Lebensgefährtin Eva Braun gehörte, verbrachte er oft mehrere Wochen. Währenddessen mussten die Regierungsgeschäfte natürlich weiter gehen, und dazu gab es, neben den Hauptbüros auf dem Berghof, wo Hitler mit seinen engsten Gefolgsleuten arbeitete, unten im Tal einen kleinen Ableger der Reichskanzlei, in dem einige Beamte den Kontakt zwischen Berlin und der Dienststelle Berchtesgaden" aufrechterhielten. Diese Außenstelle der Reichskanzlei fiel nach dem Krieg in den Besitz der US-Armee und nach deren Abzug Ende der 90er Jahre an den Bund, der es dann an einen Unternehmer verkaufte, der es umbauen und zu Wohnzwecken verkaufen oder vermieten sollte. Dies geschah, mehrere Mieter (insgesamt 14 Parteien) zogen ein und wohnen dort, und niemand nahm Anstoß daran. Warum auch?!
Dann geschah etwas, so scheint es, ganz und gar Unerhörtes: Bert Hellinger zog dort ein -zwar nur vorübergehend und aus einer unvorhergesehenen Wohnungsnotlage heraus, bis sein neues Haus bezugsfertig war, aber das reichte: Es wurde zum Skandal erklärt. Report München" filmt ihn, wie er das Haus verlässt, und stellt eine ideologische Verbindung zwischen ihm und Hitler her, die tageszeitung" lässt drei Mitarbeiter an seine Tür klingeln, die Rechenschaft von ihm verlangen und monieren, dass Hellinger ihnen keinen Einlass in seine Privatwohnung gewährt, als hätten sie eine Art öffentlichen Untersuchungsauftrag, und betiteln ihren Artikel mit Das Psycho-Hauptquartier". Selbst im eigenen Lager wendet man sich ab - Psychotherapeuten, die mit Hellingers Methode arbeit(et)en, greifen ihn in öffentlichen Erklärungen an, und so genannte Freunde distanzieren sich öffentlich oder privat von ihm oder verlangen Erklärungen.
Klar ist: was Jedermann darf, darf Hellinger noch längst nicht. Warum? Weil er sich zum Nationalsozialismus und zu Adolf Hitler in einer Weise geäußert hat, an der viele Anstoß nehmen. Jetzt wird, auch unter dem Einfluss einer öffentlichen Kampagne, die von dem Publizisten und Lobbyisten Colin Goldner (der einem Gerichtsurteil zufolge als besessener Fanatiker" bezeichnet werden darf) schon vor Hellingers Einzug in die frühere Reichskanzlei initiiert wurde, ohne näheres Hinsehen geschlussfolgert, dass Hellinger ein Nazisympathisant sei und dort eingezogen sei, um sich von Hitlers Geist inspirieren zu lassen. Was ist da dran?
Bert Hellinger war Priester, dann Psychotherapeut mit Schwerpunkt Primärtherapie, dann hat er sich zur Familientherapie hingezogen gefühlt und hat schließlich das Familien-Stellen entwickelt, eine Methode, die seit Beginn der 90er Jahre die Familientherapie revolutioniert und inzwischen weltweit Beachtung findet. Mit dem Thema Nationalsozialismus hat er sich nie besonders befasst, und politische Statements hat er immer abgelehnt. Ihn hat immer nur das Persönliche interessiert.
Neben vielen anderen Themen tauchten aber in den Familienaufstellungen immer häufiger Themen auf, die mit der deutschen Geschichte zusammenhingen. Es wurde sehr bald klar, dass die Kinder, Enkel und Urenkel von Opfern wie von Tätern des 3. Reiches immer noch unter dem litten, was ihre Vorfahren erlitten oder als Täter verbrochen hatten. So musste sich jeder Familien-Steller - auch, aber nicht nur Bert Hellinger - diesem Thema stellen. Hellinger ging dabei - als Begründer der Methode - allen anderen voran.
In den ersten Jahren wurden bei einer solchen Aufstellung die Stellvertreter der Täter aus dem Raum geschickt. Das sollte deutlich machen, dass sie durch ihre schlimme Tat ihren Platz in der Familie verwirkt hatten und sich ganz allein ihrer Schuld stellen mussten. Allerdings war auch damals schon klar, dass die Nachkommen nur zur Ruhe kamen und seelischen Frieden fanden, wenn sie ihre Väter (die Täter) nicht verdammten, sondern auf jedes Urteil verzichteten. In diesem Sinne verabschiedeten sich Kinder oder Enkel von ihren Vätern oder Großvätern, indem sie sich als Kind vor ihnen verneigten und gleichzeitig die Schuld und die Konfrontation damit den Tätern selbst überließen, ohne sich einzumischen. Zugleich mussten sie sich vor den Opfern ihrer Vorfahren verneigen. Dies galt auch für die Nachkommen der Opfer: Auch sie konnten nur Frieden finden, wenn sie auf Anklage oder Rache verzichteten.
Dies zeigte sich ganz deutlich in den Aufstellungen, egal, wer sie leitete, und egal, wie sich die Teilnehmer der Kurse zusammensetzten. Es war auch kein deutsches Thema - auch in anderen Ländern zeigten sich die gleichen Dynamiken und Lösungen, wenn es um Täter und Opfer und deren Nachkommen ging. Für viele Aufsteller-Kollegen, die überwiegend ein links-liberales Weltbild hatten und zum Teil selbst aus Opferfamilien stammten, machte dies eine intensive und oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihrer hergebrachten Einstellung erforderlich. Wer sich - wie vor allem Bert Hellinger - dem stellte, was die Aufstellungen, oft völlig überraschend, ans Licht brachten, konnte sich dieser Auseinandersetzung nicht entziehen.
In der Aufstellungsarbeit geht es um Versöhnung - zunächst mit dem persönlichen Schicksal, dann mit dem Familienschicksal, und schließlich auch mit dem kollektiven Schicksal. Die Versöhnung mit dem, was ist und was war, bringt die Seele in Frieden.
Ende der neunziger Jahre entdeckte Hellinger dann, dass die Versöhnung noch tiefer geht, wenn man den Täter nicht aus der Gemeinschaft (der Familie oder des Volkes) entlässt, sondern ihm wie jedem anderen seinen Platz lässt. Es zeigte sich nämlich in einer Aufstellung in Spanien, bei der sich Vertreter beider Parteien des Bürgerkriegs gegenüber standen, dass diese, nachdem sie sich zunächst unversöhnlich gegenüber standen oder in ihrem Schmerz zu Boden sanken, plötzlich von selbst aufeinander zugingen und sich schließlich innig umarmten. Daraus schloss Hellinger, dass es im Tod eine Ebene gibt, wo alles, was im Leben getrennt war oder sich unversöhnlich gegenüber stand, vorbei sein kann, und wo Täter und Opfer sich als Menschen begegnen und das, was einst geschah, einfach hinter sich lassen und vergessen. Dies wandte er dann auch auf die Täter und Opfer des Nationalsozialismus an, und wer die Aufstellungen miterlebte, war meist von der Tiefe der Lösungen zutiefst bewegt, zugleich aber auch in seiner geistigen Haltung erschüttert.
Es gibt also jenseits der Täter-Opfer-Ebene eine weitere Ebene, auf der alle Menschen nur Menschen sind - und damit gleich. Das ist keine Nivellierung: Täter bleiben Täter und Opfer bleiben Opfer, aber sie sind nicht nur Täter und Opfer, sie sind darüber hinaus auch noch vieles andere - liebende Väter und Mütter, gute (oder schlechte) Ehemänner und -frauen, mit einem Wort: Menschen. Und nach einer gewissen Zeit zählt nur noch das.
Aus diesen empirischen Beobachtungen zog Hellinger drei Schlüsse:
1) Eine wirkliche Versöhnung muss den Täter einbeziehen. Nicht in der Weise, dass man ihm verzeiht, sondern in der Weise, dass man ihn einfach als Menschen anschaut. Die Opfer selbst können dies, wie viele Aufstellungen zeigen, offenbar besser als diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen, für die Opfer zu sprechen oder zu handeln. In Bezug auf den Nationalsozialismus bedeutet dies, dass wir anerkennen müssen, dass alle Täter, Hitler eingeschlossen und an erster Stelle, Teil unseres Volkes sind und dort als Menschen dazugehören dürfen wie alle anderen.
2) Das heißt auch, dass die Verdammung aufhören muss. Auch das Schlimmste muss eines Tages vorbei sein dürfen, sonst wirkt es im kollektiven Unbewussten unheilvoll weiter. Er*Innern" heißt, etwas nach innen, in sich hinein nehmen und als zugehörig zu sich betrachten. Das Erinnern, das hierzulande gepflegt wird, ist tatsächlich ein Entäußern - anstatt unsere ganze Geschichte in uns hinein zu nehmen und die Täter als zugehörig zu betrachten, projizieren wir das Böse nach außen und sperren die Täter aus der Gemeinschaft aus. Wenn die Geschichte jedoch wirklich er-innert" ist, kann sie vorbei sein und ruhen. Dann sollte man sie auch vergessen. Verweigert man ihr diese Ruhe, wirkt sie im Unbewussten unheilvoll fort. Dies gilt für Täter und Opfer gleichermaßen.
3) Täter und Opfer handeln nicht frei und autonom, sondern sind beide einer größeren, schicksalhaften Bewegung unterworfen, die sie in ihren Dienst nimmt und zu dem gemacht hat, was sie geworden sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie für ihr Handeln nicht verantwortlich sind und nicht die Folgen dafür tragen müssten.
Diese letzte Schlussfolgerung ist sicher sehr gewagt - ich selbst habe vor Jahren eine intensive Diskussion mit Hellinger darüber geführt. Es ist eine philosophische Position, die eine gewisse empirische Evidenz für sich in Anspruch nehmen kann, aber sicher auch mit guten Gründen bestritten werden kann. Sie ist aber nicht moralisch verwerflich, und sie bedeutet nicht, dass Hellinger damit alles rechtfertigt. Bei dieser wie bei den beiden ersten Schlussfolgerungen handelt es sich um philosophisch begründete Sichtweisen, die eine ernsthafte und unpolemische Auseinandersetzung verdient hätten.
Wenn es, wie alle Religionen behaupten, einen letzten Grund für alles gibt, dann ist dieser letzte Grund auch der Grund und die Quelle für alles, was wir böse" nennen. In diesem Sinne sind dann auch Hellingers Ausführungen über Hitler" in dem Buch Gottesgedanken" zu verstehen, die viele als Beleg für eine ideologische Nähe missverstehen: Wenn ich dich achte, achte ich auch mich. Wenn ich dich verabscheue, verabscheue ich auch mich. Darf ich dich dann lieben? Muss ich dich vielleicht lieben, weil ich sonst auch mich nicht lieben darf?"
Es gibt, so Hellinger, hinter allem eine gemeinsame Quelle oder Ursache (die Religionen nennen sie Gott"), und wenn ich Hitler verdamme, verdamme ich auch die Quelle, und da wir alle der gleichen Ursache entstammen, verdamme ich auch mich. Aber genauso, wie er ihn nicht verdammt, preist er ihn auch nicht - Hellinger enthält sich einfach jedes Urteils und überlässt Adolf Hitler der Geschichte bzw. der Ursache, die ihn wie alles, was ist, hervorgebracht hat: Daher bin ich von dir frei, und du bist frei von mir.... Daher vergesse ich dich und entlasse dich aus meinen Gedanken und meinem Gefühl, auch aus meiner Liebe oder Achtung, und aus meinem Urteil..."
Juli 2004
Dr. Wilfried Nelles
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