Die Kontroverse zwischen dem Dalai Lama und der Dordsche Schugden Gottheit
Zum allgemeinen Verständnis: Im Vordergrund steht ein Religionskonflikt, der sogenannte «Bruderzwist», innerhalb der Tibeter im Exil. Das Oberhaupt der buddhistischen Tibetergemeinde, der Dalai Lama, hat die Verehrung einer Gottheit, der Dordsche Schugden, verboten. Dieses Verbot ist gleichzusetzen mit einem Verbot des Marienkultes durch den Papst. Der sich daraus entwickelnde innertibetische Glaubenskrieg hat dazu geführt, dass Anhänger dieser Gottheit ausgegrenzt, verfolgt und gar mit dem Leben bedroht wurden.
Aus der Rede des ehemaligen Übersetzers des Dalai Lama, Dipl.Ing. Helmut Gassner auf einer Veranstaltung vom 26. März 1999 der Friedrich-Naumann-Stiftung:
Im Frühling 1996 waren dann aus Indien (der Dalai Lama hat seinen Wohnsitz in Dharamsala, Indien) ganz neue Dinge zu hören. Bei den Neujahrsunterweisungen habe sich der Dalai Lama sehr heftig gegen die Verehrung von Dordsche Schugden ausgesprochen. In der offiziellen Übersetzung des Tibet-Büros hieß es dann: "Dolgyal zu verehren fügt der Sache Tibets großen Schaden zu. Und es gefährdet das Leben des Dalai Lama."
Wer tibetische Denkweisen kennt, weiß, dass das eine Aufforderung zur allgemeinen Mobilmachung verschiedener Bevölkerungsteile gegeneinander ist, denn den meisten Tibetern ist nichts wichtiger als das Leben des Dalai Lama, und wenn man als Gegner des Dalai Lama bezeichnet wird, ist man als Verräter gebrandmarkt und damit vogelfrei.
Die Worte "Dolgyal zu verehren fügt der Sache Tibets großen Schaden zu, und es gefährdet das Leben des Dalai Lama" bedeuten für den einfachen Tibeter:
"Dordsche Schugden ist ein böses Gespenst, das dem Dalai Lama an den Kragen will und außerdem daran schuld ist, dass Tibet immer noch nicht frei ist."
Dolgyal heißt "König von Döl" und ist ein üblicher Name für Dordsche Schugden. Döl ist eine Region Tibets, die Teil der Entstehungsgeschichte Dordsche Schugdens ist. Da alle anderen Namen wie "Dordsche Schugden", was "Derjenige mit unzerstörbarer Kraft" heißt, und "Gyaltschen", was "Großer König" heißt, noch anspruchsvoller sind, war es leicht zu sehen, dass man hier mit der Verwendung des Namens "Dolgyal" ein neues Schimpfwort prägen wollte. Und so kam es dann auch.
Dass eine Persönlichkeit wie Seine Heiligkeit auf dem Hintergrund buddhistischer Auffassung solche Gedanken ausspricht, war für mich so unvorstellbar, dass ich diese neuen Geschichten, die man aus Indien zu hören bekam, für lange Zeit nicht glaubte und überzeugt war, dass einige Spitzbuben dieser Exilregierung nun ganz den Verstand verloren hatten.
Den Verstand verloren hatte niemand, im Gegenteil, es zeigte sich, dass die Aktion über Jahrzehnte mit gezielter Besetzung von Posten in Klöstern und Regierungsstellen vorbereitet war und zeitlich auf das Wegsterben aller bedeutenden Persönlichkeiten aus der attackierten Gruppe sorgfältig terminiert war.
Im Exilparlament wurde in den folgenden Monaten mit Eifer über Gesetzesänderungen diskutiert, um die neuen Feinde auszugrenzen. Mit Unterschriftenaktionen versuchte man jede einzelne Person zu einem offiziellen Bekenntnis entweder für den Dalai Lama oder gegen ihn zu zwingen. Wer seine Unterschrift verweigerte, war damit als Verräter identifiziert. Viele beschrieben die Gewissensbisse in dieser Situation wie die Herausforderung zur Wahl zwischen Vater und Mutter, da sie weder den Dalai Lama noch Dordsche Schugden aufgeben wollten.
Wer sich sogar noch getraute, seine Stimme zu erheben und mit geschichtlichen Fakten der Exilregierung jede Rechtfertigung für ihr Vorgehen absprach, wurde vom Mob aus Haus und Heim vertrieben, wie zum Beispiel die Familie des Lehrers Thubten.
Aus der Vehemenz der gewählten Formulierungen und der Rigorosität der Vorgangsweisen ist zu schließen, dass die Exilregierung die Zielgruppe in einem gesellschaftlichen Blitzkrieg von der sichtbaren Oberfläche der Gesellschaft entfernen wollte.
Dass große Meister über Gottheiten unterschiedliche Auffassung haben, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches. So haben frühere Meister viele Gottheiten, die in der Nyingma-Tradition verehrt werden, als nicht authentisch bezeichnet. Selbst das Kalachakra-Tantra wurde von einigen Sakya-Meistern nicht akzeptiert. Das Ungewöhnliche an dieser Diskussion über Dordsche Schugden aber ist, dass die persönliche Auffassung eines Meisters zur Politik einer ganzen Regierung wird und damit die Gesellschaft in einer Zeit größter Not eine Spaltung erfährt.
Dordsche Schugden ist ursprünglich eine Gottheit der Sakya-Tradition. Die Diffamierung Dordsche Schugdens stellt eine schwerwiegende Beleidigung der Sakya-Tradition dar, was dem Dalai Lama auch bewusst sein dürfte. Bemerkenswert ist, dass sich die Attacken der Exilregierung ausschließlich auf die Verehrung Dordsche Schugdens in der Gelug-Tradition (der Dalai Lama ist Gelug-Linienhalter) richten. Dadurch kann man zu dem Schluss kommen, dass es den treibenden Kräften nicht um die Gottheit geht, sondern letztlich etwas anderes zerstört werden soll.
Vermutlich anders als ursprünglich geplant, zog sich die Auseinandersetzung in die Länge. Die Bevölkerung der tibetischen Region Tschatring und Umgebung hielt treu zu Dordsche Schugden, und die betroffenen Abteilungen in den großen Klöstern wichen ebenfalls nicht von ihrer Tradition ab. Als diese in Delhi die Dordsche-Schugden-Gesellschaft gründeten, begann sich damit ein bedeutender Teil der tibetischen Exilbevölkerung, der Monate zuvor noch bedingungslos alles für den Dalai Lama getan hätte, eigene Gedanken zu machen.
Beide Seiten dieser neu entstandenen Konfrontationslinie versuchten die Presse von ihrer Wahrhaftigkeit zu überzeugen. Allerdings mit gänzlich ungleichen Voraussetzungen, denn die Seite der Exilregierung war seit Jahren gut organisiert und konnte ihre Aussagen mit dem einzigartigen Ruf des Dalai Lama und der allgemeinen Sympathie für Tibet untermauern. Die andere Seite hatte nicht viel mehr als einige Mönche, unerfahren im Umgang mit der Presse, die sich auf Religionsfreiheit zu berufen versuchten.
aus:
Medien 08
Alles Liebe. Gerrit