Ich frage mich immer wieder, ob Putin im allgemeinen auf einer psychologischen Ebene noch immer nicht richtig verstanden wurde.
Beispielsweise ist ja der Vorwurf, die Ukraine zu "ent-nazifizieren" derart absurd, dass er das selbst ja gar nicht wirklich glauben kann. Dafür ist er zu intelligent. Denn da sind nirgendwo Nazis - mal abgesehen von einigen für Putin wohl eher irrelevanten Neo-Nazis, die wohl Teil des Asov-Regiments geworden sind. Aber wenn wir auf der Ebene sprechen, dann gibt es genau dieselben Neo-Nazis auch in Russland zu finden, und dort vermutlich Putin ziemlich wohlgesinnt.
Im Westen wird das als produzierter Vorwand abgetan, also irgendeinen Schwachsinn, den die russische Regierung verzapft, um einen Vorwand für den Krieg zu schaffen. Das könnte sein, aber vielleicht greift diese Deutung eben zu kurz. Und um das geht es mir hier.
Was, wenn wir die Idee mal aus einer psychologischen Perspektive "beinahe wörtlich" nehmen? Putin wurde bekanntlich 1952 im damaligen Leningrad geboren. Das ist recht kurz nach dem Krieg. Er wuchs, das wissen wir ebenfalls aus diversen Biographien, in vermutlich recht ärmlichen Verhältnissen auf. Später, so wird berichtet, wurde er in der Schule und von diversen Seiten gemobbt. Was in der russischen Postkriegsgesellschaft nach dem Krieg wohl nicht verwunderlich sein dürfte.
Es stellt sich mir hier die Frage, ob die "Nazis", von denen die Rede ist, vielleicht nicht schlicht und ergreifend jene Erfahrung von Ohnmacht in der Kindheit widerspiegeln. Dass zuerst da jemand kommt und alles in Schutt und Asche legt (nämlich: die Nazis). Und wohlgemerkt: Diese Nazis kommen aus Sicht des kindlichen Vladimirs aus dem Westen, genauer: aus Deutschland. Und dass es dann nach dem Krieg einfach weitergeht, und am Ende des Tages nur das Recht des Stärkeren zählt.
Wenn man die Dinge so deuten würde, dann würde Putin das Narrativ der "Nazis" aus dem Westen - diesmal in der Form der NATO-Expansion - tatsächlich so deuten, wie eben jene Invasoren aus dem WW2, die aus dem Westen seine Heimat angriffen. Es sind dann nicht wirklich "historische Nazis" oder "Neo-Nazis", sondern es sind einfach vage alle jene, die die russische Heimat aus dem Westen kommend bedrohen.
Das wäre die einzige Leseart dieser ansonsten völlig absurden Idee der Ent-Nazifizierung, die irgendeinen Sinn ergäbe.
Wichtig an dieser Leseart wäre jedoch ein Punkt, den ich bisher vernachlässigt hatte: Dass es aus Sicht Putins womöglich eben tatsächlich eine Bedrohung durch die NATO gibt. Also, nicht bloss als Kriegsvorwand (obschon das natürlich auch), sondern aus einem wirklichen Gefühl der Bedrohung. Und weil Putin eben nur das Recht des stärkeren kennt, sendet er seine Heere aus. Ich hielt das immer für ein unzulässige Deutung, weil objektiv gesehen dafür kein Anlass besteht. Die NATO-Osterweiterung, die gerne die Putin-Versteher als Argument anführen, hat auf diese Weise nie wirklich stattgefunden. Aus rationaler Sicht ist das ein Scheinargument. Aber vielleicht geht es hier ja nicht um eine objektive und rationale Sicht Putins auf die Dinge, und auch nicht um eine irrationale Sicht eines Wahnsinnigen, sondern um eine subjektive, von ihm gefühlte. Vielleicht muss man Putin als Kind sehen, welches sich tatsächlich bedroht fühlt, und dann drein schlägt. Damit wäre auch der narzisstische Wunsch, quasi "Vereiniger aller Russen" zu sein, zu verstehen: Es handelt sich dann um ein Kind, dass die Grössenfantasie hat, dieses furchtbare erlittene Schicksal des eigenen Volkes ungeschehen zu machen, vielleicht sogar, es auf eine völlig verkehrte und absurde Weise zu "heilen", indem die anderen vernichtet werden.
Das scheint mir zum ersten Mal eine Sichtweise zu sein, die mir Putins Verhalten und seine ansonsten absurden Behauptungen erklären würde.
Psychologisch gesehen stellt sich somit die Frage, ob es möglich wäre, für den "kleinen Vladimir" (also das Kind in ihm) die Erfahrung zu machen, statt dreinzuhauen mit jemandem Freundschaft zu schliessen, und dadurch Stärke zu gewinnen. Eigentlich wäre das wohl die wirkliche Lösung, mal rein psychologisch gesprochen. Bloss ist das vermutlich zum jetztigen Zeitpunkt nicht mehr möglich. Putin hat zu viel kaputtgemacht. Er hat morden und töten lassen, und hat so viel Leid über so viele Menschen gebracht, dass sie ihm keine Freundschaft mehr anbieten werden. Und zwar nicht bloss jetzt und nicht bloss einmal, sondern über lange Zeit hinweg, systematisch.
Um die Zukunft zu verstehen, müssten wir somit extrapolieren, was ein "Kind" tun würde, wenn es merkt, dass es den angefangenen Krieg nicht gewinnen wird. Eigentlich gibt es hier psychologisch gesehen nur drei Optionen. Option 1: Jemand "entfernt" Putin gewaltsam, und der Konflikt wird dadurch "beendet". Option 2: Er zieht sich irgendwann als Verlierer aus dem Konflikt zurück und schmollt, nämlich dann, wenn er so wenig Unterhalt unter den eigenen Reihen mehr hat, dass er auch seinen engsten Kollaborateuren nicht mehr glauben kann. Option 3: Er eskaliert bis zum äussersten: wenn er schon selbst sich nicht durchsetzen kann, dann soll wenigstens auch die Gegenseite nichts haben.